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Kündigung eines Schwerbehinderten – Zustimmung zur Kündigung

VG Augsburg, Az.: Au 3 K 11.1635, Urteil vom 10.01.2012

I. Der Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region …- Integrationsamt – vom 12. Oktober 2011 wird aufgehoben.

II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, falls nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung eines der Beigeladenen vom Zentrum Bayern Familie und Soziales Region …- Integrationsamt – erteilten sog. Negativattestes.

Kündigung eines Schwerbehinderten - Zustimmung zur Kündigung
Symbolfoto: Viorel Sima / Bigstock

1. Der am … 1951 geborene Kläger ist seit August 1990 bei der Beigeladenen als Betonmischerfahrer beschäftigt. Wegen der beabsichtigten Stilllegung ihres Betriebes beantragte die Beigeladene am 11. Oktober 2011 beim Integrationsamt formlos die Erteilung eines sog. Negativattestes sowie gleichzeitig mit entsprechendem Formblatt die „Zustimmung gemäß §§ 85 ff. Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)“ zur ordentlichen Kündigung des Klägers. Die Beigeladene gab dabei u.a. an, dass beim Kläger ein Grad der Behinderung von 40 festgestellt worden sei. Gegen den Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes habe der Kläger erfolglos Widerspruch und am 18. Juli 2011 Klage erhoben. Über die Klage sei noch nicht entschieden worden.

Mit Bescheid vom 12. Oktober 2011 stellte das Integrationsamt fest, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers durch den Arbeitgeber nicht der Zustimmung des Integrationsamtes bedürfe. Bereits dem Grunde nach bestehe kein besonderer Kündigungsschutz, da zum Zeitpunkt der Entscheidung bzw. der Kündigung die Eigenschaft als Schwerbehinderter nicht nachgewiesen sei. Der Kläger sei einem Schwerbehinderten nicht gleichgestellt und habe eine Gleichstellung auch nicht beantragt. Ein offenes Klageverfahren bedinge keinen Sonderkündigungsschutz.

1. Der Kläger beantragt, den Bescheid des Integrationsamtes vom 12. Oktober 2011 aufzuheben.

Der Kläger habe bereits im September 2010 beim Versorgungsamt die Feststellung seiner Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 beantragt. Gegen den Bescheid des Versorgungsamtes vom 17. November 2010, mit dem ein GdB von 40 festgestellt worden sei, habe er am 22. November 2010 Widerspruch und nach dessen Zurückweisung durch Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2011 am 18. Juli 2011 Klage zum Sozialgericht … erhoben. Über diese Klage sei noch nicht entschieden worden.

Die Beigeladene habe das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger erstmals ordentlich am 8. September 2011 zum 30. April 2012 gekündigt. Nachdem der Kläger auf den bereits im September 2010 gestellten Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft sowie den Verfahrensstand hingewiesen habe, habe die Beigeladene beim Integrationsamt die Erteilung eines Negativattestes beantragt. Nach Erlass des Bescheides vom 12. Oktober 2011 habe die Beigeladene das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 17. Oktober 2011 erneut ordentlich, diesmal zum 31. Mai 2012, gekündigt.

Das vom Integrationsamt erteilte Negativattest sei rechtswidrig. Der Kläger könne sich insoweit auf die Regelung in § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX berufen, weil er bereits im September 2010 die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft beantragt habe. Dass die Feststellung (mit einem GdB von mindestens 50) bislang nicht ergangen sei, könne nicht dem Kläger angelastet werden. Unerheblich sei, dass die Feststellung nicht bereits unmittelbar vom Versorgungsamt getroffen wurde sondern erst (eventuell) aufgrund einer sozialgerichtlichen Entscheidung erfolge. Der Kläger habe es nicht zu vertreten, dass die Feststellung noch nicht erfolgt sei. Jedenfalls könne ein Negativattest solang nicht erteilt werden, solange seine Schwerbehinderteneigenschaft noch nicht endgültig verneint wurde.

3. Für den Beklagten trägt das Integrationsamt vor, dass der angefochtene Bescheid aufgrund einer unzutreffenden Beurteilung der Rechtslage erlassen worden sei. Das Negativattest sei rechtswidrig und aufzuheben.

4. Die mit Beschluss vom 14. November 2011 beigeladene Arbeitgeberin hat sich im Klageverfahren in der Sache (unmittelbar) nicht geäußert, sondern nur einen an das Integrationsamt gerichteten Schriftsatz vom 21. November 2011 in Abdruck übermittelt.

5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Integrationsamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Verwaltungsgericht kann ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 102 Abs.2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).

1. Es kann offen bleiben, ob der Klage bereits (ohne materielle Prüfung des Klagebegehrens) durch ein auch im Verwaltungsprozess – jedenfalls bei Verpflichtungsklagen – grundsätzlich zulässiges Anerkenntnisurteil (§ 173 VwGO, § 307 Zivilprozessordnung – ZPO) stattgegeben werden könnte. Der Kläger selbst hat mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2012 zum Ausdruck gebracht, dass er den Erlass eines Anerkenntnisurteils bei Anfechtungsklagen, wie hier, rechtlich nicht für möglich hält (so auch BVerwGE 62, 18); dies lässt darauf schließen, dass er kein Anerkenntnisurteil, sondern ein „reguläres“ Endurteil begehrt, mit dem der angefochtene Bescheid aufgehoben wird. Die Beklagtenseite hält vorliegend ein Anerkenntnisurteil wegen der Beteiligung der Beigeladenen, in deren Rechte (eventuell) eingegriffen werden könnte, ebenfalls nicht für rechtlich möglich.

2. Ungeachtet der Frage, ob die Erklärung des Integrationsamtes im Schriftsatz vom 22. November 2011 den Erlass eines Anerkenntnisurteils rechtfertigen kann, ist der als Anfechtungsklage statthaften und auch sonst zulässigen Klage auch nach materieller Prüfung stattzugeben. Der Bescheid des Integrationsamtes vom 12. Oktober 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Bescheid kann daher keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der (letzten) Behördenentscheidung.

2.1 Nach § 85 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX (Grad der Behinderung von wenigstens 50) durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. § 90 SGB IX enthält insoweit allerdings Ausnahmeregelungen. Nach Abs. 2a der letztgenannten Vorschrift besteht das Zustimmungserfordernis nicht, „wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist“ (Alternative 1) „oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers nicht treffen konnte“ (Alternative 2).

Stellt das Integrationsamt auf Antrag des Arbeitgebers durch Verwaltungsakt fest, dass eine Zustimmung zur Kündigung nicht erforderlich ist (sog. Negativattest) und wird diese Feststellung bestandskräftig, kann der Arbeitnehmer einer Kündigung ein gleichwohl bestehendes Zustimmungserfordernis nicht mehr entgegengehalten (zum Negativattest vgl. z.B. Düwell in LPK-SGB IX, 2. Auflage 2009, § 85 RdNr. 37). Ein Negativattest stellt daher einen Verwaltungsakt mit (für den Arbeitnehmer belastender) Drittwirkung dar und kann vom Arbeitnehmer, hier dem Kläger, verwaltungsgerichtlich angefochten werden (§ 42 VwGO).

2.2 Das Integrationsamt ist (im Verwaltungsverfahren noch) zu Unrecht davon ausgegangen, dass die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers wegen fehlenden Nachweises der Schwerbehinderung nach § 90 Abs. 2a Alternative 1 SGB IX nicht zustimmungsbedürftig sei. Ein Negativattest hätte daher – auch nach der im Klageverfahren vom Integrationsamt nunmehr vertretenen Auffassung – nicht erteilt werden dürfen.

2.2.1 Nach wohl überwiegender Auffassung in Rechtsprechung (vgl. BAG vom 1.3.2007, BAGE 121, 335; VG Arnsberg vom 20.11.2007 11 K 3670/06 und VG Oldenburg vom 16.2.2007 13 A 2793/05, jeweils mit weiteren Nachweisen, beide Juris) und Literatur (vgl. dazu die Darstellung von Düwell in LPK-SGB IX, a.a.O., § 90 Rdnr. 41 ff.), der sich die Kammer anschließt, findet nach § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX der besondere integrationsrechtliche Kündigungsschutz trotz fehlenden Nachweises einer Schwerbehinderung dann Anwendung, wenn ein versorgungsrechtliches Feststellungsverfahren zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht abgeschlossen werden konnte und dies nicht auf mangelnder Mitwirkung des Arbeitnehmers beruht. Der Arbeitnehmer genügt nur dann seiner Mitwirkungspflicht, wenn er den Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderung rechtzeitig, d.h. mindestens drei Wochen vor der Kündigung (vgl. BAG vom 1.3.2007, a.a.O.) gestellt und das Feststellungsverfahren nicht durch Nichterfüllung seiner sozialrechtlichen Pflichten zur Angabe von Tatsachen (§ 60 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I)) verzögert hat. § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX schränkt somit im Ergebnis den Ausnahmetatbestand der Alternative 1 ein (BAG vom 6.9.2007, BAGE 124, 43; VG Oldenburg vom 16.2.2007, a.a.O.).

Der Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX entfällt auch nicht bereits dann, wenn das Versorgungsamt die (rechtzeitig) beantragte Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft zwar verneint bzw. lediglich einen Grad der Behinderung von weniger als 50 festgestellt hat, der Arbeitnehmer dagegen jedoch Widerspruch und ggf. Klage zum Sozialgericht erhoben hat und zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht über den betreffenden Rechtsbehelf (negativ) entschieden wurde (so auch BAG vom 6.9.2007, a.a.O., VG Arnsberg vom 20.11.2007, a.a.O., VG Oldenburg vom 16.2.2007, a.a.O.; Düwell in LPK-SGB IX, a.a.O., § 90 Rdnr. 49). Denn es entspräche nicht der gesetzgeberischen Intention, die aus § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX zum Ausdruck kommt, dem Arbeitnehmer das Risiko einer möglicherweise falschen Entscheidung des Versorgungsamtes zu überbürden. Etwas anderes gilt lediglich dann, wenn der Feststellungsantrag bzw. der nach einem ablehnenden versorgungsamtlichen Bescheid eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich aussichtslos ist und nur der Verzögerung der Kündigung dient, d.h. missbräuchlich gestellt bzw. eingelegt wird.

2.2.2 Gemessen an vorstehenden Grundsätzen erweist sich das angefochtene Negativattest als rechtswidrig:

Der Kläger hat bereits ein Jahr vor der beabsichtigten Kündigung – damit jedenfalls rechtzeitig im Sinne des § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX – beim Versorgungsamt die Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft beantragt. Dass er Mitwirkungspflichten im Sinne des § 60 Abs. 1 SGB I verletzt hätte, ist weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Zwar war zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses und der darauf folgenden Kündigung vom Versorgungsamt lediglich ein Grad der Behinderung von 40 und somit noch keine Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX anerkannt, was – soweit ersichtlich – auch derzeit (noch) der Fall ist, doch hatte der Kläger am 18. Juli 2011 gegen den Bescheid des Versorgungsamtes vom 17. November 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2011 Klage zum Sozialgericht … erhoben. Mit dieser (noch anhängigen) Klage verfolgt er das Ziel, dass seine Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt wird. Zum maßgeblichen Zeitpunkt war somit das versorgungsrechtliche Feststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten des Klägers in irgendeiner Form rechtsmissbräuchlich sein könnte; entsprechendes wird auch von der Beigeladenen nicht geltend gemacht. Dies hat nach § 90 Abs. 2a Alternative 2 SGB IX zur Folge, dass das Zustimmungserfordernis nach § 85 SGB IX nicht entfallen ist.

Das Integrationsamt hat daher das angefochtene Negativattest zu Unrecht erteilt und ein subjektives Recht des Klägers – seinen (potentiellen) Anspruch auf Wahrung des Sonderkündigungsschutzrechtes nach § 85 SBG IX – verletzt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Da die Beigeladene keinen förmlichen Antrag gestellt hat, können ihr gemäß § 154 Abs. 3 Satz 1 VwGO keine Kosten auferlegt werden. Es entspricht auch der Billigkeit nach § 162 Abs. 3 VwGO, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da sie sich mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

Beschluss

Der Gegenstandswert wird auf 5.000,– EUR festgesetzt (§ 33 RVG, Nr. 39.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).

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