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Sonderkündigungsschutz bei Schwerbehinderung – Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber

LAG Rheinland-Pfalz, Az.: 5 Sa 361/16, Urteil vom 12.01.2017

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 2. Juni 2016, Az. 5 Ca 1808/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Sonderkündigungsschutz bei Schwerbehinderung - Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber
Symbolfoto: Pixabay

Der 1951 geborene, verheiratete Kläger war seit Mai 2006 bei der Beklagten zu einem Bruttomonatslohn von zuletzt 2.000 EUR als Konstruktionsmechaniker beschäftigt. Die Beklagte befasste sich mit Herstellung und Montage von Fenstern, Türen und Fassaden aus Aluminium. Sie beschäftigte Ende April 2014 61 Arbeitnehmer; ein Betriebsrat bestand nicht. Der Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten fasste am 22.04.2014 den Beschluss, seinen Betrieb stillzulegen. Mit Schreiben vom 23.04.2014 erstattete der jetzige Prozessbevollmächtigte der Beklagten bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:

„Unsere Mandantin unterhält […] einen Gewerbebetrieb, der Aluminiumfenster und -türen und Fassadenbau ausführt. Der Gewerbebetrieb besteht seit über 40 Jahren und derzeit sind dort insgesamt 62 Arbeitnehmer beschäftigt, die sich in 61 Arbeitnehmern und einem Auszubildenden aufgliedern. Wir überreichen als Anlage eine Liste der Mitarbeiter, aus der Name, Anschrift und Betriebszugehörigkeit hervorgehen. Außerdem ist das letzte gezahlte Nettogehalt aufgeführt. Ein Betriebsrat besteht nicht.

Seit Jahren erwirtschaftet der Betrieb keine Gewinne mehr. Die Auftragslage hat sich drastisch verschlechtert, was bedeutet, dass meine Mandantin dieses Jahr noch keinen neuen Auftrag erhalten hat. Zurzeit werden lediglich die Altaufträge aus den vergangenen Jahren abgearbeitet sowie Garantiefälle. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Der alleinige Geschäftsführer […] ist am 07.05.1942 geboren. Er hat schon seit Jahren versucht – da er keinen Nachfolger hat – den Betrieb zu veräußern, was ebenfalls an den betrieblichen Bilanzen scheiterte.

Um ein drohendes Insolvenzverfahren abzuwenden, hat sich die Geschäftsleitung entschlossen, den Geschäftsbetrieb zum 30.04.2014 einzustellen bzw. die Betriebsstilllegung vorzunehmen. Das operative Geschäft wird zu diesem Zeitpunkt beendet. Danach werden lediglich die alten Aufträge noch abgearbeitet und die oben erwähnten Garantiefälle. Folge ist, dass sämtliche Mitarbeiter gekündigt werden müssen, da der Arbeitsplatz wegfällt. Die Kündigungsfrist beträgt zwischen 1 und 7 Monaten, wie Sie aus anliegender Arbeitnehmerliste entnehmen können.

Da somit der Arbeitsplatz zum 30.04.2014 wegfällt, sollen die Arbeitnehmer ein- schließlich des Lehrlings unter Berücksichtigung der ordentlichen Kündigungsfristen gekündigt werden. Wir bitten insoweit um Genehmigung.“

Am 25.04.2014 informierte der Geschäftsführer die Belegschaft über die geplante Betriebsstilllegung und die damit verbundenen Kündigungen. Auf ihrer Internetseite veröffentlichte die Beklagte folgenden Text:

„Liebe Kunden, leider hat unser Betrieb seit Jahren keine betrieblichen Gewinne mehr erwirtschaftet. … Eine Besserung der wirtschaftlichen Situation ist nicht in Sicht …

Aus diesem Grund hat sich die Betriebsleitung entschlossen, den Betrieb zum 30.04.2014, auch aus altersbedingten Gründen […] zu schließen, was bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt das operative Geschäft aufgegeben wird. Danach werden lediglich noch die Altverträge und die Garantiefälle abgearbeitet. …“

Dem Kläger war mit Bescheid vom 07.08.2012 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkennt worden. Unter dem Datum vom 25.04.2014 stellte er einen Verschlimmerungsantrag. Mit Schreiben vom 28.04.2014 kündigte die Beklagte sämtlichen Arbeitnehmern wegen beabsichtigter Betriebsstilllegung. Dem Kläger kündigte sie ordentlich zum 31.07.2014. Das Kündigungsschreiben ging ihm am 29.04.2014 zu. Gegen die Kündigung erhob der Kläger am 06.05.2014 die vorliegende Klage. Er ist der Ansicht, die Kündigung sei schon mangels vorheriger Zustimmung des Integrationsamts unwirksam. Sie sei überdies sozial nicht gerechtfertigt und rechtsmissbräuchlich. Außerdem fehle es an einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige.

Mit Bescheid vom 08.08.2014 stellte das zuständige Versorgungsamt „auf den am 05.05.2014 eingegangenen Antrag“ des Klägers einen GdB von 50 fest. Im Bescheid wurden die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:

„Herzerkrankung

Nierenfunktionseinschränkung

Funktionsstörung der Wirbelsäule

Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression

Funktionsstörung der Zehen

Oberbauchbeschwerden

Schulterfunktionsstörung (links)“

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 28.04.2014 nicht aufgelöst worden ist,

2. die Beklagte zu verurteilen, ihn als Konstruktionsmechaniker weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils vom 02.06.2016 Bezug genommen. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe seines Urteils verwiesen.

Gegen das am 19.07.2016 zugestellte Urteil hat der Kläger mit am 15.08.2016 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 19.10.2016 verlängerten Begründungsfrist mit am 19.10.2016 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Er macht geltend, die Kündigung vom 28.04.2014 habe der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedurft, weil das Versorgungsamt am 08.08.2014 einen GdB von 50 festgestellt habe. Den Verschlimmerungsantrag habe er bereits am 25.04.2014 gestellt. Weshalb das Versorgungsamt im Bescheid einen Antragseingang erst am 05.05.2014 vermerkt habe, könne er heute nicht mehr nachvollziehen. Der Antrag sei somit innerhalb der Dreiwochenfrist gestellt. Darauf komme es letztlich nicht an, weil seine Schwerbehinderung „offenkundig“ gewesen sei. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass er laut Ursprungsbescheid vom 07.08.2012 an einer erheblichen Nierenfunktionseinschränkung, einer Herzerkrankung, einer Funktionsstörung der Wirbelsäule, an Funktionsstörungen der Zehen sowie Oberbauchbeschwerden, Schlafstörungen und Ohrgeräuschen gelitten habe. Im Nachgang habe sich sein Gesundheitszustand gravierend verschlechtert. Seine Hörbeeinträchtigung habe durch den Eintritt eines beiderseitigen Tinnitus zugenommen. Auch die Schmerzintensität habe sich gesteigert. Die Erschöpfungsdepression habe sich erheblich verschlechtert. Parallel hierzu habe sich die Herzerkrankung intensiviert. Er habe sich deswegen vom 31.03.2014 bis zum 28.04.2014 in stationärer Behandlung in einem Rehabilitationszentrum befunden. Die Beklagte habe gewusst, dass seine gesundheitliche Lage „kritisch“ gewesen sei. Die Kündigung vom 28.04.2014 sei im Übrigen rechtsmissbräuchlich. Der Beklagten sei seine schwere Erkrankung bekannt gewesen. Sie habe auch gewusst, dass er sich in „dauerhafter“ stationärer Behandlung befunden habe. Ihr seien die vorausgegangenen Bescheide der Versorgungsämter ebenso bekannt gewesen wie die Intensivierung seiner Beschwerden. Die Kündigung wegen Betriebsstilllegung sei außerdem sozial nicht gerechtfertigt, denn die Beklagte habe den Betrieb nach ihrem eigenen Vortrag fortgeführt. Sie habe während des Laufs der Kündigungsfrist Aufträge für eine Baustelle in Hamburg (Bauvorhaben K.) angenommen und ausgeführt. Eine solche Tätigkeit gehöre zum operativen Geschäft. Überdies habe die Beklagte im maßgeblichen Zeitraum aufgrund eines Neuauftrags Fensterelemente hergestellt und diese auf der eingangs erwähnten Baustelle in Hamburg eingebaut.

Der Kläger beantragt zweitinstanzlich, das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 02.06.2016, Az. 5 Ca 1808/14, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 28.04.2014 beendet worden ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sir trägt vor, die Schwerbehinderung des Klägers sei nicht offenkundig gewesen. Eine Schwerbehinderung des Klägers sei ihr bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht bekannt gewesen. Den Bescheid des Versorgungsamtes vom 07.08.2012, in dem ein GdB von 40 festgestellt worden sei, habe ihr der Kläger nicht vorgelegt. Hinzu komme, dass der Kläger bis zu seiner stationären Behandlung im April 2014 nicht mehr Krankheitstage aufgewiesen habe, als die anderen Arbeitnehmer.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und – gerade noch – ordnungsgemäß begründet worden. Der Kläger hat aufgezeigt, in welchen Punkten er das arbeitsgerichtliche Urteil aus welchen Gründen für unrichtig hält, obwohl er auf eine Vielzahl der rechtlichen und tatsächlichen Argumente des angefochtenen Urteils nicht eingegangen ist. Eine schlüssige, rechtlich haltbare Begründung wird nicht verlangt.

II.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Berufungskammer folgt den sorgfältig dargestellten Entscheidungsgründen des Arbeitsgerichts sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung der Beklagten vom 28.04.2014 mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31.07.2014 aufgelöst worden. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht deshalb nicht.

1. Die Kündigung vom 28.04.2014 ist nicht nach § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB nichtig. Es bedurfte zu ihrer Wirksamkeit keiner Zustimmung des Integrationsamts. Der Kläger hatte im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 29.04.2014 keinen Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

a) Ausweislich des zur Gerichtsakte gereichten Bescheides des zuständigen Versorgungsamtes vom 08.08.2014 wurde der Kläger erst ab dem 05.05.2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt.

Die behördliche Feststellung eines GdB ist, da sich der GdB – abhängig vom Gesundheitszustand eines Menschen – jederzeit verändern kann, aus der Natur der Sache heraus auf bestimmbare Zeiträume zu beziehen. Demzufolge ist über den GdB auf Antrag (Erstantrag gem. § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX; Verschlimmerungsantrag gem. § 48 SGB X) des Menschen mit Behinderung oder von Amts wegen für abgegrenzte Zeiträume unterschiedlich zu entscheiden. Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen die zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung regelmäßig zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte. Diese aus dem SchwbG – und dem SGB IX – herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften über die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Dazu gehört auch die Regelung des § 6 Abs. 1 S. 2 SchwbAwV (vgl. BSG 16.02.2012 – B 9 SB 1/11 R – Rn. 37). Danach ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises als Beginn der Gültigkeit des Ausweises der Tag des Eingangs des Antrags einzutragen.

Der Antrag des Klägers ist ausweislich des Bescheides des Versorgungsamtes erst am 05.05.2014 – und damit nach Zugang der Kündigungserklärung am 29.04.2014 – dort eingegangen. Dass das Antragsformular das Ausstellungsdatum 25.04.2014 trägt, ist unerheblich. Es kommt nicht darauf an, dass der Kläger – so die Berufung – heute nicht mehr nachzuvollziehen vermag, weshalb das Versorgungsamt den Antragseingang auf den 05.05.2014 vermerkt hat, denn ihm obliegt nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für einen früheren Eingang seines Antrags. Der Kläger hat nicht ansatzweise dargelegt, wann er das Antragsformular abgesandt haben will und wann es beim Versorgungsamt, wenn nicht erst am 05.05.2014, eingegangen sein soll. Im Übrigen fehlt es an einem Beweisantritt.

b) Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein Antrag bereits am 25.04.2014 beim Versorgungsamt eingegangen ist, wofür nicht das Geringste spricht, verhilft dies der Klage nicht zum Erfolg. Auch dann wäre die Beklagte nicht verpflichtet gewesen, vor Ausspruch der Kündigung vom 28.04.2014 die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen.

Wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, findet für schwerbehinderte Menschen das Zustimmungserfordernis des § 85 SGB IX gem. § 90 Abs. 2a SGB IX, eingeführt mit Wirkung ab 01.05.2004 durch das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.04.2004 (BGBl. I S. 606), keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 S. 2 SGG IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Das heißt, bei Zugang der Kündigung muss entweder bereits die Schwerbehinderung anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) oder der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. der Gleichstellungsantrag) muss vom Arbeitnehmer mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein (BAG 29.11.2007 – 2 AZR 613/06 – Rn. 15 mwN).

Unter Anwendung dieser Grundsätze kann sich der Kläger, dem das Kündigungsschreiben am 29.04.2014 zugegangen ist, nicht auf den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach dem SGB IX berufen, da er seinen Antrag -was hier unterstellt wird – frühestens am 25.04.2014 und damit nicht rechtzeitig, nämlich mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung, gestellt hat.

c) Zu Unrecht macht die Berufung geltend, im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses sei „offenkundig“ gewesen, dass der Kläger schwerbehindert sei.

Das Versorgungsamt hat im Bescheid vom 08.08.2014 ab Antragseingang am 05.05.2014 einen GdB von 50 festgestellt und dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Herzerkrankung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsstörung der Wirbelsäule, Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression, Funktionsstörung der Zehen, Oberbauchbeschwerden und Schulterfunktionsstörung (links). Im Bescheid vom 07.08.2012, den die Beklagte nach der – unsubstantiierten – Behauptung des Klägers gekannt haben soll, wurde ein GdB von 40 festgestellt. Dabei wurden ausweislich des Bescheides, den der Kläger zweitinstanzlich (noch nicht einmal vollständig) vorgelegt hat, die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Nierenfunktionseinschränkung, Herzerkrankung, Funktionsstörung der Wirbelsäule, Funktionsstörung der Zehen, Schlafstörungen, Ohrgeräusche, Oberbauchbeschwerden.

Zwar ist der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist. Dabei muss jedoch nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde (vgl. BAG 13.10.2011 – 8 AZR 608/10 – Rn. 42 mwN). Dafür spricht im Streitfall nichts. Eine vom Geschäftsführer der Beklagten wahrgenommene, offenkundige Beeinträchtigung, die ebenso offenkundig auch mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten war, hat der Kläger nicht ansatzweise vorgetragen. Er hat nicht behauptet, dass seine Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich waren oder sind, dass sie auch vom Geschäftsführer der Beklagten ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen waren. Die in den vorgelegten Bescheiden angeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers sind jedenfalls nicht so auffallend, dass sie ohne weiteres „ins Auge springen“ (vgl. zu diesem Maßstab BAG 24.11.2005 – 2 AZR 514/04 – Rn. 33).

2. Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.04.2014 ist sozial gerechtfertigt, weil sie durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen. Dies hat das Arbeitsgericht ebenfalls zutreffend erkannt.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der auch die Berufungskammer folgt, gehört die Stilllegung des gesamten Betriebes durch den Arbeitgeber zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen iSv. § 1 Abs. 2 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Unter Betriebsstilllegung ist die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und ihren unmittelbaren Ausdruck darin findet, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Verfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen. Mit der Stilllegung des gesamten Betriebes entfallen alle Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Arbeitgeber ist dabei nicht gehalten, eine Kündigung erst nach Durchführung der Stilllegung auszusprechen. Neben der Kündigung wegen erfolgter Stilllegung kommt auch eine Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung in Betracht. Erforderlich ist dazu aber, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig stillzulegen (vgl. unter vielen BAG 21.05.2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 51 ff. mwN).

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Arbeitsgericht zu Recht angenommen, dass die Beklagte die Kündigung vom 28.04.2014 in Befolgung ihrer Stilllegungsabsicht ausgesprochen hat. Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 29.04.2014, der zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung maßgeblich ist, lag ein endgültiger Beschluss der Beklagten vor, ihren Betrieb stillzulegen. Diese Entscheidung hatte auch greifbare Formen angenommen.

Der 1942 geborene Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten hat im April 2014 vor Ausspruch der streitbefangenen Kündigung aus wirtschaftlichen Überlegungen und aus Altersgründen den endgültigen Entschluss gefasst, die Betriebstätigkeit der Beklagten auf Dauer einzustellen. Diesen inneren Willensbildungsprozess hat er nach außen durch seinen schriftlichen Beschluss vom 22.04.2014, die Information der Belegschaft am 25.04.2014 und den Internetauftritt manifestiert. In der Regel liegt ein starkes Indiz für einen ernstlichen und endgültigen Stilllegungsplan vor, wenn der Arbeitgeber den Stilllegungsbeschluss gegenüber Lieferanten, Kunden, Banken usw. bekannt gibt, weil ein Arbeitgeber, der die Betriebsfortführung oder Veräußerung ernsthaft ins Auge fasst, die Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten, Kunden, Banken etc. in der Regel nicht durch die Bekanntgabe einer Stilllegungsentscheidung gefährden will (vgl. BAG 16.02.2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 51 mwN). So ist es hier.

Einer ernsthaften Stilllegungsabsicht steht nicht entgegen, dass die Beklagte die gekündigten Arbeitnehmer über den 30.04.2014 hinaus in ihrer jeweiligen Kündigungsfrist noch eingesetzt hat, um vorhandene Aufträge oder Garantiefälle (zB. das Bauvorhaben K. in Hamburg) abzuarbeiten. Der Arbeitgeber erfüllt damit gegenüber den tatsächlich eingesetzten Arbeitnehmern lediglich seine auch im bereits gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Beschäftigungspflicht (vgl. BAG 20.06.2013 – 6 AZR 805/11 – Rn. 53 mwN). Selbst wenn die Beklagte nach Ausspruch der Kündigung noch neue Aufträge angenommen haben sollte, spricht dies nicht gegen die Stilllegungsabsicht. Erforderlich, aber auch ausreichend für eine Stilllegungsabsicht ist, dass bis zum Ende der Kündigungsfristen keine Tätigkeiten mehr ausgeführt werden; nicht erforderlich ist, dass der Arbeitgeber bis dahin ineffizient arbeitet oder es unterlässt, mögliche Geschäfte zu tätigen (vgl. BAG 21.05.2015 – 8 AZR 409/13 – Rn. 56).

Auch die tatsächliche Stilllegung des Betriebs, die der Kläger nicht in Zweifel zieht, lässt Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit der Unternehmerentscheidung zu. Zwar ist maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung der des Kündigungszugangs. Verläuft die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung planmäßig, ist es jedoch gerechtfertigt, von einem tragfähigen Konzept im Zeitpunkt der Kündigung auszugehen. Die im Kündigungszeitpunkt gestellte Prognose, mit Ablauf der Kündigungsfrist werde der Beschäftigungsbedarf entfallen, wird so bestätigt (vgl. BAG 16.02.2012 – 8 AZR 693/10 – Rn. 40 mwN).

Die Stilllegungsabsicht der Beklagten hatte zum Kündigungszeitpunkt bereits „greifbare Formen“ angenommen. Zwar besagt die Entlassung von Arbeitnehmern allein für die Betriebsstilllegung im Sinne eines betriebsbedingten Kündigungsgrundes nichts, weil es gerade um die Frage geht, ob diese Entlassungen gerechtfertigt sind. Beim Vorliegen einer ernsthaft und endgültig beabsichtigten Betriebsstilllegung muss vor Zugang der Kündigung nicht bereits mit der Verwirklichung der Entscheidung begonnen worden sein (vgl. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 512/13 – Rn. 24 mwN). Das betrifft nicht nur deren unmittelbare Umsetzung. Auch vorbereitende Maßnahmen musste die Beklagte noch nicht ergriffen haben. Es genügt, dass sie berechtigterweise annehmen durfte, die laufende Kündigungsfrist biete ihr hierfür ausreichend Zeit.

Im Streitfall haben sich dringende betriebliche Gründe für die beabsichtigte Betriebsstilllegung konkret und greifbar abgezeichnet. Der Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten hat seine Entscheidung nicht etwa für sich behalten, sondern die Belegschaft am 25.04.2014 hierüber informiert. Er hat seinen Stilllegungsbeschluss außerdem auf der Homepage veröffentlicht und eine Massenentlassungsanzeige erstattet. Der Kläger bestreitet nicht, dass der Betrieb spätestens zum 31.12.2014 tatsächlich stillgelegt worden ist. Es sind auch zweitinstanzlich keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen noch sonst ersichtlich, die zumindest in ihrer Gesamtschau dafür sprechen könnten, dass der Geschäftsführer der Beklagten im April 2014 nicht endgültig beabsichtigt haben könnte, den Betrieb stillzulegen.

3. Die Kündigung vom 28.04.2014 ist nicht gem. § 134 BGB nichtig, weil sie vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige gem. § 17 Abs. 1 KSchG erklärt wurde (vgl. BAG 19.12.2013 – 6 AZR 790/12 – Rn. 71 mwN). Auch dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

Das Kündigungsschreiben ist dem Kläger am 29.04.2014 und damit erst nach Erstattung der Anzeige zugegangen. Die Beklagte hat der örtlichen Agentur für Arbeit mit Schreiben vom 23.04.2014 die beabsichtigte Massenentlassung aller Arbeitnehmer angezeigt und ihre Angaben mit Schreiben vom 28.04.2014 ergänzt. Beide Schreiben sind dort vor Erklärung der streitbefangenen Kündigung eingegangen. Hiergegen erhebt die Berufung keine Rügen. Sonstige Fehler des Anzeigeverfahrens wurden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

4. Entgegen der Ansicht der Berufung ist die Kündigung vom 28.04.2014 nicht rechtsmissbräuchlich. Allein die Tatsache, dass die Kündigung ausgesprochen worden ist, während der Kläger (vom 31.03. bis 28.04.2014) in einer Rehabilitationsklinik eine Rehabilitationsmaßnahme durchführte, führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Der Zugang einer Kündigungserklärung während einer Krankheit führt, abgesehen von krassen Ausnahmefällen (Kündigung zur Unzeit), nicht zu deren Unwirksamkeit (vgl. ErfK/Oetker KSchG § 1 Rn. 110). Ein solch krasser Ausnahmefall liegt hier aber ersichtlich nicht vor. Weshalb sich der Kläger im Verlauf der fünfwöchigen Rehabilitationsmaßnahme in einer „kritischen“ Situation befunden haben soll, ist nicht nachvollziehbar.

5. Da der Kläger länger als acht, aber noch keine zehn Jahre bei der Beklagten beschäftigt war, betrug die gesetzliche Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Ziff. 3 BGB drei Monate zum Ende eines Kalendermonats. Diese Frist hat die Beklagte gewahrt.

6. Der nur in erster Instanz anhängige Weiterbeschäftigungsantrag war unbegründet, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28.04. mit Ablauf des 31.07.2014 aufgelöst worden ist.

III.

Der Kläger hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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