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Altersteilzeit-Vertrag – Abfindungshöhe bei Auslegung des Begriffs vollendete Beschäftigungsjahre

Landesarbeitsgericht Köln – Az.: 6 Sa 717/19 – Urteil vom 28.05.2020

1.  Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.11.2019 – 14 Ca 7957/18 – abgeändert und die Klage abgewiesen.

2.  Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

3.   Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe der Abfindung, die nach dem zwischen ihnen bestehenden Altersteilzeit-Vertrag zu zahlen ist.

Die Klägerin ist 1956 geboren. Sie ist seit dem Jahre 1978 bei der Beklagten in deren Station in Dü beschäftigt. Aufgrund eines am 16.04.2014 zwischen den Parteien geschlossenen Altersteilzeit-Vertrages soll das Arbeitsverhältnis am 31.01.2019 enden. Für den Verlust des Arbeitsplatzes hat sich die Beklagte dort verpflichtet, eine Abfindung in Höhe von 55.148,00 EUR zu zahlen. Unabhängig vom Fälligkeitszeitpunkt entsteht der Abfindungsanspruch mit Beginn der Arbeitsphase der Altersteilzeit und ist ab diesem Zeitpunkt vererblich.

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der im vorstehend zitierten Altersteilzeitvertrag vereinbarte Abfindungsbetrag hoch genug ist und ob sich nicht aus einer zwischen den Betriebsparteien abgeschlossenen Vereinbarung ein weiterer Anspruch ergibt.

Mit Blick auf eine geplante umfangreiche konzernweite Umstrukturierung wurde nämlich zwischen dem Dü Betriebsrat und der Beklagten am 17.12.2013 vor Durchführung eines Mitbestimmungsverfahrens nach §§ 111 ff BetrVG eine sogenannte „Duldungsvereinbarung“ geschlossen. Dort heißt es auszugsweise wörtlich:

I.

Präambel

Im Rahmen des Konzernprogramms SCORE beabsichtigt die D Umstrukturierungsmaßnahmen […]. In diesem Zusammenhang wird es nach Ansicht der D voraussichtlich zu einer Betriebsänderung gemäß §§ 111 ff BetrVG kommen.

[…]

Die Betriebspartner sind sich einig, dass im Vorfeld einer möglichen Betriebsänderung die in dieser Vereinbarung beschriebenen Ansprüche und Maßnahmen genutzt werden können.

[…]

III.

Anwendung der HR Personalmaßnahmen

Den Stationsmitarbeitern werden verschiedene Angebote unterbreitet, die die Fluktuation bis zu einer möglichen Betriebsänderung fördern sollen.

[…]

Vor dem Hintergrund der geschäftsleitungsseitig beabsichtigten Einstellung der Eigenproduktion auf der Station Dü haben Stationsmitarbeiter einen Anspruch auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages gemäß Ziffer III 1.1 dieser Duldungsvereinbarung.

[…]

1. Angebot für rentennahe Jahrgänge – Altersteilzeit und früher Eintritt in den Ruhestand

1.1 Altersteilzeit

Im Geltungsbereich und für die Dauer des Tarifvertrages Altersteilzeit vom 07.07.2010 in der Fassung vom 12.11.2012 (ÄTV) kann der Abschluss eines ATZ-Vertrages mit mindestens zwei Jahren Laufzeit auf frühestmöglichen Rentenzugang durch das befristete Angebot einer damit einhergehenden Abfindung beansprucht werden. Die Abfindung berechnet sich wie folgt: 5.500,00 EUR + drei Bruttomonatsvergütungen. Für eine rasche Entscheidung bis spätestens 30.06.2014 für ATZ werden zusätzlich 1.000,00 EUR pro vollendetem Beschäftigungsjahr gezahlt.

1.2 Früherer Eintritt in den Ruhestand

Stationsmitarbeiter mit Zugang zur gesetzlichen Altersversorgung werden befristet bis zum 30.06.2014 dazu incentiviert, einen vorzeitigen Renteneintritt zu vereinbaren. Dazu wird für jedes volle Jahr vorzeitiger Verrentung – gegenüber der gesetzlichen Regelaltersgrenze – eine Einmalzahlung in Höhe von vier Bruttomonatsvergütungen geleistet.

[…]

3. Berechnungsgrundlage der Bruttomonatsvergütung

Soweit es nach dieser Vereinbarung auf die Höhe der Bruttovergütung ankommt, wird die aktuelle Bruttomonatsvergütung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zu Grunde gelegt.

[…].

Zwischen den Parteien ist nun streitig, ob mit den Worten „pro vollendetem Beschäftigungsjahr“ unter III 1.1 der Duldungsvereinbarung der Zeitraum vom Beginn des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses, also bis zum Ende der Freistellungsphase gemeint ist, oder ob ein kürzerer Zeitraum der Berechnung zu Grunde gelegt werden muss, nämlich, wie die Beklagte meint, ein Zeitraum, der maximal bis zum Beginn der Arbeitsphase reicht. Für den Fall, dass die klägerische Auffassung zutreffend ist, dass also sämtliche Beschäftigungsjahre bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses und damit bis zum vereinbarten Ende der Freistellungsphase der Berechnung zu Grunde gelegt werden müssen, ist der mit der Klage geforderte Mehrbetrag rechnerisch unstreitig.

Am 08.07.2015, schloss die Arbeitgeberin mit den Betriebsräten der einzelnen Standorte, also auch mit dem Betriebsrat des Standorts Dü , eine Rahmenvereinbarung mit der sich die Betriebsparteien verpflichteten, bis zum 15.12.2015 je einen Interessenausgleich und Sozialplan pro betroffener Station zur Regelung der betrieblichen Umsetzung der bevorstehenden Betriebsänderungen abzuschließen und die in Nr. F 1 c ebenfalls eine Regelung zur Belohnung frühzeitiger Entscheidungen für eine Altersteilzeit vorsieht. Die Regelung ist weitgehend wortgleich mit der hier anwendbaren Duldungsvereinbarung, sieht aber als Stichtag statt dem 30.06.2014 den 30.06.2016 vor und spricht nicht von „vollendetem Beschäftigungsjahr“ sondern, ohne das Wort „vollendetem“ von „Beschäftigungsjahr“. Für andere Standorte gibt es ähnliche Regelungen, wie hier die „Duldungsvereinbarung“ mit weitgehend gleichem Wortlaut. Ein weiteres halbes Jahr später, unterzeichnet am 29.01.2016, erarbeitete die Arbeitgeberin zusammen mit den anwaltlichen Vertretern der örtlichen Betriebsräte einen „Kommentar“ zur Rahmenvereinbarung, in dem es unter anderem wörtlich heißt:

„Kommentierung zur Rahmenvereinbarung zur Beendigung der Eigenproduktion an allen dezentralen deutschen Stationen vom 08.07.2015 sowie der jeweiligen Interessenausgleiche und Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche […]

Geltung und Zweck der Kommentierung:

Die nachfolgende Kommentierung gilt sowohl für die Rahmenvereinbarung zur Beendigung der Eigenproduktion an allen dezentralen deutschen Stationen vom 08.07.2015 (Rahmenvereinbarung) als auch für die in der Folge geschlossenen örtlichen Interessenausgleiche/Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche […] nebst Zusatzvereinbarungen (örtliche IA/SP).

[…]

Die Kommentierung dient dazu, den Willen und das gemeinsame Verständnis der Betriebsparteien in Bezug auf die Rahmenvereinbarung und die örtlich IA/SP zu dokumentieren.

[…]

Für die Abfindungsberechnung gelten die Beschäftigungsjahre bis zum Beginn des Arbeitsblocks.

Mit dem kommentierenden letztzitierten Satz haben die Betriebsparteien also nachträglich ein Verständnis des Begriffs „Beschäftigungsjahr“ dokumentiert, das den Rechtsstandpunkt der Klagebegründung nicht stützt.

Sowohl der Altersteilzeit-Vertrag wie auch die Duldungsvereinbarung nehmen Bezug auf den Tarifvertrag Altersteilzeit vom 12.11.2012. Dort heißt es in der Protokollnotiz zu § 4 Abs. 3, der sich mit der Rangfolge der zu berücksichtigenden Antragsteller befasst, wörtlich:

Für die Feststellung der Betriebszugehörigkeit im Sinne dieses Tarifvertrages sind alle Beschäftigungsjahre einzubeziehen, die die Berechnung der Kündigungsfristen maßgeblich sind.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Duldungsvereinbarung sei eine Betriebsvereinbarung. Die dort genannten „vollendeten Beschäftigungsjahre“ seien schon nach dem Wortlaut die Jahre der „Beschäftigung“. Zu berücksichtigen sei also die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses.

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 62.945,07 EUR brutto, abzüglich bereits geleisteter 39.400,65 EUR netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus dem Differenzbetrag seit dem 01.03.2017 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, die Duldungsvereinbarung sei nach ihrer Auffassung keine Betriebsvereinbarung. Selbst wenn dies so wäre, sei ihr Wortlaut zwar nicht eindeutig, aber Sinn und Zweck sprächen dafür, nur den Zeitraum bis zum Beginn der Arbeitsphase zu berücksichtigen. Es sei keine Tatsache erkennbar, die dafür sprechen könnte, die Betriebsparteien hätten die Altersteilzeitjahre, also die Jahre nach Abschluss des Vertrages hätten berücksichtigt sehen wollen. Das Verständnis der Klägerin führe zu der Unsicherheit einer zu hohen Abfindung, wenn nämlich das Altersteilzeit-Verhältnis vorzeitig ende. Sie sei den Beschäftigten entgegen gekommen, indem sie nicht – wie es richtig gewesen wäre – auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abgestellt habe, sondern auf den (späteren) Beginn der Aktivphase.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Bei der Duldungsvereinbarung handele es sich um eine Betriebsvereinbarung. Dies ergebe sich schon daraus, dass die Duldungsvereinbarung in abstrakt-generellen Regelungen Ansprüche für die Arbeitnehmer formuliere und begründe. Die Betriebsvereinbarung sei aber dahin auszulegen, dass bei der Berechnung der Prämie für eine rasche Entscheidung sämtliche Beschäftigungsjahre bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen seien. Das Auslegungsergebnis ergebe sich schon aus dem Wortlaut. Die Systematik der Duldungsvereinbarung spreche für das gleiche Verständnis. Sinn und Zweck der Regelung sprächen ebenfalls für die Berücksichtigung der gesamten Zeit bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der Sinn der Regelung sei nämlich der, die Beschäftigten dazu zu bewegen, einen Altersteilzeit-Vertrag abzuschließen. Je höher die angebotene Abfindung sei, desto attraktiver sei der Abschluss des Altersteilzeitvertrages.

Gegen dieses ihr am 09.12.2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 09.12.2019 Berufung eingelegt und diese nach entsprechender Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist am Montag, dem 10.02.2020, begründet.

Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Berufung vor, der Wortlaut sei gerade nicht eindeutig. „Vollendet“ seien bei Unterzeichnung des Altersteilzeitvertrags nur solche Jahre, die in der Vergangenheit lägen. Zukünftige Jahre seien nicht vollendet, sondern lägen in der Zukunft. Bei der Betrachtung von Sinn und Zweck der Regelung sei auch das Bedürfnis zu berücksichtigen, eine sichere Berechnungsgrundlage für die zu zahlende Abfindung zu regeln. Eine unbekannte Variable, die tatsächliche Beendigung des Altersteilzeitverhältnisses in die Berechnung aufzunehmen, sei unsinnig. Ihr Verständnis sei inzwischen durch die Kommentierung zur Rahmenvereinbarung bestätigt worden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 14.11.2019 – 14 Ca 7957/18 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Für das Auslegungsergebnis spreche auch der Interessenausgleich aus dem Jahre 1992, in dessen § 6 die Definition von „Beschäftigungsjahren“ so geregelt sei, wie von ihr verstanden, nämlich als die Jahre bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.  Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.  Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Die Klage ist zwar zulässig aber nicht begründet.

1.  Die Klage ist als hinreichend bestimmte Leistungsklage ohne Weiteres zulässig.

2.  Die Klage ist aber nicht begründet. Es besteht kein weiterer, über den im Altersteilzeitvertrag vereinbarten Betrag hinausgehender Abfindungsanspruch. Ein solcher Abfindungsanspruch ergibt sich nicht aus dem Altersteilzeit-Vertrag selbst, aus dem Tarifvertrag Altersteilzeit oder aus §§ 611 BGB, 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Altersteilzeitvertrag vom 04.06.2014 in Verbindung mit III 1.1 der Duldungsvereinbarung vom 17.12.2013.

a.  Es ergibt sich kein weiterer Abfindungsanspruch aus dem Altersteilzeitvertrag vom 04.06.2014. Dort haben sich die Parteien in Nr. 6 auf einen konkreten Abfindungsbetrag geeinigt. Im Vertrag findet sich keine weitere Regelung, aus der sich eine Erhöhung dieses Betrages ergeben könnte.

b.  Auch aus dem Tarifvertrag Altersteilzeit vom 12.11.2012 folgt kein weiterer Abfindungsanspruch. Der Tarifvertrag erwähnt in keiner seiner Regelungen eine Abfindung.

c.  Entgegen der mit der Klage vertretenen Auffassung und entgegen der Entscheidung des Arbeitsgerichts besteht auch aus §§ 611, 611a Abs. 2 BGB in Verbindung mit dem Altersteilzeitvertrag vom 04.06.2014 in Verbindung mit Nr. III 1.1 der Duldungsvereinbarung vom 17.12.2013 kein weiterer Abfindungsanspruch.

(1.)  Ein weiterer Abfindungsanspruch aus der Duldungsvereinbarung ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sich die Parteien individualvertraglich auf einen konkreten (möglicherweise niedrigeren) Abfindungsbetrag geeinigt haben. In entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 3 TVG und damit unter Berücksichtigung des für die gesamte Arbeitsrechtsordnung geltenden Günstigkeitsprinzips würde eine ungünstigere individuelle Absprache durch die abstrakt-generelle Norm der Duldungsvereinbarung verdrängt (Fitting BetrVG § 77 Rn. 197 mwN).

(2.)  Ein weiterer Abfindungsanspruch aus der Duldungsvereinbarung ist aber ausgeschlossen, weil sich aus deren Nr. III 1.1 kein höherer Abfindungsbetrag ergibt, als er im Altersteilzeit-Vertrag versprochen und ausgezahlt wurde. Das gilt auch dann, wenn mit dem Arbeitsgericht richtigerweise angenommen wird, dass es sich bei der Duldungsvereinbarung um eine Betriebsvereinbarung im Sinne des § 77 BetrVG handelt.

Die Worte „… pro vollendetem Beschäftigungsjahr …“ in Nr. III 1.1 der Duldungsvereinbarung bezeichnen die (nicht anteiligen sondern) vollen Beschäftigungsjahre bis zum Eingang des Antrages auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages bei der Arbeitgeberin. Indem die Beklagte den späteren Beginn der Arbeitsphase als maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Berechnung zugrunde gelegt hat, ist sie – für den vorliegenden Rechtsstreit irrelevant – zugunsten der Klägerin von der Berechnungsgrundlage abgewichen. Dieses Verständnis der Regelung ist das Ergebnis der Auslegung nach den für die Auslegung von Gesetzen entwickelten Grundsätzen, die auch bei der Auslegung von Betriebsvereinbarungen anzuwenden sind, da es sich bei Betriebsvereinbarungen, genauso wie bei Gesetzen, um abstrakt-generelle Regelungen handelt. Es geht bei der Auslegung solcher abstrakt-genereller Regelungen darum, wie die Normunterworfenen und die Gerichte eine Norm zu verstehen haben. Eine Betriebsvereinbarung ist daher objektiv auszulegen. Auszugehen ist vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck der betrieblichen Regelungen zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Regelungswerk ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang der Regelung, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Betriebsparteien liefern kann. Bleiben im Einzelfall gleichwohl Zweifel, können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, etwa auf die Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Regelung in der Praxis. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung des BAG, z.B. 03.05.2006 – 1 ABR 2/05 – Rn. 33; BAG v. 07.06.2011 – 1 AZR 807/09).

Nach diesen Grundsätzen, ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift und aus deren Gesamtzusammenhang, dass der Beschäftigungszeitraum, der nach Zugang des Antrages auf Abschluss eines Altersteilzeitvertrages bei der Arbeitgeberin liegt, für die Berechnung der zusätzlichen Abfindung keine Rolle spielen kann. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die bisherige Anwendung der Regelung, durch einen Blick auf Sinn und Zweck der Norm, durch die Tatsache, dass ein anderes Auslegungsergebnis nicht praktikabel wäre und nicht zuletzt durch die im Rahmen der historischen Auslegungsmethode zu berücksichtigenden Tatsache, dass die Betriebsparteien in einer nachfolgenden Betriebsvereinbarung ein gemeinsames Verständnis vereinbart haben, das dem hier gefundenen Ergebnis entspricht.

aa.  Der Wortlaut und der Gesamtzusammenhang der Regelung bringen zum Ausdruck, dass mit „pro vollendetem Beschäftigungsjahr“ nur die Zeit bis zur Abgabe des Vertragsabschlussangebots durch die Arbeitnehmerin oder den Arbeitnehmer gemeint ist und nicht die nachfolgende Zeit bis zur rechtlichen Beendigung des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses.

Entgegen der in der Klage vertretenen Auffassung und der des Arbeitsgerichts ist der Wortlaut der Regelung nicht eindeutig in dem Sinne, dass mit „… pro vollendetem Beschäftigungsjahr …“ der gesamte Zeitraum des Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnisses bis zur Beendigung nach Ablauf der Freistellungsphase gemeint wäre. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Beschäftigungsjahr, das in der Zukunft liegt, ist ein „zu vollendendes“ und nicht ein bereits „vollendetes“. Eine Regel, der zufolge „Beschäftigungsjahre“ grundsätzlich alle Jahre der gesamten Beschäftigung meinen und daher von diesem Grundsatz abweichende Ausnahmen ausdrücklich normiert werden müssten, existiert nicht. Die Begriffe „Beschäftigungsjahr“ oder „Bestand des Arbeitsverhältnisses“ werden in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht. So stellt § 622 Abs. 2 BGB bei der Bemessung von Kündigungsfristen auf die bis zum Zugang der Kündigungserklärung abgelaufene Beschäftigungszeit ab und nicht auf die Zeit, die bis zur rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch verstreichen wird. Gleiches gilt nach § 1 Abs. 1 KSchG für den Ablauf der Wartezeit oder nach § 34 Abs. 2 TVöD für den Eintritt der sogenannten „Unkündbarkeit“. Die Duldungsvereinbarung selbst rechnet in der Regelung, die der hier relevanten Vorschrift unmittelbar nachfolgt, nämlich in Nr. III 1.2, fiktive Beschäftigungsjahre rückwärts beginnend vom Zeitpunkt des Beginns der gesetzlichen Regelaltersrente. In Nr. III 1.1 der Duldungsvereinbarung geht es um „… eine rasche Entscheidung bis spätestens 30.06.2014 …“ und eine durch diese Entscheidung ausgelöste Berechnung, der „vollendete Beschäftigungsjahre“ zugrunde gelegt werden. Bei diesem Wortlaut hätte es einer ausdrücklichen Regelung bedurft, wenn die Zeit nach der getroffenen Entscheidung und nach dem 30.06.2014 noch eine Rolle hätte spielen sollen. So ergibt sich ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, das sich genau anders herum darstellt, als dies von der Klägerin und vom Arbeitsgericht angenommen wurde. Da es an einer ausdrücklichen Erwähnung des Zeitraums nach dem Treffen der Entscheidung fehlt, spricht somit schon der Wortlaut der Regelung für ein Verständnis, dem zufolge nur die vollen Beschäftigungsjahre bis zur Entscheidung der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers für den Abschluss eines Altersteilzeitvertrages zählen.

Das Verständnis, dem zufolge diejenige Beschäftigungszeit, die nach der Entscheidung der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers für einen Altersteilzeitvertrag liegt, für die Berechnung der zusätzlichen Abfindung keine Rolle mehr spielt, wird durch einen Blick auf den Gesamtzusammenhang gestützt. Dieser Zusammenhang ergibt sich insbesondere aus der Präambel der Duldungsvereinbarung. Dort ist von einer geplanten Betriebsänderung die Rede, die aber noch nicht das Mitbestimmungsverfahren nach §§ 111 ff BetrVG durchlaufen hatte (was erst zwei Jahre später geschah), die aber schon im Vorfeld Maßnahmen erforderlich machte, um des Personal zu reduzieren. Diese Notwendigkeit sah auch der Betriebsrat, der sich veranlasst sah, entsprechende Maßnahmen zu „dulden“, deshalb die „Duldungsvereinbarung“. Für eine geplante Betriebsänderung ist für alle Beteiligten notwendig zu wissen, wie viele Beschäftigte in welchen Zeiträumen und in welchem Umfang von der Betriebsänderung und ggfls. einem kausalen Wegfall von Beschäftigungsbedürfnissen betroffen sein werden. Es besteht damit ein vitales Interesse an frühzeitiger Festlegung der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dies ist der Grund, warum eine frühe Entscheidung – sei es für den Abschluss eines Altersteilzeit-Vertrages nach Nr. III 1.1, sei es für einen vorgezogenen Eintritt in den Ruhestand nach Nr. III 1.2 – von der Duldungsvereinbarung gesondert „incentiviert“ wird („incentiviert“ ausdrücklich in Nr. III 1.2). Es geht also vordergründig um die Förderung und Belohnung einer Entscheidung bis zu einem bestimmten Datum und nicht um ein Ausscheiden bis zu einem bestimmten Datum. Nach § 3 des Tarifvertrages Altersteilzeit können Altersteilzeitverträge bereits nach Vollendung des 55. Lebensjahres abgeschlossen werden. Es sind also extreme Zeitdifferenzen zwischen Entscheidung und Beendigung des Arbeitsverhältnisses denkbar. Die hier streitige zusätzliche Incentive-Abfindung hat damit nur wenig mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und mit dem Verlust des mit dem Arbeitsplatz verbundenen Besitzstandes zu tun oder gar mit auszugleichenden Renteneinbußen, sondern vielmehr mit der Herstellung von Transparenz, Prognosesicherheit und Berechenbarkeit durch eine frühzeitige Festlegung.

bb.  Da der Wortlaut der Vorschrift und ihr Gesamtzusammenhang bereits zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis führen, kommt es auf weitere Auslegungskriterien nicht an. Gleichwohl sprechen auch diese weiteren Auslegungskriterien für das gefundene Ergebnis. Die bisherige Anwendung der Vorschrift, ihr Sinn und Zweck, die Praktikabilität ihrer Durchführung und das inzwischen durch eine weitere Betriebsvereinbarung zum Ausdruck gekommene übereinstimmende Verständnis der Betriebsparteien bestätigen allesamt, dass bei der Berechnung der zusätzlichen Abfindung der Zeitraum nach Abgabe des Vertragsangebots zum Abschluss des Altersteilzeitvertrages bei der Berechnung außer Betracht bleiben kann.

Die bisherige Anwendung der Vorschrift bestätigt die Auffassung der Beklagten. Unwidersprochen hat sie vorgetragen, dass sie durchgehend bei der Berechnung der zusätzlichen Abfindung immer nur die Zeit bis zum Beginn der Arbeitsphase berücksichtigt hat. Nur wenige betroffene Beschäftigte haben – teilweise erst erhebliche Zeit nach Abschluss des Altersteilzeit-Vertrages – eine andere Auffassung vertreten und weitere Abfindungszahlungen eingefordert.

Der Sinn und Zweck der Regelung in Nr. III 1.1. der Duldungsvereinbarung ist wie bereits festgestellt, möglichst viele Beschäftigten zu einer möglichst schnellen Entscheidung zu bewegen. Dabei hat die Abhängigkeit einer Zahlung von der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses regelmäßig zum Zweck, langjährige Mitarbeit zu honorieren. Richtig ist, dass dieser Sinn und Zweck umso eher verwirklicht wird, je höher die Incentive-Zahlung ist. Das bedeutet aber nicht, dass abweichend von Wortlaut, Gesamtzusammenhang und bisheriger Praxis eine andere Berechnungsgrundlage geboten wäre. Vielmehr spricht dieser Sinn und Zweck – die Förderung der schnellen Entscheidung – dafür, bei der Berechnung auf die schnelle Entscheidung abzustellen und nicht auf das möglicherweise noch weit in der Zukunft liegende Ausscheiden.

Die Praktikabilität der Durchführung der Regelung spricht gleichfalls für das hier gefundene Auslegungsergebnis. Wie gezeigt kann zwischen dem Abschluss des Altersteilzeitvertrages einerseits und dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses andererseits ein Zeitraum von mehr als 15 Jahren liegen. Dies ist ein Zeitraum, ich dem sehr viel passieren kann, weit mehr als der nächstliegende aller „Störfälle“, dem Tod des Betroffenen. Es gibt unzählige Fallvarianten, die zu einem vorzeitigen Ausscheiden der Beschäftigten oder zu einer Änderung der Vertragsabsprache führen können. Eine Incentive-Zahlung, die als Berechnungsgrundlage ein somit in vielen Fällen nur fiktives Enddatum vorsieht, ist damit möglichen Änderungen unterworfen, die zu komplizierten Rückabwicklungen führen würden. Das wäre nicht praktikabel. Rückabwicklungen nach Bereicherungsrecht sind immer erheblichen Unwägbarkeiten ausgesetzt, nicht zuletzt wegen der möglichen Entreicherung der Beschäftigten.

Schließlich ist zu Gunsten der von der Beklagten vertretenen Auffassung zu berücksichtigen, dass die Betriebsparteien inzwischen mit der Kommentierung vom 29.01.2016 ein gemeinsames Verständnis fixiert haben, das dem Begehren der Klägerin nicht förderlich ist. Zwar ist diese Vereinbarung nach Abschluss der Duldungsvereinbarung und nach Abschluss des Altersteilzeitvertrages geschlossen worden, ihr Inhalt kann aber im Rahmen der historischen Auslegung nutzbar gemacht werden, jedenfalls soweit das nunmehr geäußerte Verständnis der Betriebsparteien mit dem Auslegungsergebnis nach Wortlaut und Gesamtzusammenhang übereinstimmt. Es ist nicht erkennbar, dass die Betriebsparteien mit der Kommentierung von einem einmal gefassten Verständnis abgewichen sind und das genaue Gegenteil haben vereinbaren wollen.

Nach allem musste es bei der tatsächlich vereinbarten und bereits ausgezahlten Abfindungszahlung bleiben, deren Berechnung die Beschäftigungszeit während der Altersteilzeitphase unberücksichtigt gelassen hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch besteht nicht.

III.  Nach allem war somit die Entscheidung des Arbeitsgerichts  aufzuheben und die Klage abzuweisen. Als unterliegende Partei hat die Klägerin gemäß § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.

 

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