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Anfechtung Aufhebungsvertrag

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 5 Sa 128/21 – Urteil vom 14.10.2021

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz – Auswärtige Kammern Bad Kreuznach – vom 25. März 2021, Az. 7 Ca 775/20, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines Aufhebungsvertrags.

Die Beklagte betreibt ein Handelsunternehmen für Spielwaren mit einer Vielzahl von Filialen. Der 1968 geborene, verheiratete Kläger war seit September 1999 in der Zentrale der Beklagten zu einem Bruttomonatsverdienst von zuletzt € 3.126,00 als Monteur beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrer Zentrale ca. 400 Arbeitnehmer.

Am 20. Oktober 2020 führte der unmittelbare Vorgesetzte mit dem Kläger um 7:00 Uhr ein Gespräch. Er teilte ihm mit, dass am 17. Oktober 2020 aus dem Regal „defekte Retouren“ Ware entwendet worden sei; zwei Mitarbeiter hätten ihn an dem Regal gesehen. Weil sich der Kläger aus Sicht des Vorgesetzten nicht überzeugend entlasten konnte, lud ihn der Geschäftsführer der Beklagten am selben Tag zu einem Anhörungsgespräch um 9:00 Uhr ein. Dem Kläger wurde eröffnet, dass gegen ihn der dringende Verdacht bestehe, am 17. Oktober 2020 aus der Retouren-Abteilung drei Mehrzwecktaschenmesser zu einem Verkaufspreis von je € 9,99 und drei Zubehörsets (mit Kompass, Fernglas, Taschenlampe) zu einem Verkaufspreis von je € 19,99 gestohlen zu haben. Der Kläger bestritt den Vorwurf. Ob der Geschäftsführer dem Kläger mit einer Strafanzeige und einer fristlosen Kündigung drohte, ist streitig. Im Anschluss an das Gespräch unterzeichnete der Kläger am 20. Oktober 2020 einen schriftlichen Aufhebungsvertrag. Die Parteien vereinbarten eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses im gegenseitigen Einvernehmen zum 31. Dezember 2020. Ferner regelten sie eine unwiderrufliche Freistellung des Klägers (unter Abgeltung von Resturlaub und Überstunden) bis zum Beendigungszeitpunkt. Bereits mit Telefax vom 20. Oktober 2020 erhob der Kläger vor dem Arbeitsgericht eine Klage wegen Kündigungsschutz. Mit Anwaltsschreiben vom 21. Oktober 2020 focht er den Aufhebungsvertrag an. Das Schreiben lautet auszugsweise:

„Der Mandant wurde von Mitarbeitern Ihres Hauses am 20.10.2020 bezichtigt einen Diebstahl in Ihrem Unternehmen begangen zu haben.

Aufgrund massiver Drohung und Nötigung hat der Mandant auf Veranlassung des [Geschäftsführers] eine Aufhebungsvereinbarung unterzeichnet, mit der das bestehende Arbeitsverhältnis im beiderseitigen Einvernehmen zum 31.12.2020 beendet wurde.

Bei sachgemäßer Abwägung gab es für den Mandanten keine Veranlassung diese Vereinbarung zu unterzeichnen und die erfolgte Willenserklärung abzugeben.

Die Unterzeichnung erfolgte nur unter Ausübung physischen Zwangs, nach erfolgter Nötigung und Bedrohung durch den [Geschäftsführer].

Der Mandant war sich der Tragweite der abgegebenen Willenserklärung, unter Berücksichtigung des Beschäftigungsverhältnisses von 21 Jahren und den daraus resultierenden Rechten, nicht bewusst. Bei gehöriger Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung sämtlicher Umstände hätte der Mandant diese Erklärung nicht abgegeben.

Namens und in Vollmacht des Mandanten erkläre ich deshalb die Anfechtung der abgegebenen Willenserklärung und des mit dem Mandanten am 20.10.2020 geschlossen Aufhebungsvertrags gem. §§ 119,123 BGB.

Ich habe im Auftrag des Mandanten, im Hinblick auf die Unwirksamkeit des geschlossenen Aufhebungsvertrags, Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht eingereicht.“

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht mit Aufhebungsvereinbarung vom 20. Oktober 2020 beendet wurde und über den Beendigungszeitpunkt 31. Dezember 2020 hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils vom 25. März 2021 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung – zusammengefasst – ausgeführt, der Kläger habe den Aufhebungsvertrag vom 20. Oktober 2020 nicht wirksam angefochten. Die Beklagte habe schon aufgrund des unstreitigen Sachvortrags allen Grund gehabt, dem Kläger mit einer fristlosen Kündigung zu drohen. Der Kläger habe nicht ansatzweise erklären können, warum er sich – und dies zu den üblichen Pausenzeiten der dort beschäftigten Mitarbeiter – am 17. Oktober 2020 in der Retouren-Abteilung aufgehalten habe. Außerdem habe er in der ersten Befragung durch seinen Vorgesetzten unstreitig gelogen und behauptet, er sei mit einem Kollegen dort unterwegs gewesen, der an diesem Tag jedoch nicht gearbeitet habe. Ferner habe der Kläger nicht bestritten, dass die von der Beklagten benannten Zeuginnen ihn gehört, sondern lediglich, dass sie ihn nicht beim Zugriff beobachtet hätten. Da der Kläger bereits zwei Stunden vor dem eigentlichen Anhörungsgespräch mit dem Vorwurf konfrontiert worden sei, und er nach Darlegung der Beklagten auch gewusst habe, weshalb er später nochmals in Gegenwart des Geschäftsführers zur Anhörung zitiert worden sei, fehle es auch an einem Überrumpelungsmoment und damit an einem Umstand, der den Vorwurf unfairen Verhandelns begründen könnte. Wegen der Einzelheiten der erstinstanzlichen Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 25. März 2021 Bezug genommen.

Gegen das am 30. März 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 19. April 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 14. Mai 2021 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Er macht geltend, das Arbeitsverhältnis sei nicht durch den Aufhebungsvertrag vom 20. Oktober zum 31. Dezember 2020 beendet worden. Das Arbeitsgericht habe übersehen, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, den Arbeitnehmer bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags auf die rechtlichen Konsequenzen hinzuweisen. Die Beklagte hätte ihn daher darauf hinweisen müssen, dass eine Sperrzeit zu erwarten sei. Außerdem sei der Aufhebungsvertrag unter Missachtung des Gebots fairen Verhandelns zustande gekommen. Es sei zu würdigen, dass er bereits seit September 1999 bei der Beklagten ohne jede Abmahnung beschäftigt sei. Im Anhörungsgespräch habe er den Vorwurf des Diebstahls zurückgewiesen. Er sei damit konfrontiert worden, Waren im Wert von angeblich € 89,94 gestohlen zu haben. Dieser Vorwurf sei weder durch eine Anhörung der Zeugen R. und F. noch durch die Vorlage eines Anhörungsprotokolls ihm gegenüber verifiziert worden. Vor diesem Hintergrund sei der Vorwurf des Diebstahls, der zum Abschluss des Aufhebungsvertrags geführt habe, auf die erfolgte Drohung mit Strafanzeige und fristloser Kündigung zurückzuführen. Der Geschäftsführer habe eine Zwangssituation geschaffen, die ihn veranlasst habe, den bereits vorformulierten Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Die Drohung mit einer Strafanzeige und einer fristlosen Kündigung sei wegen mangelhafter Aufklärung treuwidrig. Die Zeugen R. und F. seien weder zum Zeitpunkt seiner Anhörung noch später angehört worden. Von der Beklagten sei im Vorfeld des Vertragsabschlusses nicht das Mindestmaß an Fairness geschaffen worden. Vielmehr sei er mit einem angeblichen Diebstahl konfrontiert worden, den er tatsächlich nicht begangen habe und der auch von keinem Zeugen gesehen worden sei. Der Geschäftsführer habe bewusst eine Drucksituation aufgebaut, um seine Entscheidungsfreiheit unzulässig zu beeinflussen. Die Beklagte habe Rahmenbedingungen geschaffen, die ihm keinen Spielraum für seine Verteidigung gegeben hätten. Der Geschäftsführer hätte ihn darauf hinweisen müssen, dass er die angeblichen Zeugen vor dem mit ihm geführten Gespräch nicht gehört habe, weil insoweit eine unklare Beweissituation bestanden habe. Er hätte ihn ferner darauf hinweisen müssen, dass er einen Rechtsbeistand in Anspruch nehmen könne und ihm eine angemessene Überlegungsfrist gewähren müssen. Außerdem habe die Beklagte seine unzureichenden Sprachkenntnisse als Russlanddeutscher bewusst ausgenutzt, um seine Entscheidungsfreiheit zu beeinträchtigen.

Der Kläger beantragt zweitinstanzlich, das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz – Auswärtige Kammern Bad Kreuznach – vom 25. März 2021, Az. 7 Ca 775/20, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 31. Dezember 2020 hinaus fortbesteht.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie genügt den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO und erweist sich auch sonst als zulässig.

II.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Die Feststellungsklage ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch den Aufhebungsvertrag vom 20. Oktober wirksam zum 31. Dezember 2020 beendet worden ist. Der Aufhebungsvertrag ist nicht aufgrund der vom Kläger bereits am 20. Oktober 2020 erklärten Anfechtung gemäß § 142 Abs. 1 BGB unwirksam. Er ist auch nicht unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande gekommen.

1. Die Klage ist als allgemeine Feststellungsklage iSd. § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Die Umformulierung des Feststellungsantrags in der Berufungsinstanz ist keine Klageänderung iSd. § 263 ZPO, weil sich an dem von Anfang an verfolgten Klageziel, den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über den 31. Dezember 2020 hinaus gerichtlich feststellen zu lassen, nichts geändert hat. Soweit der Kläger beim Arbeitsgericht eine „Kündigungsschutzklage“ erhoben hat, bezieht sich der Kündigungsschutz ausschließlich auf Kündigungen des Arbeitgebers. Streiten die Parteien – wie hier – über eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch einen Aufhebungsvertrag, ist der nur bei einer Kündigungsschutzklage im Anwendungsbereich des § 4 bzw. § 13 Abs. 1 KSchG zulässige Antrag in einen Antrag nach § 256 ZPO auszulegen (vgl. BAG 28.11.2007 – 6 AZR 1108/06 – Rn. 15 mwN).

2. Die Klage ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch den Aufhebungsvertrag vom 20. Oktober 2020 mit Ablauf des 31. Dezember 2021 beendet worden.

a) Entgegen der Ansicht der Berufung hat der Kläger den Aufhebungsvertrag nicht wirksam wegen widerrechtlicher Drohung gem. § 123 Abs. 1 Alt. 2 BGB angefochten.

aa) Dabei kann unterstellt werden, dass die Beklagte dem Kläger im Gespräch am 20. Oktober 2020 mit einer fristlosen Kündigung und der Erstattung einer Strafanzeige gedroht hat. Die Beklagte hat zwar eine Drohung bestritten, jedoch ausgeführt, sie habe dem Kläger „die verschiedenen Alternativen“ (Aufhebungsvertrag, Strafanzeige, fristlose Kündigung) aufgezeigt. Eine Drohung muss nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, sondern kann auch versteckt, zB durch eine Warnung oder einen Hinweis auf nachteilige Folgen, oder durch schlüssiges Verhalten erfolgen (vgl. BGH 29.07.2021 – III ZR 179/20 – Rn. 45 mwN). Drohung ist dabei das Inaussichtstellen eines künftigen Übels. Der Bedrohte muss einer Zwangslage ausgesetzt sein, die ihm subjektiv das Gefühl gibt, sich nur noch zwischen zwei Übeln entscheiden zu können (vgl. etwa BAG 21.04.2016 – 8 AZR 474/14 – Rn. 52 mwN). Das Aufzeigen „verschiedener Alternativen“ kann eine Drohung sein.

bb) Die Drohung mit einer außerordentlichen Kündigung ist nicht widerrechtlich, wenn ein verständiger Arbeitgeber eine solche Kündigung ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sich die angekündigte Kündigung, wenn sie ausgesprochen worden wäre, in einem Kündigungsschutzprozess als rechtsbeständig erwiesen hätte (vgl. BAG 21.04.2016 – 8 AZR 474/14 – Rn. 54 mwN). Die Drohung mit einer Strafanzeige ist rechtmäßig, wenn das Begehren des Drohenden mit der in Betracht kommenden Straftat in einem inneren Zusammenhang steht. Ein solcher Zusammenhang ist anzunehmen, wenn das Arbeitsverhältnis durch die Straftat, auf die sich die angedrohte Strafanzeige bezieht, konkret berührt wird. Auch insoweit ist letztlich maßgeblich, ob ein verständiger Arbeitgeber eine Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen durfte (vgl. BAG 30.01.1986 – 2 AZR 196/85 – Rn. 27 ff)

cc) Danach wären im Streitfall weder die Drohung mit einer Strafanzeige noch die Drohung mit einer fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses widerrechtlich gewesen. Ein verständiger Arbeitgeber hätte sowohl eine Strafanzeige als auch eine außerordentliche (Verdachts)-Kündigung ernsthaft in Erwägung ziehen dürfen.

Anfechtung Aufhebungsvertrag
(Symbolfoto: David Gyung/Shutterstock.com)

Es ist unstreitig, dass der Kläger am Samstag, dem 17. Oktober 2020 erst um 7:00 Uhr zur Arbeit erschien, obwohl er um 6:45 Uhr hätte beginnen müssen. Dem Gruppenleiter erklärte er, dass er aufgrund seiner Verspätung an diesem Tag keine Pause machen werde. Der Kläger ging in der gewohnten Zeit von 9:30 bis 9:45 Uhr nicht mit den anderen Mitarbeitern der Montageabteilung in die Pause. Nach dem Vortrag der Beklagten bemerkten zwei Arbeitnehmerinnen (F. und M.), dass der Kläger um 9:30 Uhr die Treppe zwischen dem Bereich „Saison-Retouren“ und „defekte Retouren“ hinunterkam. Der Kläger habe sich zwischen den Regalen hin und her bewegt und sich Ware angeschaut. Er habe sich ungefähr 15 Minuten in den verschiedenen Gängen aufgehalten, wobei er in viele Kartons hineingeschaut habe. Frau F. habe gehört, dass der Kläger in einem Regal im unteren Bereich die Verpackungen geöffnet und durchwühlt habe. Auch Frau M. habe bemerkt, dass der Kläger versucht habe, Artikel aus ihrer Verpackung zu entnehmen, weil die transparente Blisterverpackung entsprechende Geräusche verursache. Nachdem der Kläger die Abteilung verlassen habe, hätten F. und M. die Regale geprüft, an denen der Kläger sich aufgehalten habe. Dabei sei ihnen aufgefallen, dass der Kläger zum Teil die transparenten Blisterverpackungen halb aus den Originalverpackungen herausgezogen habe. Die Kartons mit Mehrzwecktaschenmessern und die Zubehörsets (mit Kompass, Fernglas, Taschenlampe) seien offensichtlich alle vom Kläger geöffnet und durchwühlt worden. Die Kartons seien vorgezogen worden, die Originalverpackungen mit den Messern aus den Kartons genommen und auf diesen abgelegt worden. Am Montag, dem 19. Oktober 2020 habe der Gruppenleiter (R.) festgestellt, dass aus dem Bereich „defekte Retouren“ drei Mehrzwecktaschenmesser und drei Zubehörsets entwendet worden seien. Die Sachen seien zwar von Kunden als defekte Ware zurückgeschickt, jedoch noch nicht geprüft worden. Vor einer Überprüfung der reklamierten Ware könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie einwandfrei und damit verkaufsfähig sei. Am Dienstag, dem 20. Oktober 2020 habe der Gruppenleiter die Arbeitnehmerin F. zu den leeren Kartons in der Retouren-Abteilung befragt. Sie habe ihm geantwortet, dass der Kläger diese Kartons am Samstag durchsucht habe.

Unstreitig ist, dass der Vorgesetzte am 20. Oktober 2020 um 7:00 Uhr mit dem Kläger ein Gespräch führte. Er informierte ihn über den Diebstahl der Ware und wies den Kläger darauf hin, dass er von zwei Mitarbeitern an dem Regal gesehen worden sei. Der Kläger behauptete, dass er mit dem Arbeitnehmer J. in der Retouren-Abteilung unterwegs gewesen sei, weil er ein Ersatzteil für einen Kinderwagen benötigt habe. Eine unmittelbare Überprüfung der Beklagten ergab, dass J. am 17. Oktober 2020 nicht gearbeitet hat. Des Weiteren behauptete der Kläger, er sei während seiner Pause in der Retouren-Abteilung gewesen. Da der Kläger am 17. Oktober 2020 aufgrund seiner Verspätung keine Pause machen wollte, um die versäumte Zeit nachzuholen, traf auch diese Einlassung nicht zu.

Bei seiner zweiten Anhörung am 20. Oktober 2020 um 9:00 Uhr antwortete der Kläger auf die Frage des Geschäftsführers, warum er seinen Arbeitsplatz in der Montage-Abteilung verlassen und sich in die Retouren-Abteilung (in einem anderen Stockwerk) begeben habe, dies wisse er nicht. Außerdem sei dies innerhalb seiner Pause geschehen. Auf Vorhalt musste der Kläger einräumen, dass er sich am Samstag nicht mit dem Arbeitnehmer J. in die Retouren-Abteilung begeben hat, weil J. am 17. Oktober 2020 nicht gearbeitet hatte. Auf die Frage, was er an den Regalen gewollt habe, wusste der Kläger keine Antwort. Er bestritt allerdings, die Ware gestohlen zu haben.

Wie das Arbeitsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, lagen nach dem unstreitigen Sachverhalt gewichtige objektive Verdachtstatsachen gegen den Kläger vor. Der Kläger konnte sich in den zwei Anhörungsgesprächen am 20. Oktober 2020 nicht entlasten. Er hat den Verdacht eher noch verstärkt, indem er bei seiner Befragung durch den Vorgesetzten wahrheitswidrig behauptet hat, er sei mit dem Arbeitnehmer J. in der Retouren-Abteilung unterwegs gewesen. Bei dieser Sachlage konnte ein vernünftig abwägender Arbeitgeber – trotz der langen Betriebszugehörigkeit des Klägers von 21 Jahren – in der konkreten Situation der Beklagten eine fristlose Kündigung und die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen. Es kann auch nicht angenommen werden, dass die aus der Retouren-Abteilung entwendete Ware, die von den Kunden reklamiert worden war, keinen Wert hatte, denn sie war noch nicht auf Defekte überprüft worden.

Soweit der Kläger den Vortrag der Beklagten pauschal bestreitet und meint, die Beklagte habe die vorgebrachten Vorwürfe nicht verifiziert, es gebe keine Augenzeugen, verkennt er die Darlegungs- und Beweislast. Der Anfechtungsprozess ist nicht wie ein fiktiver Kündigungsschutzprozess zu führen. Der anfechtende Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche Voraussetzungen des Anfechtungstatbestandes. Er hat daher die Tatsachen darzulegen und ggf. zu beweisen, die die angedrohte Kündigung als widerrechtlich erscheinen lassen (vgl. BAG 28.11.2007 – 6 AZR 1108/06 – Rn. 55 mwN). Der Kläger hätte deshalb darlegen und beweisen müssen, dass die Beklagte als verständiger Arbeitgeber nicht annehmen durfte, die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses sei unzumutbar. Dies ist ihm nicht gelungen.

b) Auch die Irrtumsanfechtung greift nicht durch. Gemäß § 119 Abs. 1 BGB kann der Arbeitnehmer seine Erklärung anfechten, wenn er über deren Inhalt im Irrtum war. Der Irrtum über die sozialversicherungsrechtlichen Folgen eines Aufhebungsvertrags – hier den Eintritt einer Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld – begründet keine Anfechtung nach § 119 Abs. 1 BGB. Es handelt sich um einen unbeachtlichen Irrtum über die Rechtsfolgen der Erklärung (vgl. BAG 10.03.1988 – 8 AZR 420/85 – Rn. 11).

c) Der Aufhebungsvertrag ist ferner nicht wegen Verstoßes gegen das Gebot fairen Verhandelns nach § 241 Abs. 2 BGB unwirksam.

aa) Im Streitfall kann in rechtsdogmatischer Hinsicht dahingestellt bleiben, ob ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Verletzung vertraglicher (Neben-)Pflichten überhaupt die Unwirksamkeit eines Vertrags zur Folge haben kann (so nunmehr BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18 – Rn.35 ff). Denn die Beklagte hat jedenfalls das Gebot fairen Verhandelns nicht verletzt.

bb) Das Gebot fairen Verhandelns ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Sie wird verletzt, wenn eine Seite eine psychische Drucksituation schafft, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners über den Abschluss eines Aufhebungsvertrages erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht (vgl. BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18 – Rn. 34 mwN).

Soweit der Kläger hierzu anführt, die Beklagte habe ihm keine angemessene Überlegungsfrist eingeräumt, vermag dies eine Verletzung des Gebots fairen Verhandelns nicht zu begründen. Eine rechtlich zu missbilligende Einschränkung der Entscheidungsfreiheit ist noch nicht gegeben, nur weil der eine Auflösungsvereinbarung anstrebende Arbeitgeber dem Arbeitnehmer weder eine Bedenkzeit noch ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einräumt; auch eine Ankündigung des Unterbreitens einer Aufhebungsvereinbarung ist nicht erforderlich (vgl. BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18 – Rn. 34). Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, den Arbeitnehmer darauf hinzuweisen, dass er vor Vertragsabschluss einen Rechtsbeistand hinzuziehen könne.

Der Vortrag des Klägers lässt auch nicht den Schluss darauf zu, dass die Beklagte bei den Verhandlungen über den Abschluss des Aufhebungsvertrags seine unzureichenden Sprachkenntnisse als Russlanddeutscher ausgenutzt habe. Der Kläger war seit September 1999 bei der Beklagten beschäftigt. Er hat nicht dargetan, aufgrund welcher Umstände die Beklagte hätte erkennen müssen, dass er der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Wenn sich der Kläger über die Konsequenzen des Vertragsschlusses – insbesondere den Eintritt einer Sperrzeit – geirrt hat, lässt dies weder eine Ausnutzung unzureichender Sprachkenntnisse durch die Beklagte noch eine aus sonstigen Gründen als unfair zu bewertende Verhandlungssituation erkennen.

Entgegen der Ansicht der Berufung war die Beklagte im Anhörungsgespräch am 20. Oktober 2020 nicht verpflichtet, dem Kläger „Vernehmungsprotokolle“ der von ihr benannten Zeugen vorzulegen oder ihn auf eine „unklare Beweissituation“ hinzuweisen. Die Beklagte hatte den dringenden Verdacht, dass der Kläger am 17. Oktober 2020 aus der Retouren-Abteilung Ware entwendet hat. Sie hat dem Kläger Gelegenheit gegeben, sich zu den Verdachtsmomenten zu äußern. Die Beklagte war nicht verpflichtet, dem Kläger im Anhörungsgespräch ihr Beweismaterial vorzulegen. Der Arbeitgeber ist nicht gehalten, den Arbeitnehmer mit Belastungszeugen zu konfrontieren, oder ihm Gelegenheit zu geben, an Zeugenbefragungen teilzunehmen (vgl. BAG 27.11.2008 – 2 AZR 98/07 – Rn. 23 mwN).

Wie das Arbeitsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, wurde der Kläger am 20. Oktober 2020 bereits um 7:00 Uhr von seinem unmittelbaren Vorgesetzten mit dem Diebstahlsverdacht gegen ihn konfrontiert. Er konnte sich daher darauf einstellen, dass beim zweiten Gespräch mit dem Geschäftsführer um 9:00 Uhr erneut die Verdachtsmomente zur Sprache kommen. Er musste außerdem damit rechnen, dass er auf einen Aufhebungsvertrag angesprochen wird (so auch LAG Rheinland-Pfalz 12.05.2021 – 7 Sa 377/20 – Rn. 74 mwN).

Auch eine Gesamtbewertung der vom Kläger geschilderten Umstände, die den Abschluss des Aufhebungsvertrags vom 20. Oktober 2020 begleiteten, führt zu dem Ergebnis, dass die Beklagte die Grenzen fairen Verhandelns nicht überschritt.

III.

Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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