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Anfechtung Eigenkündigung bei Drohung mit fristloser Kündigung durch Arbeitsgeber

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 8 Sa 44/21 – Urteil vom 17.08.2021

1. Auf die Berufung der Klägerin hin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern, Auswärtige Kammern Pirmasens, vom 15.12.2020, 4 Ca 275/20, teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 574,32 EUR netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.07.2020 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Eigenkündigung der Klägerin, um Vergütungsansprüche, Schmerzensgeldansprüche, sowie – auch im Wegen der Widerklage- um Schadensersatzansprüche der Beklagten.

Die Klägerin war seit September 2007 bei der Beklagten als Verkäuferin in einer Bäckereifiliale, die an einen Lebensmittelmarkt angegliedert ist, beschäftigt. Nachdem es im Frühjahr 2020 in dieser Filiale zu Buchungen kam, die die Beklagte als ungewöhnlich einstufte, veranlasste diese eine Videoüberwachung der Filiale.

Am 18.06.2020 fand ein Personalgespräch statt, in dem die Klägerin mit Diebstahlsvorwürfen konfrontiert wurde. Die Einzelheiten des Gesprächsverlaufs sind zwischen den Parteien streitig. Die Klägerin unterzeichnete innerhalb des Termins ein „Selbständiges, konstitutives Schuldanerkenntnis“, ein mit „Anerkenntnis Fremdkosten“ überschriebenes Dokument, zudem eine „Zusatzregelung“, die folgenden Wortlaut enthält:

„Ich bin damit einverstanden, dass das mir noch zustehende Nettoentgelt bzw. die Ausbildungsvergütung für den laufenden Monat bzw. des Vormonats bis zum Austrittstermin ggf. unter Rückrechnung bereits vergüteter Sonderzuwendungen (Urlaubs- Weihnachtsgeld) in voller Höhe einbehalten und auf die Schuldsumme (aus selbständigem, konstitutivem Schuldanerkenntnis und Anerkenntnis Fremdkosten) angerechnet wird. Die Pfändungsfreigrenzen sind dabei nicht zu beachten. Den einbehaltenen Nettobetrag ersehe ich aus der Verdienstabrechnung.“

Weiter erstellte die Klägerin handschriftlich eine Eigenkündigung (fristlos, zum 18.06.2020) und unterzeichnete eine ebenfalls von ihr handschriftlich verfasste Stellungnahme, laut der sie „gegessen und nicht bezahlt, die Kasse manipuliert und nicht die richtigen Preise abgezogen sowie Trinkgeld eingesteckt“ habe.

Die Beklagte rechnete den Bruttolohn für Juni 2020 ab, zahlte den sich aus der Abrechnung ergebenden Nettobetrag von 574,32 EUR jedoch nicht an die Klägerin aus. Mit Schreiben vom 24.06.2020 erklärte die Klägerin die Anfechtung der von ihr am 18.06.2020 abgegebenen Erklärungen.

Erstinstanzlich hat die Klägerin vorgetragen, sie habe sich während des Personalgesprächs am 18.06.2020 unter Druck gefühlt und keinen klaren Gedanken fassen können. Nur aus diesem Grund habe sie die Dokumente unterzeichnet. Sie habe kein Fehlverhalten begangen.

Die Videoüberwachung sei unzulässig gewesen, zumal auch „persönliche Bereiche“ mitgefilmt worden seien. Aufgrund dessen stehe ihr Schmerzensgeld zu. Sie bestreite die ordnungsgemäße Betriebsratsbeteiligung hinsichtlich der Video-Überwachung. Auch seien die veranschlagten Kosten für die Überwachung und deren Auswertung zu hoch. Der Betrag sei weder ortsüblich noch angemessen.

Sie hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1.  festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 18.06.2020 und über den 23.06.2020 hinaus fortbesteht,

2. die Beklagte zu verurteilen, an sie 936,92 EUR brutto zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit abzüglich 40,- EUR netto,

3. die Beklagte zu verurteilen, an sie Schmerzensgeld in angemessener Höhe, jedoch mindestens 20.000,- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Widerklagend hat sie beantragt, die Klägerin zu verurteilen, an sie 3.627,91 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen.

Die Klägerin hat weiter beantragt, die Widerklage abzuweisen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich vorgetragen, eine wirksame Anfechtung sei nicht erfolgt, da insbesondere keine widerrechtliche Drohung erfolgt sei. Das Arbeitsverhältnis sei daher wirksam beendet worden.

Die Videoüberwachung sei nicht anlasslos erfolgt, sondern man habe im April 2020 Hinweise über Unregelmäßigkeiten in der Filiale R. erhalten. Von der Loss Preventions Abteilung der Muttergesellschaft der Beklagten sei festgestellt worden, dass 110 Buchungen über jeweils einen Cent erfolgt seien und zudem auffällig viele Buchungen über 0,45 EUR. Auch seien übermäßig viele Sofort-Stornos unter der Kassen-Bedienernummer der Klägerin aufgetreten. Derartige geringfügige Buchungen deuteten erfahrungsgemäß darauf hin, dass diese missbräuchlich genutzt werden, um dem Kunden den regulären Verkaufspreis zu nennen und entsprechend zu kassieren, diesen aber nicht vollständig zu buchen und so den Restbetrag einzubehalten. Bei der Überprüfung der Videoaufzeichnung sei festgestellt worden, dass die Klägerin unter anderem am 20.05.2020 um 09:01 Uhr mehrere Brötchen verkauft habe, jedoch nur ein einzelnes Brötchen registriert habe, das vom Kunden erhaltene Geld habe sie in ihrer linken Hand behalten und nicht in die Kassenschublade eingelegt. Beim Verlassen der Kasse habe sie das Geld eingesteckt. Ebenso habe die Klägerin am gleichen Tag um 17:03 Uhr drei Brötchen verkauft, jedoch nur eines registriert. Wegen der weiteren von der Beklagten dargelegten Fälle wird auf ihren Schriftsatz vom 06.08.2020 Bezug genommen. Nachdem der Klägerin im Personalgespräch ausschnittsweise die Videosequenzen gezeigt worden seien, habe sie das Fehlverhalten eingeräumt und die Dokumente unterzeichnet bzw. selbst erstellt. Für das Tätigwerden der beauftragten Revision seien Kosten in Höhe von 3.955,50 EUR entstanden. Hinzu habe die Klägerin eingeräumt, einen Schaden von 246,73 EUR verursacht zu haben und diesbezüglich ein wirksames Schuldanerkenntnis abgegeben. Es sei daher ein Gesamtschaden von 4.202,23 EUR entstanden, dessen nach Abzug der einbehaltenen 574,32 EUR noch verbleibenden Restbetrag von 3.627,91 EUR sie mit der Widerklage geltend macht.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme der Aufzeichnungen der Videoüberwachung.

Mit Urteil vom 15.12.2020 hat das Arbeitsgericht Kaiserslautern die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Das Gericht hat hierzu ausgeführt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Eigenkündigung wirksam beendet worden sei. Eine Anfechtung sei nicht wirksam erfolgt, da eine ausgesprochene Drohung jedenfalls nicht widerrechtlich gewesen sei. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme sei das Gericht überzeugt, dass die Klägerin tatsächlich Kundengelder unterschlagen habe. Die Videoaufzeichnungen seien verwertbar, da der Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin aufgrund überwiegender Interessen der Beklagten gerechtfertigt sei. Die Beklagte habe hierzu dargelegt, dass die Überwachung gerade im Hinblick auf Unregelmäßigkeiten bei den Kassenbuchungen vorgenommen worden sei. Die Klägerin habe weder dies noch die Betriebsratsanhörung substantiiert bestritten. Ein milderes Mittel als die verdeckte Videoüberwachung habe der Beklagten nicht zur Verfügung gestanden. Auf den Videos habe man sehen können, dass die Klägerin Geld annimmt und es in der Hand behält, ohne es in die Kasse zu legen oder die Kasse gar zu öffnen. Die Aufrechnung sei in zulässiger Weise erfolgt. Da der Anspruch der Beklagten aus unerlaubter Handlung der Klägerin entstanden sei, sei das Aufrechnungsverbot des § 394 BGB unbeachtlich. Dass ein Existenzminimum nicht verbleibe, habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Der Schadensersatzanspruch in Höhe von insgesamt 4.202,23 EUR stehe der Beklagen zu. Dieser ergebe sich unabhängig von dem Schuldanerkenntnis aus § 280 BGB, da die Klägerin nach Überzeugung der Kammer die ihr vorgeworfenen Taten begangen habe. Auch die Kosten der Videoüberwachung könne die Beklagte verlangen. Die Videoüberwachung sei rechtmäßig erfolgt und es handele sich nicht um nicht erstattungsfähige Vorsorgekosten. Auch habe die Klägerin nicht substantiiert, inwiefern die geltend gemachten Kosten überhöht gewesen seien. Der Anspruch auf Zahlung der im Schuldanerkenntnis genannten 246,73 EUR ergebe sich deswegen, dass dieses Schriftstück zumindest eine Beweislastumkehr bewirke, so dass die Klägerin einen geringeren entstandenen Schaden hätte vortragen müssen. Wegen der Einzelheiten der erstinstanzlichen Begründung wird ergänzend auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Kaiserslautern Bezug genommen.

Das Urteil wurde der Klägerin am 18.01.2021 zugestellt. Die Klägerin hat hiergegen mit am 17.02.2021 beim LAG Rheinland-Pfalz eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag Berufung eingelegt und diese mit am 18.03.2021 eingegangenen Schriftsatz vom gleichen Tag begründet.

Zur Begründung hat sie vorgetragen, das Arbeitsgericht sei zu Unrecht von einer Verwertbarkeit der Videoaufnahmen ausgegangen. Entscheidung des EGMR vom 17.10.2019 – Lopez Ribalda- führe zur Unverwertbarkeit. Selbst bei Verwertung der Videoaufnahmen sei jedoch kein strafbares Verhalten der Klägerin feststellbar, da hieraus nicht ersichtlich werde, dass die Klägerin Geld eingesteckt habe. Das Arbeitsgericht habe daher verkannt, dass die Klägerin sich in einer Drucksituation befunden habe und die Anfechtung wirksam erfolgt sei. Schmerzensgeldansprüche bestünden aufgrund der erheblichen Persönlichkeitsrechtsverletzung.

Zweitinstanzlich hat die Klägerin beantragt, unter Abänderung des am 15.12.2020 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Kaiserslautern, Auswärtige Kammern Pirmasens, Az. 4 Ca 275/20,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien über den 18.06.2020 und über den 23.06.2020 hinaus fortbesteht,

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 936,92 EUR brutto zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit abzüglich 40,- EUR netto,

3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Schmerzensgeld in angemessener Höhe, jedoch mindestens 20.000,- EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

4. die Widerklage abzuweisen.

Die Beklagte hat zweitinstanzlich beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern, Auswärtige Kammern Pirmasens, Az. 4 Ca 275/20 vom 15.12.2020 zurückzuweisen.

Eine widerrechtliche Drohung sei nicht erfolgt. Zutreffend habe das Arbeitsgericht festgestellt, dass die Videoaufzeichnungen verwertbar seien. Der Verdacht habe nicht anders aufgeklärt werden können. Dass auf den Videos eine Unterschlagung zu sehen sei, sei auch dadurch nachgewiesen, dass das Arbeitsgericht in zwei verschiedenen Kammerterminen mit zwei verschiedenen Besetzungen jeweils eine solche festgestellt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Im Berufungsverfahren hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung vom 17.08.2021 Teile der Videoaufzeichnungen in Augenschein genommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie erweist sich auch sonst als zulässig.

II. In der Sache hatte die Berufung der Klägerin nur in geringem Umfang Erfolg. Das Arbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Eigenkündigung beendet wurde, dass Schadensersatzansprüche der Beklagten bestehen und ein Schmerzensgeldanspruch der Klägerin nicht anzunehmen war. Lediglich hinsichtlich der Aufrechnung mit der Nettovergütung für den Monat Juni 2020 war das Urteil in geringem Umfang abzuändern.

1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund der außerordentlichen Eigenkündigung der Klägerin vom 18.06.2020 sein Ende gefunden hat. Die von der Klägerin erklärte Anfechtung ist nicht nach § 123 BGB berechtigt. Gemäß dieser Bestimmung kann derjenige, der widerrechtlich durch Drohung zur Abgabe einer Willenserklärung bestimmt ist, die Erklärung mit der Nichtigkeitsfolge des § 142 Abs. 1 BGB anfechten. Die maßgeblichen gesetzlichen Voraussetzungen hierzu liegen jedoch nicht vor.

a. Die Androhung des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung beenden zu wollen, falls der Arbeitnehmer nicht bereit sei, das Arbeitsverhältnis selbst zu beenden, kann die Ankündigung eines zukünftigen empfindlichen Übels darstellen (BAG, Urteil vom 09. Juni 2011 – 2 AZR 418/10; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2020 – 8 Sa 40/19). Unabhängig davon, ob vorliegend eine Drohung in diesem Sinne erfolgte, oder ob die Beklagte, wie sie vorträgt, lediglich die Beendigungsmöglichkeiten erörterte und mitteilte, für sie sei eine Zusammenarbeit nicht mehr vorstellbar, fehlt es an der Widerrechtlichkeit der Drohung mit einer Kündigung.

b.  Die Drohung mit einer außerordentlichen – arbeitgeberseitigen- Kündigung ist nur widerrechtlich, wenn ein verständiger Arbeitgeber eine solche Kündigung nicht ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Die Widerrechtlichkeit der Kündigungsandrohung kann sich regelmäßig nur aus der Inadäquanz von Mittel und Zweck ergeben. Hat der Drohende an der Erreichung des verfolgten Zwecks kein berechtigtes Interesse oder ist die Drohung nach Treu und Glauben nicht mehr als angemessenes Mittel zur Erreichung dieses Zwecks anzusehen, ist die Drohung widerrechtlich.

Nicht erforderlich ist, dass sich die angedrohte Kündigung, wenn sie ausgesprochen worden wäre, in einem Kündigungsschutzprozess als rechtsbeständig erwiesen hätte. Von dem Arbeitgeber kann nicht verlangt werden, dass er bei seiner Abwägung generell die Beurteilung des Tatsachengerichts “trifft”. Nur wenn der Arbeitgeber unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls davon ausgehen muss, die angedrohte Kündigung werde im Falle ihres Ausspruchs einer arbeitsgerichtlichen Überprüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht standhalten, darf er die außerordentliche Kündigungserklärung nicht in Aussicht stellen, um damit den Arbeitnehmer zum Abschluss einer Beendigungsvereinbarung zu veranlassen. Dabei steht dem Tatsachengericht bei der Würdigung des festgestellten Sachverhalts unter dem Gesichtspunkt der von einem verständigen Arbeitgeber anzustellenden Erwägungen ebenso wie bei der Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe “wichtiger Grund” (§ 626 Abs. 1 BGB) und “sozial gerechtfertigt” (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG) ein Beurteilungsspielraum zu (BAG, Urteil vom 28. November 2007 – 6 AZR 1108/06; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2020 – 8 Sa 40/19).

Der Anfechtungsprozess ist nicht wie ein Kündigungsschutzprozess zu führen. Vielmehr trägt der anfechtende Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für sämtliche Voraussetzungen einer wirksamen Anfechtung. Er hat deshalb die Tatsachen vorzutragen und ggf. zu beweisen, welche die angedrohte außerordentliche Kündigung als widerrechtlich erscheinen lassen. Die Klägerin muss darlegen und beweisen, dass die Beklagte als verständiger Arbeitgeber nicht annehmen durfte, die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses sei unzumutbar und deshalb die Kündigung gerechtfertigt. Da es sich dabei jedoch um einen Negativbeweis handelt, genügt hierfür zunächst eine entsprechende pauschale Behauptung. Wegen der Schwierigkeiten des Negativbeweises ist von der Beklagten als Anfechtungsgegnerin nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast das substantiierte Bestreiten der negativen Tatsache unter Darlegung der für das Positive sprechenden Tatsachen und Umstände zu verlangen. Die Beklagte hat damit im Einzelnen darzulegen, dass sie in vertretbarer Weise einen Kündigungsgrund annehmen durfte. Nur die von der Beklagten in diesem Zusammenhang vorgetragenen Umstände braucht die beweispflichtige Klägerin dann zu widerlegen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2020 – 8 Sa 40/19). Erfolgt im Rahmen des Anfechtungsprozesses eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes, die auch dem Arbeitgeber im Zeitpunkt der Drohung zumutbar gewesen wäre, so spricht allein die Möglichkeit der weiteren Sachaufklärung – unabhängig von deren Ergebnis – für die Widerrechtlichkeit der Drohung. Maßgeblich ist also insoweit der objektiv mögliche und damit hypothetische Wissenstand des Arbeitgebers, der verantwortliche Ermittlungen angestellt hätte (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. September 2017 – 5 Sa 61/17; Urteil vom 24. Januar 2017 – 8 Sa 353/16).

c. In Anwendung dieser Grundsätze durfte die Beklagte – als verständige Arbeitgeberin- im vorliegenden Fall eine außerordentliche Kündigung ernsthaft in Erwägung ziehen.

Dies ergibt sich aus den der Beklagten zum Zeitpunkt des Personalgesprächs am 18.06.2020 vorliegenden Videoaufzeichnungen. Diese waren prozessual verwertbar.

aa. Ein Sachvortrags- oder Beweisverwertungsverbot wegen einer Verletzung des gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Partei kann sich im arbeitsgerichtlichen Verfahren aus der Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Prozessrechts ergeben (BAG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16; Urteil vom 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.10.2017, 7 Sa 407/16). Weder die ZPO noch das ArbGG enthalten Vorschriften zur prozessualen Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Erkenntnisse oder Beweise. Vielmehr gebieten der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) grundsätzlich die Berücksichtigung des Sachvortrags der Parteien und der von ihnen angebotenen Beweismittel. Dementsprechend bedarf es für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots einer besonderen Legitimation und gesetzlichen Grundlage. Dies gilt nicht anders für ein etwaiges Sachvortragsverwertungsverbot (BAG, Urteil vom 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.10.2017, 7 Sa 407/16).

Es greift dann kein Verwertungsverbot zugunsten des Arbeitnehmers ein, wenn der Arbeitgeber die betreffende Erkenntnis oder das fragliche Beweismittel im Einklang mit den einschlägigen datenschutzrechtlichen Vorschriften erlangt und weiterverwandt hat (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019, 2 AZR 426/18; Urteil vom 23. August 2018 – 2 AZR 133/18). Die Videoüberwachung und die Verwertung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse durch die Beklagte waren nach § 26 BDSG in der ab dem 25.05.2018 geltenden Fassung (§ 32 BDSG a.F.) zulässig.

Nach dieser Bestimmung dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses unter anderem dann erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist. Zur Beendigung gehört die Aufdeckung einer Pflichtverletzung, die die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann. Der Arbeitgeber darf deshalb alle Daten speichern und verwenden, die er benötigt, um die ihm obliegende Darlegungs- und Beweislast in einem potenziellen Kündigungsschutzprozess zu erfüllen (BAG, Urteil vom 23. August 2018 – 2 AZR 133/18; Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 681/16).

Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht.

Nach der von der Klägerin zitierten Rechtsprechung des EGMR (Urteile vom 17. Oktober 2019 – 1874/13, 8567/13 und vom 09. Januar 2018 – 1874/13, 8567/13 – [López Ribalda ua./Spanien] stellt bei dieser vorzunehmenden Interessenabwägung eine „berechtigte Privatheitserwartung“ des Betroffenen einen beachtlichen Faktor dar, der selbst dann zugunsten des Nichtverarbeitungsinteresses des Arbeitnehmers den Ausschlag geben kann, wenn das Verarbeitungsinteresse des Arbeitgebers hoch ist. So dürfen Arbeitnehmer grundsätzlich erwarten, dass besonders eingriffsintensive Maßnahmen nicht ohne einen durch Tatsachen begründeten Verdacht einer Straftat oder schweren Pflichtverletzung ergriffen werden und insbesondere nicht „ins Blaue hinein“ oder wegen des Verdachts bloß geringfügiger Verstöße eine heimliche Überwachung und ggf. „Verdinglichung“ von ihnen gezeigter Verhaltensweisen erfolgt. Diese Grundsätze berücksichtigt auch die Rechtsprechung des BAG (BAG, Urteil vom 31. Januar 2019 – 2 AZR 426/18; Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15; Urteil vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16).

bb. In Anwendung dieser Grundsätze durfte die Beklagte den Kassenbereich und den hinter der Kasse liegenden Arbeitsbereich filmen. Die damit verbundene Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten der Klägerin war verhältnismäßig.

(1)  Die Beklagte hat aus einem nicht willkürlichen Anlass ein legitimes Ziel verfolgt. Ihr lagen, wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, Anhaltspunkte vor, die auf eine nicht sachgemäße Nutzung der Kasse in Veruntreuungsabsicht hindeuteten. Es handelte sich um die mit den Anlagen B 5 bis B 9 dargestellte große Menge von „1 Cent- bzw. 0,45 EUR- Buchungen“, die auch nicht ohne weiteres als Versehen eingestuft werden können. Für die Beklagte lag daher ein Anlass vor, deren Hintergrund zu ermitteln. Dass die Klägerin hier noch nicht aufgrund ihrer Bedienernummer identifizierbar war, steht, wie das Arbeitsgericht zu Recht festgestellt hat, dem Überwachungsanlass nicht entgegen. Der Kreis der Verdächtigen muss zwar möglichst eingegrenzt sein, es ist aber nicht zwingend notwendig, die Maßnahme in einer Weise zu beschränken, dass von ihr ausschließlich Personen erfasst werden, bezüglich derer bereits ein konkretisierter Verdacht besteht (BAG, Beschluss vom 23. März 2021 – 1 ABR 31/19).

(2) Ein milderes Mittel hätte die Beklagte nicht wählen können, ohne dass dies weniger geeignet wäre. Eine offene Videoüberwachung hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass der betroffene Mitarbeiter das illegale Verhalten einstellt hätte und nicht hätte überführt werden können. Ein Testkauf mit einer nicht identifizierbaren Testperson hätte in Anbetracht der Einzelfallumstände auch keine annähernd gleiche Eignung innegehabt. Denn in der Bäckereifiliale findet eine große Anzahl von Verkaufsvorgängen statt, und auch nach dem Vortrag der Beklagten hat die Klägerin bei weitem nicht bei jedem dieser Vorgänge Manipulationen vorgenommen. Sie hat auch eine hohe Anzahl korrekter Verkaufsvorgänge durchgeführt, so dass die Wahrscheinlichkeit des Testkäufers, einen solchen unsachgemäßen Vorgang zu beobachten, nicht hoch gewesen wäre. Auch hätte er die Kasse und die Eingabe streng beobachten müssen, was die Verkäuferin möglicherweise irritiert hätte. Schließlich hätte er in weniger starkem Maße als bei einer Videoaufzeichnung die Manipulation beweisen können, bei einem Testkauf hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit Aussage gegen Aussage gestanden. Schließlich kommt hinzu, dass mehrere illegale Handlungen und Besonderheiten wie das In-der-Hand-Halten des Geldes nachgewiesen werden müssten, da bei der Vielzahl der Verkaufsvorgänge durchaus ein Versehen vorkommen kann und nicht jede Fehlbuchung zu Lasten der Beklagten in Bereicherungsabsicht geschehen muss.

(3) Die Überwachung war auch nicht etwa deswegen unverhältnismäßig, weil sie, wie die Klägerin es formuliert, „persönliche Bereiche“ (in räumlicher Hinsicht) betroffen hätte. Dies hat die Beklagte bestritten und die Klägerin hat dies nicht näher substantiiert. Gefilmt wurde nach den Angaben der Beklagten die Verkaufstheke und der unmittelbar hieran angrenzende Arbeitsraum, keine Toiletten oder Umkleideräume. Diese sind auch für andere Mitarbeiter zugänglich und nicht privat.

(4)  Schließlich folgt entgegen der Ansicht der Klägerin auch keine Unverwertbarkeit der Aufzeichnungen aus betriebsverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Die mögliche Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats, von Verfahrensregelungen in einer Betriebsvereinbarung oder von internen Regeln des Arbeitgebers für die Frage, ob ein Sachvortragsverwertungsverbot eingreift, ist irrelevant. Der Schutzzweck von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG gebietet die Annahme eines solchen Verwertungsverbots jedenfalls dann nicht, wenn die Verwendung und Verwertung eines Beweismittels und/oder daraus gewonnener, unstreitiger Informationen nach allgemeinen Grundsätzen zulässig ist. Der Sinn von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG besteht unter anderem darin, Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der betroffenen Arbeitnehmer durch bestimmte Verhaltenskontrollen des Arbeitgebers nur bei gleichberechtigter Mitbestimmung des Betriebsrats zuzulassen. Soweit die Norm – wenngleich kollektivrechtlich vermittelt – dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmer dient, sind die Schutzzwecke von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und die zivilprozessualen Grundsätze über ein mögliches (Beweis-)Verwertungsverbot identisch. Ist demnach eine Informations- bzw. Beweisverwertung nach allgemeinen Grundsätzen zulässig, besteht grundsätzlich auch kein darüberhinausgehendes Verwertungsverbot bei Missachtung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats oder bei einer nicht ausreichenden Einhaltung eines betriebsverfassungsrechtlichen Verfahrens (BAG, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 848/15; Urteil vom 20. Oktober 2016 – 2 AZR 395/15; LAG München, Urteil vom 21. August 2019 – 8 Sa 291/17). Diese Voraussetzung ist nach den vorausgegangenen Ausführungen im Streitfall erfüllt. Zudem fand eine Betriebsratsbeteiligung im Vorfeld der Videoüberwachung statt, anlässlich derer der Betriebsrat der Maßnahme zugestimmt hat.

Somit erwiesen sich die von der Beklagten erstellten Videoaufzeichnungen als verwertbar.

dd. Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen stand zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Beklagte als verständige Arbeitgeberin – gemessen an den obigen Grundsätzen- von einer für sie bestehenden fristlosen Kündigungsmöglichkeit ausgehen durfte und sich somit eine eventuell ausgesprochene Drohung nicht als widerrechtlich erweist und sich daher hieraus kein Anfechtungsgrund ableiten ließ.

Entgegen der Behauptung der Klägerin erkennt man auf den Videos, dass sie mehrfach angenommenes Geld nicht in die Kasse gelegt, sondern in der Hand gehalten und auch links neben der Kasse abgelegt hat. Wenn man auch nicht mit Sicherheit sehen kann, dass sie die Münzen dann jeweils in die Hosentasche gesteckt hat, so hat sie jedenfalls keinen ordnungsgemäßen Buchungs- und Abrechnungsvorgang vorgenommen. Sie tippte kleinere Beträge ein, als sie kassiert hat. Eine Kassendifferenz ergab sich hierdurch nicht, da der eingetippte dem eingelegten Betrag jeweils entsprach. Auch bestätigte das Video, dass Bonus-Karten anlasslos abgestempelt und eingebucht wurden. Hierdurch ergab sich ein Einnahmen-Überschuss, da die Eingabe einer Bonus-Karte Buchungsstornierungen erklärbar machte. Dass die Klägerin im hinteren Raum Bargeld in ihr Portemonnaie steckte, erhärtete einen eventuellen Verdacht. Diese Vorgehensweise könnte auch anders erklärbar sein, wobei die Klägerin hierfür im Verfahren keine Erklärung abgegeben hat.

Die Kammer hat berücksichtigt, dass bei der Vielzahl der Buchung kleinerer Summen auch Versehen vorkommen können. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass beispielsweise versehentlich statt drei Brezeln nur eine Brezel gebucht wird oder dass generell Backwaren durch ein Vergessen nicht registriert werden. Jedoch ergibt dies letztlich kein anderes Bild. Es ist unwahrscheinlich, dass bei dem Verkauf mehrerer gleicher Backwaren, wie etwa fünf Brötchen, regelmäßig nur eine geringere Menge, wie vorliegend ein Brötchen, eingebucht wird. Dies ist kein versehentliches Weglassen eines Postens, sondern eine inhaltlich andere Buchung. Anlässe, Münzen nicht in die Kasse zu legen, sondern in der Hand zu behalten oder links der Kasse abzulegen, erklären sich aus dem betrieblichen Ablauf nicht und auch nicht durch ein Versehen.

Aus dem Einwand der Klägerin, die Bluetooth-Einblendung des Kassendisplays sei möglicherweise nicht mit dem tatsächlichen Geschehensablauf zeitidentisch, ergibt sich keine Entlastung. Die Abbildungen des Displays waren stimmig mit den auf dem Video gezeigten Tätigkeiten. Das Display der Kasse passte jeweils zu dem, was die Klägerin tat. In zeitlicher Hinsicht erschien immer dann, wenn die Klägerin einen Betrag eintippte, auch eine Änderung auf dem Display. Auch inhaltlich war die Wiedergabe stimmig. Die Klägerin tippte etwa eine Bonus-Karte oder auch eine verkaufte Backware ein, und in dem gleichen Moment erschien auf dem Display die Buchung.

Daraus folgt, dass die Beklage am 18.06.2020 anlässlich des Personalgesprächs von einer Situation ausgehen durfte, die aus ihrer Sicht eine fristlose Kündigung rechtfertigen konnte bzw. bei der sie eine solche, was ausreicht, jedenfalls ernsthaft in Erwägung ziehen durfte. Ein Anfechtungsgrund liegt daher nicht vor.

ee.  Wie das Arbeitsgericht zutreffend angenommen hat, hat die Klägerin auch keinen anderen Anfechtungsgrund substantiiert vorgetragen. Ein Widerruf scheidet aus, ebenfalls liegt auch kein Anhaltspunkt für einen Verstoß der Beklagten gegen das Gebot fairen Verhandelns vor (BAG, Urteil vom 07. Februar 2019, 6 AZR 75/18).

Die Anfechtung ist unwirksam, so dass die Eigenkündigung das Arbeitsverhältniswirksam beendet hat.

2. Schmerzensgeldansprüche aufgrund der Rechtswidrigkeit der Überwachung sind nicht gegeben. Den hierauf gerichteten Antrag hat das Arbeitsgericht zu Recht abgewiesen, da sich die Überwachung als rechtmäßig erwies.

3.  Die Berufung war teilweise erfolgreich, insoweit, als dass eine Aufrechnungsmöglichkeit hinsichtlich des gesamten Gehalts für den Monat Juni 2020 durch das Arbeitsgericht angenommen wurde.

a. Ein Gegenanspruch der Beklagten besteht.

Die Beklagte kann die Klägerin auf Schadensersatz in der von ihr geltend gemachten Höhe in Anspruch nehmen. Die Berufungskammer folgt hierbei der zutreffend begründeten Entscheidung des Arbeitsgerichts und nimmt hierauf gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug.

Ergänzend wird, aufgrund der in der Kammerverhandlung vor dem Berufungsgericht erfolgten Inaugenscheinnahme der Videos, ausgeführt, dass auch die Berufungskammer die oben genannten Pflichtverletzungshandlungen bei der Inaugenscheinnahme erkennen konnte, was bereits oben dargestellt wurde. Die Inaugenscheinnahme wurde vor der Berufungskammer wiederholt, da die Klägerin zweitinstanzlich vorgetragen hatte, auf den Videos könne man keine Unterschlagungshandlungen sehen. In der Tat konnte man nicht mit eindeutiger Sicherheit sehen, dass die Kläger Geld in ihre Hosentaschen steckte und auch nicht, dass sie Münzen, die sie zuvor von Kunden angenommen hatte, in ihr Portemonnaie steckte, da hierzu die Aufzeichnungen zu ungenau waren. Man konnte jedoch sicher sehen, dass sie angenommenes Geld nicht in die Kasse gelegt, sondern beiseitegelegt bzw. es in ihrer Hand belassen hat. Auch die Vorgehensweise bei der Stempelung der nicht vom Kunden überreichten Bonuskarten, war, wie dargestellt, genau erkennbar. Hinzukommt, dass die Klägerin persönlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht auch keine Erklärung dazu abgeben konnte, wie sich die genannten Handlungen rechtfertigen ließen.

Hinsichtlich der weiteren Anspruchsvoraussetzungen, wird, wie ausgeführt, auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts gem. § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen. Ein Gegenanspruch der Beklagten in der vom Arbeitsgericht angenommenen Höhe von 4.202,23 EUR besteht.

b. Die Aufrechnung mit dem Netto-Anspruch der Klägerin war dennoch wegen eines Verstoßes gegen das Aufrechnungsverbot des § 394 BGB unzulässig.

aa. § 394 Satz 1 BGB schließt eine Aufrechnung gegen eine Forderung aus, soweit diese nicht der Pfändung unterworfen ist. Bei Arbeitseinkommen bestimmt sich der pfändbare Teil gemäß § 850 Abs. 1 ZPO nach Maßgabe der §§ 850a bis 850i ZPO. Zur Sicherung des Existenzminimums des Arbeitnehmers und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen regelt § 850c Abs. 1 ZPO einen unpfändbaren Grundbetrag. Er ist entsprechend den Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers gestaffelt und nach oben begrenzt. Für den Teil des Arbeitseinkommens, der diesen Grundbetrag übersteigt, greifen die weiteren Pfändungsbeschränkungen des § 850c Abs. 2 ZPO. Die Darlegungslast für die Voraussetzungen der Pfändungsfreiheit liegt beim Arbeitgeber (BAG, Urteil vom 17. Februar 2009 – 9 AZR 676/07; Urteil vom 05. Dezember 2002 – 6 AZR 569/01). Das Aufrechnungsverbot des § 394 Satz 1 BGB soll verhindern, dass dem Gläubiger der unpfändbaren Forderung die Geldmittel entzogen werden, die er zur Bestreitung seines Lebensunterhalts benötigt. Es dient mithin dem Schutz des Arbeitnehmers und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen. Die Sicherung ihrer Lebensgrundlage liegt zugleich im öffentlichen Interesse. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe soll vermieden werden. Dem Schädiger muss deshalb das Existenzminimum verbleiben, das in Anlehnung an § 850d ZPO unter Berücksichtigung sonstiger Einkünfte zu ermitteln ist (BAG, Urteil vom 18. März 1997 – 3 AZR 756/95).

bb. Zwar kann das Aufrechnungsverbot durch die Grundsätze von Treu und Glauben beschränkt sein. Die Berufung des Arbeitnehmers auf den Pfändungsschutz kann rechtsmissbräuchlich sein, wenn er Schadensersatz wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung zu leisten hat (BAG, Urteil vom 17. Februar 2009 – 9 AZR 676/07). Auch wenn die Klägerin ihre Pflichten vorsätzlich und in eigenem wirtschaftlichem Interesse verletzt hat, ist ihr gleichwohl der notwendige Selbstbehalt zu belassen. Auch in diesen Fällen ist eine Aufrechnung über die Grenzen des § 850 c ZPO hinaus nur bis zur Grenze des § 850 d ZPO möglich. Der Einwand der Arglist rechtfertigt es nicht, Schadensersatzansprüche des Arbeitgebers im wirtschaftlichen Ergebnis aus Mitteln der öffentlichen Hand zu befriedigen. Diesem schützenswerten Interesse ist genügt, wenn dem Arbeitnehmer das Existenzminimum verbleibt (BAG, Urteil vom 18.03.1997 – 3 AZR 756/95; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Februar 2016 – 1 Sa 164/15; LAG Hamm, Urteil vom 01. Dezember 2004, 18 Sa 795/04; BGH, Urteil vom 16.06.1993 – XII ZR 6/92; ErfK/Preis, 21. Aufl. 2021, BGB § 611a Rn. 451). Dem Arbeitnehmer muss ein Betrag zur Bestreitung des notwendigen Unterhalts verbleiben.

Da die Beklagte das gesamte Junigehalt nicht zur Auszahlung brachte, beachtete sie diese Vorgabe nicht und die Aufrechnung erweist sich als unzulässig.

cc. Dies gilt trotz der von der Klägerin unterzeichneten Zusatzregelung, die als „Aufrechnungsvertrag“ verstanden werden kann. Es verbleibt bei der Anwendung des § 394 Abs. 1 BGB. Ein solcher Aufrechnungsvertrag ist nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit möglich. Er bringt die Forderungen unmittelbar zum Erlöschen, sobald sie sich aufrechenbar gegenüberstehen. § 394 gilt auch für den Aufrechnungsvertrag. Eine solche Vereinbarung ist jedoch zulässig, wenn sie nach Fälligkeit der unpfändbaren Forderung geschlossen wird (ErfK/Preis, 21. Aufl. 2021, BGB § 611a Rn. 451 m.w.N.). Dies war vorliegend nicht der Fall. Die Vergütung für Juni 2020 war nicht fällig. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückt die spätere Fälligkeit der Vergütung zeitlich auch nicht nach vorne (ErfK/Preis, 21. Aufl. 2021, BGB § 614 Rn. 6).

Im Umfang der einbehaltenen 574,32 EUR netto war das Urteil daher abzuändern.

4. Der Widerklage war stattzugeben, da, wie ausgeführt, der Gegenanspruch der Beklagten besteht. Auch hierzu wird ergänzend gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts Bezug genommen. Eine Änderung der Höhe nach war im Hinblick auf die nicht als zulässig betrachtete Aufrechnung nicht erforderlich, da die Beklagte den einbehaltenen Betrag bei der Bezifferung der Widerklage in Abzug gebracht hatte, für den im Widerklageantrag angegebenen Betrag war dies somit ohne Auswirkung.

Die Berufung war daher im Übrigen zurückzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 72 ArbGG lagen nicht vor. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

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