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Arbeit auf Abruf und Arbeitszeitkonto: Wann der Chef Minusstunden wirklich verrechnen darf

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten hart, machen Überstunden, sammeln fleißig Plusstunden auf Ihrem Arbeitszeitkonto – und plötzlich sind sie weg. Einfach so verrechnet, weil Ihr Chef meint, Sie hätten in anderen Bereichen noch „Schulden“. Genau das passierte einem Feuerwehrmann am Flughafen Köln/Bonn. Sein Fall landete vor dem Bundesarbeitsgericht und wirft ein Schlaglicht auf ein komplexes Thema, das viele Arbeitnehmer betrifft: Wer darf wie über die Stunden auf Arbeitszeitkonten verfügen?

Ein Arbeitnehmer der Flughafenfeuerwehr klagte vor dem BGH zur Verrechnung des Zeitguthabens auf dem Stundenkonto
Arbeit auf Abruf: Was Arbeitgeber beim Verrechnen von Stunden mit Minuszeiten rechtlich beachten müssen – Der Fall eines Feuerwehrmanns einer Flughafenfeuerwehr vor dem BGH. | Symbolbild: KI generiertes Bild

Das Wichtigste: Kurz & knapp

  • Arbeitgeber dürfen ohne klare rechtliche Grundlage keine Plusstunden einfach mit Minusstunden verrechnen, besonders nicht über das Kalenderjahr hinaus.
  • Betroffen sind Beschäftigte mit Arbeitszeitkonten, vorwiegend im öffentlichen Dienst oder tarifgebundenen Unternehmen.
  • Praktisch heißt das: Ihre Mehrarbeit ist besser geschützt. Arbeitgeber können Guthaben nicht willkürlich kürzen, wenn Tarifverträge strengere Regeln setzen.
  • Hintergrund: Tarifverträge haben Vorrang vor Betriebsvereinbarungen. Betriebsräte und Arbeitgeber dürfen per Betriebsvereinbarung keine Regelungen treffen, die gegen Tarifverträge verstoßen.
  • Das Bundesarbeitsgericht urteilte am 4. Dezember 2024; das Urteil gilt für ähnliche Fälle bundesweit.

Quelle: Bundesarbeitsgericht Az. 5 AZR 277/23 vom 04.12.2024

    Arbeit auf Abruf, Stunden im Minus: Wenn der Chef eigenmächtig ins Zeitkonto greift – Ein Weckruf für Millionen Beschäftigte

    Der Wecker klingelt bei Herrn F., Leitstellendisponent bei der Flughafenfeuerwehr, oft zu Unzeiten. 24-Stunden-Dienste sind die Regel, oft kommen Sonderschichten, Fortbildungen oder freiwillige Einsätze hinzu. Über Jahre hat er so ein stattliches Guthaben auf seinem „Stundenkonto“ angesammelt – ein Polster für ruhigere Zeiten, dachte er.

    Doch dann die böse Überraschung: Zum Jahresende stellt er fest, dass sein Arbeitgeber einen erheblichen Teil seines Guthabens eigenmächtig mit Minusstunden auf einem anderen Konto, dem „Jahressoll-Zeitkonto“, verrechnet hat. Herr F. fühlt sich um den Lohn seiner Mehrarbeit betrogen. Sein Kampf um die verlorenen Stunden führte ihn durch alle Instanzen bis zum höchsten deutschen Arbeitsgericht in Erfurt.

    Was sind Arbeitszeitkonten überhaupt? Ein Blick hinter die Kulissen der Zeitwirtschaft

    Bevor wir tiefer in den Fall von Herrn F. eintauchen, müssen wir kurz klären, was Arbeitszeitkonten sind und warum sie in der modernen Arbeitswelt so verbreitet sind. Viele Arbeitnehmer kennen sie aus eigener Erfahrung, doch die rechtlichen Details sind oft unklar.

    Der Zweck: Flexibilität für beide Seiten?

    Im Grunde ist ein Arbeitszeitkonto wie ein virtuelles Konto, auf dem nicht Geld, sondern Arbeitszeit gebucht wird. Der Arbeitgeber legt eine vereinbarte Sollarbeitszeit fest (z. B. 40 Stunden pro Woche). Arbeitet ein Mitarbeiter mehr, entstehen Plusstunden (Guthaben). Arbeitet er weniger, entstehen Minusstunden (Schulden).

    Der Hauptgrund für die Einführung solcher Konten ist Flexibilität:

    Für Arbeitgeber: Sie können auf Auftragsschwankungen reagieren, ohne sofort Überstundenzuschläge zahlen oder Kurzarbeit anmelden zu müssen. Bei hoher Auslastung arbeiten die Mitarbeiter mehr, bei niedriger bauen sie das Guthaben wieder ab.

    Für Arbeitnehmer: Sie können (theoretisch) in bestimmten Grenzen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten und durch angesammelte Plusstunden auch mal längere Freistellungsphasen realisieren.

    Nicht jedes Konto ist gleich: Girokonto vs. Sparkonto für Arbeitszeit

    Die Praxis und die rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden grob zwei Arten von Zeitkonten, auch wenn die Namen in den Betrieben variieren können:

    • Ausgleichskonten (wie ein „Girokonto“): Diese dienen dazu, Schwankungen innerhalb eines festgelegten, meist kürzeren Zeitraums (z. B. Monat, Quartal, oft maximal ein Jahr) auszugleichen. Am Ende dieses Ausgleichszeitraums sollte das Konto idealerweise bei null stehen. Besteht noch ein Guthaben, muss es meist ausgezahlt oder in Freizeit gewährt werden. Bestehen Schulden, müssen sie oft nachgearbeitet werden oder können (in Grenzen) mit dem Lohn verrechnet werden.
    • Langzeit- oder Wertkonten („Sparkonto“ oder „Lebensarbeitszeitkonto“): Hier können Guthaben über einen längeren Zeitraum, oft über Jahre, angespart werden. Ziel ist meist, diese Guthaben für größere Auszeiten zu nutzen, etwa für ein Sabbatical, eine frühere Rente oder Weiterbildungen. Wichtig: Für solche Langzeitkonten gelten oft strengere gesetzliche oder tarifliche Anforderungen, insbesondere zum Schutz des Guthabens vor Insolvenz des Arbeitgebers.

    Im Fall von Herrn F. gab es bei der Flughafenfeuerwehr Köln/Bonn offenbar beide Arten von Konten nebeneinander, was die Sache besonders komplex machte.

    Der Streitfall: Zwei Konten, ein Problem – Die Verrechnungspraxis am Flughafen

    Herr F. war nicht irgendein Mitarbeiter, sondern Leitstellendisponent bei der Flughafenfeuerwehr. Sein Arbeitsverhältnis unterlag nicht nur dem allgemeinen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – Bereich Flughäfen (TVöD-F), sondern auch einem speziellen Haustarifvertrag für das Feuerwehrpersonal (TV Feuerwehrpersonal). Zusätzlich gab es noch eine Betriebsvereinbarung (BV Arbeitszeit), die die Details der Arbeitszeitkonten regelte. Ein komplexes Geflecht aus Regeln.

    Das System im Betrieb: Sollkonto und Stundenkonto

    Laut der BV-Arbeitszeit gab es im Wesentlichen zwei relevante Konten:

    • Das Jahressoll-Zeitkonto (Sollkonto): Hier wurde die jährlich zu leistende Anzahl an Schichten erfasst. Jede geleistete Schicht reduzierte das Soll. Wenn am Jahresende weniger Schichten als gefordert geleistet wurden, entstand hier ein Minus.
    • Das Stundenkonto: Auf diesem separaten Konto landeten zusätzlich geleistete Stunden, z. B. aus:
      • Sogenannten „Freiwilligen Diensten“ oder „Verfügungsdiensten“ bei Unterschreitung der Wachstärke.
      • Tages- und Splittdiensten (z. B. Fortbildungen).
      • Speziellen Gutschriften (z. B. für Nachtschichten für Leitstellendisponenten).

    Hier sammelte Herr F. über die Jahre ein erhebliches Plus an.

    Der Knackpunkt: Die automatische Verrechnung zum Jahresende

    Die BV-Arbeitszeit enthielt nun zwei entscheidende Klauseln:

    § 4 Abs. 4 Satz 1 BV Arbeitszeit: Diese Klausel besagte, dass die Salden der Zeitkonten zum 31.12. automatisch ins Folgejahr übertragen werden. Das klingt erst mal praktisch, suggeriert aber eine Art „Ansparkonto“.

    § 4 Abs. 5 Satz 2 BV Arbeitszeit: Diese Regelung besagte, dass angesammelte 16 Stunden auf dem Stundenkonto als eine Schicht vom Sollkonto abgezogen werden können.

    Basierend auf diesen Regelungen (und einer jahrelangen Praxis) nahm der Arbeitgeber jeweils zum Jahresende eine automatische Verrechnung vor: Hatte ein Mitarbeiter wie Herr F. ein Plus auf dem Stundenkonto, aber ein Minus auf dem Sollkonto, wurden Stunden vom Pluskonto genommen, um das Minuskonto auszugleichen. Dies geschah ohne explizite Zustimmung der betroffenen Mitarbeiter.

    Herr F. wehrte sich dagegen. Er argumentierte:

    • Eine solche Verrechnung dürfe nur mit seiner Zustimmung erfolgen.
    • Der Arbeitgeber verhindere aktiv, dass er sein Soll erfüllt, indem er Mitarbeiter mit hohen Guthaben weniger einplant, nur um die Stundenkonten abzubauen.
    • Speziell seine Nachtschicht-Gutschriften als Leitstellendisponent dürften gar nicht verrechnet werden, da der TV Feuerwehrpersonal hierfür eine Auszahlung oder Einbringung in ein Lebensarbeitszeitkonto vorsieht.

    Die Fronten waren verhärtet. Das Arbeitsgericht Köln wies die Klage zunächst ab, das Landesarbeitsgericht Köln gab Herrn F. jedoch Recht. Der Arbeitgeber ging in Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG).

    Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Ein Dämpfer für die Betriebsvereinbarung

    Das BAG rollte den Fall komplett neu auf und fällte am 4. Dezember 2024 eine differenzierte Entscheidung (Az. 5 AZR 277/23), die weitreichende Konsequenzen hat.

    Antrag 1: Abstrakte Frage ohne konkretes Recht – Unzulässig!

    Zunächst hatte Herr F. beantragt festzustellen, dass eine Verrechnung generell ohne seine Zustimmung unzulässig sei. Diesen Antrag kippte das BAG sofort als unzulässig. Warum? Weil Gerichte keine abstrakten Rechtsgutachten erstellen sollen. Eine Feststellungsklage muss sich auf ein konkretes Rechtsverhältnis beziehen (z.B. „Steht mir ein Guthaben von X Stunden zu?“). Die Frage, ob eine Verfahrensweise generell erlaubt ist, ist zu abstrakt.

    Laien-Erklärung: Das ist, als würde man vor Gericht fragen: „Darf mein Nachbar generell laut Musik hören?“ statt „Darf mein Nachbar jetzt gerade um 3 Uhr nachts so laut Musik hören, dass ich nicht schlafen kann?“. Gerichte entscheiden konkrete Streitigkeiten, keine Grundsatzfragen im luftleeren Raum.

    Der Kern des Problems: Darf eine Betriebsvereinbarung den Tarifvertrag aushebeln?

    Die zentrale Frage war: Durfte die BV Arbeitszeit die automatische Übertragung der Salden ins nächste Jahr und die damit verbundene Verrechnungspraxis überhaupt regeln? Hier kam das Prinzip des Tarifvorrangs ins Spiel.

    Was ist der Tarifvorrang?

    In Deutschland gilt eine klare Hierarchie im Arbeitsrecht:

    • Gesetze (z.B. Arbeitszeitgesetz, Kündigungsschutzgesetz)
    • Tarifverträge (TV): Gelten, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist (z.B. Mitglied im Arbeitgeberverband) und der Arbeitnehmer Mitglied der Gewerkschaft ist, oder wenn der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde, oder – wie hier – wenn der Arbeitsvertrag auf den TV verweist.
    • Betriebsvereinbarungen (BV): Werden zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat geschlossen.
    • Arbeitsvertrag
    • Weisungsrecht des Arbeitgebers

    Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) legt fest:

    § 77 Abs. 3 BetrVG: Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Ausnahme: Der Tarifvertrag erlaubt ausdrücklich abweichende Regelungen (sog. Öffnungsklausel).

    § 87 Abs. 1 BetrVG: Der Betriebsrat hat zwar Mitbestimmungsrechte (z.B. bei Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Verteilung der Arbeitszeit), aber nur, soweit keine tarifliche Regelung besteht (Tarifvorbehalt).

    Der Konflikt im Detail: Ansparkonto versus Ausgleichskonto

    Das BAG analysierte nun die Regelungen des TVöD-F und der BV Arbeitszeit:

    TVöD-F: Dieser Tarifvertrag sieht in § 6 Abs. 2 einen Ausgleichszeitraum von bis zu einem Jahr vor. Das bedeutet: Innerhalb eines Kalenderjahres sollen Plus- und Minusstunden ausgeglichen werden. Für Konten, die Guthaben über das Jahr hinaus speichern („Ansparkonten“), gibt es in § 10 TVöD-F besondere, strenge Regeln (z.B. Schriftform, Insolvenzsicherung).

    BV Arbeitszeit: Die Regelung in § 4 Abs. 4 Satz 1 (automatische Übertragung ins Folgejahr) versuchte genau das: Sie schuf faktisch ein Ansparkonto, ohne aber die strengen Voraussetzungen des § 10 TVöD-F zu erfüllen.

    Das Urteil des BAG: Die Regelung in § 4 Abs. 4 Satz 1 BV Arbeitszeit ist unwirksam, weil sie gegen den Tarifvorbehalt verstößt. Die Betriebsparteien (Arbeitgeber und Betriebsrat) dürfen nicht einfach per Betriebsvereinbarung ein Ansparkonto einführen, wenn der Tarifvertrag dafür klare (und hier nicht eingehaltene) Bedingungen vorgibt und keine Öffnungsklausel existiert, die eine solche abweichende Regelung erlaubt.

    Folge: Da die automatische Übertragung ins Folgejahr unwirksam war, konnten darauf basierende Verrechnungen zum Jahresende ebenfalls nicht rechtmäßig sein. Das Konto hätte nach den tariflichen Vorgaben (als reines Ausgleichskonto) am Jahresende „abgerechnet“ werden müssen – entweder durch Auszahlung des Guthabens, Gewährung von Freizeit oder allenfalls Verfall (was rechtlich aber auch problematisch sein kann).

    Analogie: Stellen Sie sich vor, ein Mietvertrag (wie der TV) legt fest, dass die Miete immer bis zum 3. des Monats zu zahlen ist. Eine Hausordnung (wie die BV), die der Vermieter und der Hausmeister vereinbaren, kann dann nicht einfach festlegen, dass die Miete erst am 15. fällig wird. Der Mietvertrag hat Vorrang.

    Die Verrechnung innerhalb des Jahres: Grundsätzlich erlaubt, aber…

    Was war aber mit der Verrechnungsbefugnis aus § 4 Abs. 5 BV Arbeitszeit („16 Stunden können abgezogen werden“)? Hier urteilte das BAG differenzierter:

    Grundsätzlich erlaubt die BV Arbeitszeit dem Arbeitgeber, innerhalb des Kalenderjahres (also des wirksamen tariflichen Ausgleichszeitraums) Stunden vom Stundenkonto zur Deckung von Minusstunden auf dem Sollkonto zu verwenden. Diese Regelung selbst verstößt nicht per se gegen den Tarifvertrag, solange sie sich auf den Ausgleich innerhalb des Jahres bezieht.

    Aber: Diese Befugnis galt eben nur innerhalb des Jahres. Die jahresübergreifende Verrechnung zum 31.12., die auf der unwirksamen Übertragungsregel basierte, war unzulässig.

    Sonderfall Leitstellendispatcher: Tarif schlägt BV klar

    Besonders klar war die Sache bei den speziellen Nachtschicht-Gutschriften für Leitstellendisponenten wie Herrn F. Hier galt § 4 des TV Feuerwehrpersonal, der vorsah:

    „Den Leitstellendisponenten wird pro geleisteter Nachtschicht (…) eine Stunde auf dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Der entsprechende Betrag kann außerdem auf Verlangen der Beschäftigten ausgezahlt, oder aber in ein Lebensarbeitszeitkonto eingebracht werden.“

    Das BAG stellte fest: Diese spezielle tarifliche Regelung hat absoluten Vorrang (Grundsatz: lex specialis derogat legi generali – das spezielle Gesetz verdrängt das allgemeine). Diese Stunden hätten niemals auf das allgemeine Stundenkonto der BV gebucht und schon gar nicht zur Verrechnung mit dem Sollkonto herangezogen werden dürfen. Sie waren zweckgebunden für Auszahlung oder das (echte) Lebensarbeitszeitkonto.

    Das bedeutet: Zumindest diese Stunden muss der Arbeitgeber Herrn F. nachträglich korrekt gutschreiben bzw. auf Verlangen auszahlen.

    Der Ball liegt wieder beim Landesarbeitsgericht: was nun, Herr F.?

    Obwohl das BAG die Kernargumentation von Herrn F. bezüglich der Unwirksamkeit der jahresübergreifenden Verrechnung stützte, war sein Antrag auf Feststellung eines konkreten Guthabens von 1.234,07 Stunden (Stand 1.01.2023) nicht erfolgreich. Warum?

    Die Berechnung des Landesarbeitsgerichts basierte auf der Annahme, die Übertragungsregel der BV sei wirksam – was sie laut BAG nicht ist.

    Ein reines „Ansparkonto“ nach der BV gab es somit rechtlich nicht.

    Das BAG verwies die Sache daher an das Landesarbeitsgericht Köln zurück. Dort muss nun neu gerechnet werden:

    • Wie hoch war das Guthaben von Herrn F. am Ende jedes einzelnen Jahres (2020, 2021, 2022)?
    • Welche Verrechnungen fanden innerhalb des jeweiligen Jahres statt und waren diese nach § 4 Abs. 5 BV Arbeitszeit (potenziell wirksam) gedeckt?
    • Welche Stunden stammten aus den geschützten Nachtschicht-Gutschriften (§ 4 TV Feuerwehrpersonal) und dürfen gar nicht verrechnet werden?
    • Was hätte mit den am Jahresende verbleibenden, nicht wirksam verrechneten Guthaben geschehen müssen? (Vermutlich: Auszahlung oder Übertragung in ein echtes, tarifkonformes Lebensarbeitszeitkonto, falls vorhanden und vereinbart).

    Das BAG gab Herrn F. auch den Hinweis, dass er möglicherweise seine Klage ändern muss: Statt der Feststellung eines Kontostandes sollte er nun besser direkt auf Auszahlung des Wertes der zu Unrecht verrechneten oder nicht korrekt behandelten Stunden klagen.

    Für Herrn F. ist der Kampf also noch nicht vorbei. Aber er hat nun klare Leitplanken vom höchsten deutschen Arbeitsgericht an die Hand bekommen, welche Ansprüche ihm zustehen könnten.

    Was bedeutet dieses Urteil für Millionen Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber?

    Die Entscheidung des BAG hat Signalwirkung weit über den Kölner Flughafen hinaus. Sie betrifft potenziell alle Betriebe, in denen Arbeitszeitkonten über Betriebsvereinbarungen geregelt sind, obwohl ein Tarifvertrag gilt.

    Warnsignal für Arbeitgeber: Betriebsvereinbarungen auf dem Prüfstand

    Prüfpflicht: Arbeitgeber müssen dringend ihre Betriebsvereinbarungen zu Arbeitszeitkonten auf Konformität mit geltenden Tarifverträgen überprüfen. Stimmen Ausgleichszeiträume überein? Werden tarifliche Vorgaben für Langzeitkonten eingehalten? Gibt es Öffnungsklauseln?

    Vorsicht bei Verrechnungen: Eigenmächtige Verrechnungen, insbesondere über Jahresgrenzen hinweg oder unter Missachtung spezieller tariflicher Regelungen für bestimmte Stunden (Zuschläge etc.), sind hochriskant.

    Risiko Nachzahlungen: Stellt sich heraus, dass eine BV-Regelung unwirksam ist und Verrechnungen unzulässig waren, drohen erhebliche Nachzahlungsansprüche von Arbeitnehmern – potenziell für mehrere Jahre rückwirkend (unter Beachtung von Verjährungs- und Ausschlussfristen).

    Augen auf für Arbeitnehmer: Ihre Rechte bei Arbeitszeitkonten

    Informieren: Kennen Sie die Regelungen in Ihrem Arbeitsvertrag, der geltenden Betriebsvereinbarung UND des möglicherweise anwendbaren Tarifvertrags? Fordern Sie diese Dokumente ggf. beim Betriebsrat oder Arbeitgeber an.

    Kontostand prüfen: Überprüfen Sie regelmäßig Ihre Arbeitszeitkonto-Auszüge. Sind Buchungen nachvollziehbar? Gibt es unerklärliche Verrechnungen, insbesondere zum Jahresende?

    Tarifvorrang beachten: Ihr Arbeitgeber kann sich nicht auf eine Betriebsvereinbarung berufen, wenn diese klar gegen einen für Sie geltenden Tarifvertrag verstößt. Der Tarifvertrag ist (in der Regel) die stärkere Regelung.

    Spezielle Gutschriften: Achten Sie darauf, wie Zuschläge (Nacht-, Sonn-, Feiertagsarbeit) oder andere tariflich gesondert geregelte Stunden auf Ihrem Konto behandelt werden. Werden sie korrekt gebucht und ggf. gesondert vergütet oder dürfen sie überhaupt verrechnet werden?

    Beratung suchen: Bei Unklarheiten oder dem Verdacht auf unzulässige Verrechnungen sollten Sie sich beraten lassen – vom Betriebsrat, Ihrer Gewerkschaft oder einem Fachanwalt für Arbeitsrecht.

    Rolle des Betriebsrats: Partner mit Grenzen

    Regelungskompetenz kennen: Betriebsräte müssen sich ihrer Grenzen bewusst sein. Sie können Arbeitsbedingungen nur gestalten, soweit kein Tarifvertrag entgegensteht oder dieser eine Öffnungsklausel enthält.

    Tarifkonformität sicherstellen: Beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu Arbeitszeitkonten müssen Betriebsräte sicherstellen, dass diese mit dem geltenden Tarifrecht vereinbar sind, um spätere Unwirksamkeit zu vermeiden.

    Aufklärung: Betriebsräte sollten die Belegschaft über die geltenden Regelungen der Arbeitszeitkonten und die Bedeutung des Tarifvorrangs aufklären.

    Fazit: Klarheit im Dschungel der Zeitkonten – aber der Teufel steckt im Detail

    Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist ein wichtiger Schritt zu mehr Rechtssicherheit im Umgang mit Arbeitszeitkonten. Es stärkt die Position von Arbeitnehmern, deren Zeitguthaben durch fragwürdige Betriebsvereinbarungs-Regelungen gefährdet sind, und unterstreicht die Bedeutung des Tarifvorrangs.

    Für Herrn F. und viele andere bedeutet dies: Der Arbeitgeber darf nicht willkürlich in Arbeitszeitkonten eingreifen und diese nach Belieben verrechnen, wenn höherrangiges Recht (wie ein Tarifvertrag) dem entgegensteht. Guthaben aus Mehrarbeit sind in der Regel Lohnansprüche und dürfen nicht einfach „verschwinden“.

    Gleichzeitig zeigt der Fall aber auch die Komplexität der Materie. Ob eine Verrechnung zulässig ist oder nicht, hängt von einem genauen Blick auf die spezifischen Regelungen im Gesetz, im geltenden Tarifvertrag und in der Betriebsvereinbarung ab. Arbeitnehmer wie Arbeitgeber sind gut beraten, die für sie geltenden Regeln genau zu kennen und im Zweifelsfall rechtlichen Rat einzuholen. Denn am Ende geht es um hart erarbeitete Zeit – und damit um bares Geld.

    FAQ: Wichtige Fragen zur Verrechnung von Arbeitszeitkonten

    1. Darf mein Arbeitgeber generell Plusstunden von einem Konto mit Minusstunden auf einem anderen Konto verrechnen?

    Das kommt darauf an. Eine Betriebsvereinbarung oder ein Tarifvertrag kann eine solche Verrechnung erlauben, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Das BAG-Urteil zeigt: Eine Verrechnung über den im Tarifvertrag festgelegten Ausgleichszeitraum (oft ein Jahr) hinaus ist problematisch, wenn die Regelung zur Übertragung der Salden unwirksam ist. Eine Verrechnung innerhalb des Ausgleichszeitraums kann zulässig sein, wenn die Betriebsvereinbarung dies vorsieht und sie nicht gegen höherrangiges Recht verstößt.

    2. Muss ich einer Verrechnung meiner Plusstunden zustimmen?

    Nicht unbedingt. Wenn eine wirksame Regelung (in TV oder BV) dem Arbeitgeber das Recht zur einseitigen Verrechnung gibt, braucht er Ihre Zustimmung nicht. Ist die Regelung aber unwirksam (z.B. weil sie gegen einen Tarifvertrag verstößt), darf der Arbeitgeber nicht ohne Ihre Zustimmung verrechnen – bzw. die Verrechnung ist dann rechtswidrig.

    3. Was ist der Unterschied zwischen einem Ausgleichskonto und einem Langzeitkonto (Ansparkonto)?

    Ein Ausgleichskonto dient dazu, Arbeitszeitschwankungen innerhalb eines kürzeren Zeitraums (meist bis zu einem Jahr) auszugleichen. Es sollte am Ende dieses Zeitraums möglichst „genullt“ werden (z.B. durch Auszahlung/Freizeit). Ein Langzeitkonto dient dem Ansparen von Guthaben über Jahre hinweg (z.B. für Sabbatical, frühere Rente). Dafür gelten oft strengere Regeln, insbesondere zum Insolvenzschutz. Eine einfache Betriebsvereinbarung kann nicht ohne Weiteres ein Langzeitkonto schaffen, wenn der Tarifvertrag dies nicht vorsieht oder andere Regeln dafür aufstellt.

    4. Mein Betrieb hat einen Tarifvertrag UND eine Betriebsvereinbarung zu Arbeitszeitkonten. Was gilt?

    Der Tarifvertrag hat grundsätzlich Vorrang (Tarifvorrang). Die Betriebsvereinbarung darf dem Tarifvertrag nicht widersprechen, es sei denn, der Tarifvertrag erlaubt ausdrücklich abweichende Regelungen (Öffnungsklausel). Wenn die BV eine Regelung trifft, die vom TV abweicht oder eine Lücke füllt, die der TV bewusst offen gelassen hat, kann sie gültig sein. Aber wenn der TV eine Frage abschließend regelt (wie die Bedingungen für Ansparkonten im besprochenen Fall), ist eine widersprechende BV-Regelung unwirksam.

    5. Was kann ich tun, wenn ich glaube, dass mein Arbeitgeber mein Zeitguthaben unzulässig verrechnet hat?

    Prüfen: Schauen Sie sich Ihre Lohnabrechnungen und Zeitkontoauszüge genau an.

    Grundlagen anfordern: Bitten Sie Betriebsrat oder Arbeitgeber um Einsicht in die relevante Betriebsvereinbarung und (falls zutreffend) den Tarifvertrag.

    Ansprechen: Suchen Sie das Gespräch mit der Personalabteilung oder Ihrem Vorgesetzten und bitten Sie um Klärung.

    Fristen beachten: Achtung! Oft gibt es Ausschlussfristen in Arbeits- oder Tarifverträgen. Das heißt, Sie müssen Ihre Ansprüche (z.B. auf Korrektur oder Auszahlung) innerhalb einer bestimmten Frist (oft nur 3 oder 6 Monate) schriftlich geltend machen, sonst verfallen sie!

    Beratung holen: Wenden Sie sich an Ihren Betriebsrat, Ihre Gewerkschaft oder einen Fachanwalt für Arbeitsrecht.

    6. Was passiert mit speziellen Zuschlägen (Nachtarbeit, Sonntag etc.), wenn sie auf dem Zeitkonto landen?

    Hier ist besondere Vorsicht geboten. Oft sehen Tarifverträge oder Gesetze vor, dass Zuschläge ausgezahlt* werden müssen. Wenn sie dennoch (ggf. mit Zustimmung) in Freizeit umgewandelt und auf ein Zeitkonto gebucht werden, muss sichergestellt sein, dass ihr Wert (inklusive Zuschlag) erhalten bleibt. Das BAG-Urteil zeigt auch, dass spezielle tarifliche Regelungen für bestimmte Gutschriften Vorrang haben und diese ggf. gar nicht verrechnet werden dürfen.

    7. Was passiert mit meinem Zeitguthaben, wenn ich kündige oder gekündigt werde?

    Normalerweise muss das Arbeitszeitkonto bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgeglichen werden. Ein bestehendes Guthaben ist in der Regel auszuzahlen. Bestehen Minusstunden, kann der Arbeitgeber diese unter bestimmten Voraussetzungen mit dem letzten Gehalt verrechnen, aber nur bis zur Pfändungsfreigrenze. Die genauen Regelungen finden sich meist im Arbeitsvertrag, der BV oder dem TV.

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