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Arbeitnehmeranhörung – Verdachtskündigung

LAG Berlin-Brandenburg, Az.: 10 Sa 378/16, Urteil vom 04.08.2016

I.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Januar 2016 – 2 Ca 544/15 – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die beiden Schreiben vom 23. April 2015 weder als außerordentliche Kündigung zum 27. April 2015 noch als ordentliche Kündigung zum 30. November 2015 aufgelöst worden ist.

II.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

III.

Der Gebührenwert des Berufungsverfahrens wird auf 9.600,00 EUR festgesetzt.

IV.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien aus verhaltensbedingten Gründen sowohl außerordentlich wie auch ordentlich, sowohl als Tat- wie auch als Verdachtskündigung.

Die Beklagte ist ein mittelständisches genossenschaftlich organisiertes Unternehmen, welches hauptsächlich im Bereich Heizung und Sanitär tätig ist. Vorstände der Beklagten sind die Herren G. und R., Aufsichtsratsvorsitzender ist Herr B.. Bei der Beklagten werden regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, im Betrieb gibt es einen Betriebsrat.

Die Klägerin ist 54 Jahre alt (geb. ….. 1961), mit einem Grad der Behinderung von 80 schwerbehindert und seit dem 1. Januar 1995 bei der Beklagten mit einem durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen von 3.200,– EUR als Buchhalterin beschäftigt. Die Aufgaben der Klägerin bestanden unter anderem aus der Kontrolle und Überwachung aller finanziellen und buchhalterischen Vorgänge im Sinne des HGB. Die neben der Klägerin in der Lohnbuchhandlung beschäftigte Arbeitnehmerin Vogel hatte ihr Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 31. Juli 2014 beendet. Insgesamt waren in der Buchhaltung zwei Arbeitnehmerinnen beschäftigt, nämlich neben der Lohnbuchhalterin die Klägerin als sogenannte Hauptbuchhalterin. Zwischen diesen beiden gab es eine wechselseitige Vertretung.

Infolge einer Darmkrebserkrankung war die Klägerin vom 15. Juli 2014 bis 3. Januar 2016 arbeitsunfähig. Dennoch erbrachte sie noch bis zum 23. Juli 2014 ihre Arbeitsleistung. Vom 9. Februar 2015 bis zum Samstag, dem 28. Februar 2015 war die Klägerin bei der Beklagten im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung wieder im Betrieb tätig. In dieser Zeit war die Klägerin weitgehend mit dem Jahresabschluss 2014 befasst, vereinbarte aber im Auftrag von Herrn G. auch mit dem zuständigen Finanzamt F. einen Termin bezüglich einer Prüfung für das Wirtschaftsjahr 2013 am 16. März 2015.

 

In der Woche vom 23. Bis 28. Februar 2015 drängte Herr G. die Klägerin, sich gesundschreiben zu lassen, da ansonsten der Jahresabschluss 2014 massiv gefährdet sei. Die anstehende Rehabilitationskur solle die Klägerin verschieben. Darauf nahm die Klägerin auch nach Ende der Wiedereingliederung trotz fortdauernder Arbeitsunfähigkeit am Montag, dem 2. März 2015 ihre Tätigkeit wieder auf, brach diese jedoch gegen 11:30 Uhr ab, nachdem es eine fachliche Auseinandersetzung mit der nunmehr tätigen Lohnbuchhalterin Frau M. gegeben hatte. Nachdem sich der Herr G. bei der Klägerin per SMS am 3. März 2015 nach der weiteren Vorgehensweise erkundigt und die Klägerin ihre fortdauernde Arbeitsunfähigkeit mitgeteilt hatte, forderte Herr G. die Klägerin am 4. März 2015 wiederum per SMS auf, an diesem Tage in seinem Büro in der Firma zu erscheinen. Dieser Aufforderung kam die Klägerin gegen 15:00 Uhr nach. Auf Seiten der Beklagten nahmen die die Herren B., G. und R. teil. Ob es sich dabei um ein Personalgespräch oder ein Tribunal handelte, ist zwischen den Parteien streitig. Inhaltlich wurde die Zusammenarbeit der Klägerin mit Frau M. sowie die von der Klägerin auch schon im Februar 2015 kritisierte teilweise Neuordnung der Buchhaltung während der Abwesenheit der Klägerin erörtert.

Während dieses Gespräches am 4. März 2015 legte Herr G. der Klägerin auch die Kopie eines Schecks vom 7. Mai 2014 über 3.000,– EUR vor, zu dessen Buchung die Klägerin sich erklären bzw. dem Buchhalter einen Hinweis geben sollte, wo der Betrag in der Buchhaltung zu finden sei. Hierzu sah sich die Klägerin spontan nicht in der Lage, was ihr den Vorwurf durch Herrn B. einbrachte, sich kampfeslustig zu verhalten. Darauf brach die Klägerin das Gespräch ab.

Vom 16. März 2015 bis 6. April 2015 befand sich die Klägerin stationär zur medizinischen Rehabilitation in einem Reha-Zentrum der Deutschen Rentenversicherung Bund in Mölln in Schleswig-Holstein. Dort wurde sie am 6. April 2015 arbeitsunfähig entlassen. Der Klägerin wurde sodann ausweislich einer Bescheinigung vom 7. April 2015 eine Arbeitsunfähigkeit fortdauernd bis zum 30. April 2015 bescheinigt.

Im März 2015 ließ die Beklagte wie üblich die Richtigkeit ihrer Buchhaltung durch einen Wirtschaftsprüfer überprüfen. Dieser stellte dabei unklare Sachverhalte fest. Es handelte sich um

• den Erwerb eines belletristischen Buches (Simon Beckett: Der Hof für 19,95 EUR),

• eine Buchung von 14,84 EUR mit dem Vermerk Rdg. GM über das Konto 6300,

• eine Buchung über 850,26 EUR mit dem Vermerk Korr. SV über das Konto 1370

• eine Scheckeinlösung über 3.000,– EUR am 7. Mai 2014

Im Laufe des März 2015 versuchten der Wirtschaftsprüfer und weitere in der Buchhaltung der Beklagten angestellte Personen erfolglos, eine Aufklärung der auffälligen Sachverhalte herbeizuführen. Darauf entschloss sich die Beklagte zur Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 31. März 2015, dem drei Anlagen beigefügt waren. Es wurde per Einwurf-Einschreiben an die Privatanschrift der Klägerin gesandt. In diesem mit „Anhörung des Arbeitnehmers für Frau M. S.“ überschriebenen und von Herrn G. unterzeichneten Schreiben führt die Beklagte unter anderem aus:

Sehr geehrte Frau S.,

im Rahmen der zurzeit laufenden Jahresabschlussprüfung durch den PKmG sind Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung aufgetreten. Hier sind insbesondere folgende Fragen zu beantworten:

1. Entnahme für Aufwendungen, Roman aus der Kasse des Unternehmens

2. Kassendifferenzen WJ 2013 und WJ 2014

3. Scheck über 3.000 € wurde am 07.05.2014 eingelöst

Die Prüfung der einzelnen Sachverhalte konnte sowohl durch das Unternehmen, als auch durch den Prüfverband bis zum heutigen Tage nicht vollständig abgeschlossen werden.

Am 04.03.2015 hat ein Gespräch mit Ihnen zu dem letzten Sachverhalt stattgefunden. Anwesend waren bei diesem Gespräch, Herr G. und Herr R. vom Vorstand und Herr B. als Aufsichtsratsvorsitzender. Sie haben die Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhaltes zu Punkt 3 mit dem Hinweis auf die Krankschreibung abgelehnt. Auch in den folgenden Tagen gab es kein Signal von Ihnen. Ich bin zur Aufklärung der einzelnen Sachverhalte auf Ihre Mitarbeit angewiesen.

Bitte erläutern Sie die einzelnen Fragen in einer schriftlichen Stellungnahme bis zum 07.04.2015, 18:00 Uhr. Andernfalls bitte ich Sie am 08.04.2015, 10.00 Uhr zu einem Personalgespräch zu den oben genannten Sachverhalten zu erscheinen. Sollten Sie sich bei diesem Personalgespräch anwaltliche Hilfe zur Seite nehmen, bitte ich um entsprechenden Hinweis bis 07.04.2015, 10.00 Uhr.

Ich weise bereits jetzt darauf hin, dass wir uns ausdrücklich arbeitsrechtliche Konsequenzen, insbesondere auch die Möglichkeit der fristlosen Verdachts- oder Tatkündigung nach Abschluss unserer Ermittlungen und Ihrer Stellungnahme vorbehalten.

Die Klägerin erwiderte mit Schreiben vom 7. April 2015, welchem sie den REHA-Entlassungsschein und eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 7. April 2015 beifügte. Das Schreiben ging der Beklagten am 8. April 2015 um 9:05 Uhr per Boten zu. Es war ebenfalls mit „Anhörung des Arbeitnehmers für Frau M. S.“ überschrieben und lautete:

Sehr geehrter Herr G.,

Ihr Schreiben vom 31.03.2015 habe ich erhalten und zur Kenntnis genommen.

Bis zum 06.04.2015 befand ich mich in der medizinischen Rehabilitation und wurde als arbeitsunfähig entlassen und bin gemäß beigefügtem Krankenschein vom 07.04.2015 weiterhin bis zum 30.04.2015 arbeitsunfähig. Diesem Umstand entsprechend bitte ich zu berücksichtigen, daß ich die von Ihnen gesetzten Termine derzeit nicht in der Lage bin zu erfüllen.

Zur Klärung und Lösung der Sachverhalte stehe ich selbstverständlich nach meiner Gesundschreibung zur Verfügung.

Da die Beklagte davon ausging, dass die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 7. April 2015 deutlich gemacht habe, dass sie nicht bereit sei, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken, entschloss sich die Geschäftsführung der Beklagten zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung zunächst als Verdachtskündigung und für den Fall, dass sich der Verdacht bestätigen sollte als Tatkündigung.

Am 31. März 2015 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung der Klägerin. Einen weiteren Zustimmungsantrag der Beklagten an das Integrationsamt gab es trotz eines abweichenden Datums in dem Bescheid des Integrationsamtes vom 22. April 2015 nicht.

Am 14. April 2015, dem Betriebsrat am selben Tag zugegangen, wurde der Betriebsrat zu einer außerordentlichen Verdachtskündigung angehört. In dem Anhörungsbogen war zugleich ausgeführt, dass zur Wahrung der Rechte beabsichtigt sei, vorsorglich den Arbeitnehmer auch fristgemäß zum 31. Oktober 2015 zu kündigen. Es wurde auf eine Anlage verwiesen, in der die Kündigungsgründe ausführlich und im Detail beschrieben seien. Unter dem 20. April 2015 stimmte der Betriebsrat der Verdachtskündigung „vorbehaltlich einer Bestätigung des Verdachts“ zu.

Am 20. April 2015 teilte der Wirtschaftsprüfer mit, dass nach Überprüfung sämtlicher Konten eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes nicht mehr möglich sei. Da die Beklagte dadurch ihren Verdacht bestätigt sah, ging sie jetzt auch von einer Tatkündigung aus.

Am 22. April 2015, dem Betriebsrat am selben Tag zugegangen, wurde der Betriebsrat zu einer außerordentlichen Tatkündigung angehört. In dem Anhörungsbogen war zugleich ausgeführt, dass zur Wahrung der Rechte beabsichtigt sei, vorsorglich den Arbeitnehmer auch fristgemäß zum 31. Oktober 2015 zu kündigen. Es wurde auch hier wiederum auf eine Anlage verwiesen, in der die Kündigungsgründe ausführlich und im Detail beschrieben seien. Unter dem 23. April 2015 stimmte der Betriebsrat der Tatkündigung zu. Diese Zustimmung wurde der Beklagten gegen 10:00 Uhr mitgeteilt.

Unter dem 22. April 2015 entschied das Integrationsamt auf den Antrag der Beklagten vom 31. März 2015, die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung zu erteilen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, dass nach dem Vortrag der Beklagten am 7. April 2015 die Ermittlungen zum Kündigungssachverhalt abgeschlossen gewesen seien.

Am 23. April 2015 um 11:11 Uhr lieferte die Beklagte die beiden Kündigungsschreiben bei der Post ein.

Am 7. Mai 2014 ließ die Klägerin vom Vorstand R. einen Scheck über 3.000,– EUR unterschreiben und ließ sich das Geld bei der Volksbank auszahlen. Weshalb dieses geschah und was danach mit dem Geld passierte, ist nicht geklärt. Die Klägerin hatte in diesem Rechtsstreit zunächst erklärt, dass sie von Herrn G. gebeten worden sei, für ihn das Geld zu besorgen. Dieses habe sie am Vormittag des 7. Mai 2014 gemacht und ihm das Geld am Nachmittag übergeben. Nachdem die Beklagte dargelegt hatte, dass sich Herr G. vom 5. Mai 2014 bis 7. Mai 2014 anlässlich einer Innungsfahrt in Nordrhein-Westfalen befunden habe, erklärte die Klägerin, dass er am 8. Mai 2014 wieder im Haus gewesen und sich das Geld habe von der Klägerin aushändigen lassen. Auf Befragung des Arbeitsgerichts in der Verhandlung am 27. Januar 2016 erklärte die Klägerin sodann, dass sie das Geld auch am 9. oder 10. Mai 2014 an Herrn G. übergeben oder dieses in dem im Büro vorhandenen Panzerschrank habe eingelegt haben können. Ob zu dem Panzerschrank nur die Klägerin oder auch andere Mitarbeiter Zugang hatten, ist zwischen den Parteien streitig.

Die Klägerin meint, dass weder ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung gegeben sei noch dass die hilfsweise ordentlichen Kündigungen sozial gerechtfertigt seien. Taggenaue Kassenbuchungen seien im Unternehmen der Beklagten nicht durchgeführt worden. Das sei von der Beklagten so gewollt gewesen.

Die Beklagte wies entschieden zurück, die Klägerin zu irgendeinem Zeitpunkt in irgendeiner Weise massiv bedrängt zu haben. Die Beklagte geht davon aus, dass die Klägerin einerseits die ohne Rücksprache mit der Geschäftsführung ausgebuchten Beträge in Höhe von 14,84 EUR und 850,26 EUR ebenso wie das Buch im Wert von 19,95 EUR für sich verwandt habe. Viel gravierender und äußerst relevant sei jedoch das Einlösen des Schecks über 3.000,– EUR. Zwei unerklärliche Einzahlungen der Klägerin über je 500,– EUR vom 16. Juni 2014 und 16. Juli 2014 könnten zwar gegengerechnet werden, es verbleibe aber ein Fehlbetrag von 2.000,– EUR. Die Klägerin wäre sehr korrekt im Rahmen der Buchhaltung gewesen. Sie habe bei jedem Cent darauf geachtet, dass dies ordnungsgemäß dokumentiert werde.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 27. Januar 2016 abgewiesen. Die Kündigung sei als außerordentliche Verdachtskündigung gerechtfertigt, weil starke auf objektiven Tatsachen gegründete Verdachtsmomente für eine schwerwiegende Pflichtverletzung im Umgang mit dem eingelösten Scheck gegeben seien. Es sei der dringende Verdacht gegeben, dass die Klägerin das Geld für sich selbst verwandt habe. Nach dem zweimal gewechselten Vortrag zum Verbleib des Geldes fehle es an einer konkreten Behauptung der Klägerin, wie das Geld wieder in die Verfügungsgewalt der Beklagten gekommen sei. Zwar könne es sein, dass die Klägerin sich nun nicht mehr erinnere, aber die Lebenserfahrung spreche bei einem Betrag von 3.000,– EUR dagegen. Der Verdacht sei ebenfalls dringend, weil die Klägerin mehrfach ihren Vortrag angepasst habe. Dieser Verdacht sei ausreichend zur Begründung der Kündigung. Zwar werde der Verdacht noch durch die zweimalige unerklärliche Einzahlung von jeweils 500,– EUR durch die Klägerin erhärtet, aber letztlich komme es darauf nicht mehr an. Die Beklagte habe alle erforderlichen Aufklärungsbemühungen unternommen, insbesondere die Klägerin vor Ausspruch der Kündigung angehört. Der gebotene Umfang der Anhörung richte sich nach den Umständen des Einzelfalles. Die eingeräumte Frist von einer Woche erscheine grundsätzlich ausreichend. Angesichts der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB und der von der Klägerin nur unkonkret genannten Frist für eine Stellungnahme sei das auch hier der Fall.

Gegen dieses dem Klägervertreter am 15. Februar 2016 zugestellte Urteil legte dieser am 7. März 2016 Berufung ein und begründete diese nach entsprechender Fristverlängerung am 17. Mai 2016. Das Arbeitsgerichts sei nicht auf den Vortrag der Klägerin eingegangen, dass es einerseits üblich gewesen wäre, dass die Klägerin mittels Scheck für den Vorstand Bargeld besorgt habe und andererseits Buchungen dazu nicht taggerecht, sondern oft erst viel später im Nachhinein erfolgt seien. Wie das Arbeitsgericht dazu komme, dass die Klägerin mit den zweimaligen Einzahlungen der 500,– EUR die zuvor entnommene Summe habe zurückzahlen wollen, ergebe sich aus den Urteilsgründen nicht. Die Klägerin habe sich mehrfach auf Zeugenbeweis für ihre Darstellung im Zusammenhang mit dem Scheck berufen, u.a. des Herrn G.. Bei der Eile und Spontanität der Entscheidungsfindungen und Anweisungen des Herrn G. habe die Klägerin sich häufig auf den nachträglichen Erhalt von Belegen verlassen müssen oder diesen permanent erinnern. Dass die Klägerin tatsächlich die 3.000,– EUR für sich behalten habe, sei nicht bewiesen, so dass eine Tatkündigung ausscheide. Das Geld könne ebenso bei Herrn G. gelandet oder mit Buchungsfehlern versehen gewesen sein. Auch die Verdachtskündigung sei nicht gerechtfertigt. Zumindest sei die Klägerin nicht ausreichend angehört worden. Angesichts der Reha-bedingten Abwesenheit der Klägerin und ihrer angekündigten Mithilfe bei der Aufklärung sei die Anhörungsfrist eindeutig zu kurz gewesen. Das Gespräch am 4. März 2015 könne auch wegen der dortigen Drucksituation nicht als Anhörung angesehen werden. Das bestätige auch die spätere schriftliche Anhörung der Klägerin.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt (Oder) vom 27. Januar 2016 – 2 Ca 544/15 – abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die beiden Schreiben vom 23. April 2015 weder als außerordentliche Kündigung zum 27. April 2015 noch als ordentliche Kündigung zum 30. November 2015 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte erwidert unter ausführlicher Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags, dass angesichts der Abwesenheit des Herrn G. am 7. Mai 2014 die Einlassung der Klägerin widerlegt sei. Sie habe den Scheck vielmehr eigenmächtig eingelöst. Und auch mit der Berufungsbegründung habe sie keine weiteren aufklärenden Erläuterungen vorgebracht, insbesondere auch nicht zu den von ihr selbst vorgenommenen zweimaligen Einzahlungen in Höhe von je 500,– EUR.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung der Klägerin vom 15. Mai 2016 und den vorgetragenen Inhalt der Berufungserwiderung der Beklagten vom 23. Juni 2016 sowie das Sitzungsprotokoll vom 4. August 2016 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden.

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet.

1.

Die Beklagte hat insgesamt vier Kündigungen ausgesprochen, nämlich eine außerordentliche Verdachtskündigung, eine ordentliche Verdachtskündigung, eine außerordentliche Tatkündigung und eine ordentliche Tatkündigung.

Gemäß § 91 SGB IX bedarf die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Nach § 85 SGB IX bedarf auch die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts.

Diese Voraussetzung muss bei jeder Kündigung erfüllt sein. Allerdings kann die einmal nach § 85 SGB IX erteilte Zustimmung innerhalb der Frist des § 88 Abs. 3 SGB IX wiederholt für Kündigungen genutzt werden, sofern es sich um einen gleichbleibenden Kündigungssachverhalt handelt. Für die außerordentliche Kündigung gilt dieses nicht, weil diese nach § 91 Abs. 5 SGB IX unverzüglich nach Zustimmung des Integrationsamtes auszusprechen ist.

Unstreitig hat die Beklagte den Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin am 31. März 2015 gestellt. Am 8. April 2015 hat die Beklagte das Integrationsamt über das Antwortschreiben der Klägerin im Rahmen der Anhörung informiert. Im Rahmen der Anhörung durch das Integrationsamt am 21. April 2015 hat die Beklagte mitgeteilt, dass sie sich nun auch zur Tatkündigung entschieden habe. Förmlich wurde das Integrationsamt dazu aber nicht noch einmal um Zustimmung gebeten, in dem Bescheid vom 22. April 2015 finden sich auch keine Anhaltspunkte, dass die vollendete Tat und nicht nur der Verdacht einer solchen Gegenstand der Entscheidung war.

Da zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungen bei der Klägerin im April 2015 weder eine Zustimmung des Integrationsamtes zu einer ordentlichen Kündigung noch zu einer außerordentlichen Tatkündigung vorlag, sind diese drei Kündigungen bereits aus formellen Gründen unwirksam.

2.

Deshalb kommt es allein darauf an, ob die außerordentliche Verdachtskündigung wirksam ausgesprochen worden ist.

2.1

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Auch der Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn

1. sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen,

2. der Verdacht dringend ist und somit eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er zutrifft

3. die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und

4. der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. etwa Urteil vom 25. Oktober 2012 – 2 AZR 700/11 m.w.N.).

Die Umstände, die den Verdacht begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG, Urteil vom 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11).

Für die kündigungsrechtliche Beurteilung der Pflichtverletzung, auf die sich der Verdacht bezieht, ist ihre strafrechtliche Bewertung nicht maßgebend. Entscheidend sind der Verstoß gegen vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch.

 

2.2

Die Berufungskammer ging mit dem Arbeitsgericht davon aus, dass auf objektive Tatsachen gegründet starke Verdachtsmomente gegenüber der Klägerin bestehen, dass sie sich einen Betrag von 3.000,– EUR rechtswidrig angeeignet hat. Die Klägerin hat zwar darauf hingewiesen, dass taggenaue Buchungen im Betrieb der Beklagten nicht immer möglich gewesen seien, dass sie aber Beträge gar nicht buchen sollte oder gar nicht gebucht hat, hat sie nicht vorgetragen. Da die Klägerin unstreitig den Scheck über 3.000,– EUR eingelöst hat, war sie zumindest zeitweise auch im Besitz des Geldes. Da sie über den Verbleib des Geldes keine Auskunft geben konnte, kommt dem mehrfach wechselnden Vortrag der Klägerin in diesem Rechtsstreit eine besondere Bedeutung zu. Bereits der Umstand, dass die Klägerin den Vortrag jeweils dem prozessualen Geschehen anpasste, führt zusammen mit der unterlassenen Buchung zu dem Tatverdacht gegenüber der Klägerin. Erschwerend kommt hinzu, dass die Klägerin im Juni und Juli 2014 jeweils 500,– EUR bei der Beklagten eingezahlt hat ohne in der Buchung anzugeben oder im Rahmen des Rechtsstreits erläutern zu können, weshalb und wofür diese Einzahlungen erfolgt sind.

2.3

Die Kammer ging auch davon aus, dass eine große Wahrscheinlichkeit für eine Tatbegehung durch die Klägerin spricht. Denn die von ihr vorgebrachten alternativen Geschehnisse der Übergabe des Geldes an Herrn G. oder das Einlagern im Geldschrank mit nachfolgender Entwendung durch Andere erklärt nicht, dass die Klägerin den Betrag nicht gebucht hat. Hierzu hat die Klägerin auch keine Erklärung abgegeben.

2.4

Dass der dringende Verdacht des Unterschlagens von Firmengeld durch die (Haupt-)buchhalterin auch nach 20jähriger Beschäftigung das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche vertrauen zerstört, erschien der Berufungskammer nicht abwegig.

2.5

Dennoch musste das arbeitsgerichtliche Urteil abgeändert und die Unwirksamkeit der Kündigungen einschließlich der außerordentlichen Verdachtskündigung festgestellt werden.

2.5.1

Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung. Bei ihr besteht in besonderem Maße die Gefahr, dass der Arbeitnehmer zu Unrecht beschuldigt wird. Dessen Anhörung ist deshalb ein Gebot der Verhältnismäßigkeit. Unterbliebe sie, wäre die Kündigung nicht „ultima ratio“ (vgl. etwa BAG, Urteil vom 23. Mai 2013 – 2 AZR 102/12). Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung Gelegenheit geben, zu den Verdachtsmomenten Stellung zu nehmen, um dessen Einlassungen bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen zu können. Versäumt er dies, kann er sich im Prozess nicht auf den Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers berufen; die hierauf gestützte Kündigung ist unwirksam (BAG, Urteil vom 20. März 2014 – 2 AZR 1037/12).

Der Umfang der Anhörung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen (BAG, Urteil vom 27. Januar 2011 – 2 AZR 825/09). Bei Vorliegen besonderer Umstände darf sie aber auch überschritten werden (BAG, Urteil vom 2. März 2006 – 2 AZR 46/05).

Ein Unterlassen der Anhörung kann unschädlich sein, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer – im Rahmen des Zumutbaren – Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, und dieser sich innerhalb der gesetzten – angemessenen – Frist gleichwohl nicht geäußert hat. Der Arbeitgeber, dem der Arbeitnehmer mitteilt, er könne sich wegen einer Erkrankung nicht, auch nicht schriftlich äußern, kann auf den Eingang der Stellungnahme und damit gegebenenfalls auch dem Ausspruch der Kündigung bis zu dessen Gesundung warten, der Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB würde in einem solchen Fall entsprechend lange hinausgeschoben.

Sieht der Arbeitgeber in einem solchen Fall von einem weiteren Zuwarten ab, verletzt der Arbeitgeber nicht notwendig seine Aufklärungspflicht aus § 626 Abs. 1 BGB. Ihm kann – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – eine weitere Verzögerung unzumutbar sein (BAG, Urteil vom 20. März 2014 – 2 AZR 1037/12). Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitgeber davon ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde sich in absehbarer Zeit nicht äußern (können). Hat etwa der Arbeitnehmer mehrmals um eine Verlängerung der gesetzten Frist zur Stellungnahme gebeten und hat sich seine Prognose, wann er sich werde äußern können, wiederholt als unzutreffend erwiesen, wird dem Arbeitgeber ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten sein. Mehrfache ergebnislose Fristverlängerungen können überdies die Annahme rechtfertigen, der Arbeitnehmer wolle sich in Wirklichkeit ohnehin nicht äußern. Einige weitere Tage warten zu müssen, wird der Arbeitgeber dabei in der Regel eher hinzunehmen haben als eine Wartezeit von mehreren Wochen. Es kann wiederum auch das Ende eines längeren Zeitraums abzuwarten sein, wenn schon die bisherigen Aufklärungsmaßnahmen längere Zeit in Anspruch genommen haben und keine Ansprüche des Arbeitnehmers aus Annahmeverzug drohen.

2.5.2

In diesem Fall hätte die Beklagte der Klägerin jedenfalls aufgrund deren Schreiben vom 7. April 2015 eine Nachfrist setzen müssen. Denn das Anhörungsschreiben war bei der Klägerin während der Reha-bedingten Abwesenheit eingegangen. Erst am 6. April 2015 endete die Reha. Frühestens im Laufe dieses Tages hat die Klägerin das Schreiben der Beklagten vom 31. März 2015 erhalten. Sie hat umgehend reagiert und der Beklagten am Morgen des 8. April 2015 die Nachricht zukommen lassen, dass sie unverschuldet ortsabwesend gewesen sei. Sie hatte weiter mitgeteilt, dass sie an der Aufklärung mitwirken wolle. Anhaltspunkte, dass diese Behauptung nur vorgeschoben wäre, lagen zum Kündigungszeitpunkt nicht vor. Dass die Vorwürfe nicht aus dem Gedächtnis, sondern nur anhand der Buchhaltungsunterlagen im Betrieb der Beklagten aufzuklären wären, erscheint nicht abwegig.

Da die Klägerin bereits seit mehreren Monaten arbeitsunfähig erkrankt war und deshalb keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung mehr hatte, gab es auch keinen besonderen Grund besonders schnell zu handeln. Auch eine Rückkehr der Klägerin an ihren Arbeitsplatz war wegen der fortdauernden Arbeitsunfähigkeit zunächst noch nicht zu erwarten.

Ohne jede Nachfrist zur Stellungnahme für die Klägerin hat die Beklagte in diesem besonderen Einzelfall vor Ausspruch der Kündigung nicht alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen.

3.

Somit konnte die außerordentliche Verdachtskündigung der Klägerin keinen Bestand haben. Die Wirksamkeit der übrigen Kündigungen scheitert bereits an der unterlassenen diesbezüglichen Beteiligung des Integrationsamtes.

III.

Die Kostenentscheidung folgt § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 91 Abs. 1 ZPO. Die Beklagte als unterlegene Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.

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