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Arbeitnehmerkündigung – Kündigungszugang bei Einwurf in Hausbriefkasten

ArbG Frankfurt – Az.: 7 Ca 194/21 – Urteil vom 29.10.2021

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 112.942,00 Euro festgesetzt.

4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um eine ordentliche fristgerechte Kündigung der Arbeitgeberin, die Feststellung einer Schadenersatzpflicht und Zahlung einer Entschädigung sowie einen hilfsweise gestellten Auflösungsantrag der Arbeitgeberin.

Die am xx.xx.xxxx geborene Klägerin ist xxx Herkunft und xxx. Sie ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als xxx seit xx.xx.xxxx tätig. Sie war zunächst in A und seit xxxx in B zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von € x.xxx,xx beschäftigt.

Mit Schreiben vom 30. November 2020 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung. Wegen der Einzelheiten des Inhalts der Abmahnung wird auf die Anlage B 11 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021 verwiesen. Mit Schreiben vom 14. Dezember 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht zum 31. März 2021. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 7. Januar 2021, bei dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main eingegangen am selben Tag, erhob die Klägerin Kündigungsschutzklage verbunden mit einem Antrag auf nachträgliche Klagezulassung. Sie erweiterte ihre Klage mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13. Februar 2021, bei dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main eingegangen am selben Tag, um einen Antrag auf Feststellung einer Schadenersatzpflicht der Beklagten sowie auf Zahlung einer Entschädigung. Die Beklagte stellte in dem Kammertermin am 29. Oktober 2021 hilfsweise einen Auflösungsantrag.

Die Klägerin trägt vor, sie habe am 4. Januar 2021 Kenntnis von der Kündigung erlangt und sich am 6. Januar 2021 an ihre Prozessbevollmächtigte gewandt. Sie sei vom 23. November 2020 bis 4. Januar 2021 im Urlaub in C gewesen. Im Urlaub seien bei ihr xxx ärztlich diagnostiziert worden und sie habe daher zunächst ihren Rückflug auf den 11. Dezember 2020 verschoben. Hierüber habe sie die Beklagte am 4. Dezember 2020 informiert. Wegen des weiteren Vortrages der Klägerin zu von ihr an die Beklagte versandte E-Mails im Dezember 2020 wird auf S. 8 bis 9 der Klageschrift vom 7. Januar 2021 verwiesen. Am 11. Dezember 2020 sei bei ihr das D diagnostiziert worden und sie sei bis 19. Dezember 2020 in medizinischer Behandlung gewesen. Ihr behandelnder Arzt habe ihr geraten, sich weiter zu erholen und daher habe sie ihren Urlaub bis 4. Januar 2021 verlängert. Sie habe in Frankfurt am Main weder Freunde noch Bekannte, die einen Schlüssel zu ihrem Briefkasten haben und Post überprüfen könnten.

Es handele sich um eine Rachekündigung, da sie in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einer Beschwerde über einen Vorfall am 14. Oktober 2020 in einem Kaffee ausgesprochen worden sei. Wegen der Einzelheiten des diesbezüglichen Vortrages wird auf S. 3 bis 5 der Klageschrift vom 7. Januar 2021 verwiesen.In einem telefonischen Personalgespräch am 30. November 2020 seien die Daten ihres Vaters ohne Sachzusammenhang in das Gespräch einbezogen worden. Das Kündigungsschreiben sei in engem zeitlichen Zusammenhang zu diesem Gespräch verfasst worden und das Personalgespräch und die Kündigung seien in engem zeitlichen Zusammenhang mit der endgültigen Weigerung der Klägerin, mit einer hochrangigen Führungskraft der Beklagten Geschlechtsverkehr zu haben, erfolgt. Es bestehe ein Gesamtzusammenhang zwischen der sexuellen Ausbeutung der Klägerin und der Kündigung. Wegen der Darstellung der Klägerin zu dem Verlauf der Geschehnisse ab 30. Oktober 2020 wird auf S. 29 bis 43 des Schriftsatzes vom 10. September 2021 verwiesen.

Sie sei bereits vor ihrer Einstellung durch die Beklagte und während ihrer gesamten Tätigkeit immer wieder durch hochrangige Angestellte der Beklagten in sehr gravierender und aggressiver Weise sexuell ausgebeutet worden. Sie sei sexuell missbraucht worden und habe höchst anzügliche Nachrichten und Bildmaterialien von diesen Mitarbeitern erhalten. Sie sei sehr oft in extrem erniedrigenden Posen fotografiert worden.

Ein Psychoanalytiker und psychologischer Psychotherapeut habe ein ausführliches Gutachten herstellt, welches sie zum Inhalt ihres Schriftsatzes mache (Anlage K 13 zu dem Schriftsatz vom 10. September 2021). Ferner bezieht sie sich auf ein Gutachten ihres strafrechtlichen Rechtsbeistandes (Anlage K 14 zu dem Schriftsatz vom 10. September 2021) und macht es zu ihrem Vortrag. Sie sei von einer hochrangigen Führungskraft der Beklagten in der Funktion eines xxx sexuell belästigt worden. Wegen der Einzelheiten des Vortrages zu dem Verhalten dieses xxx und der von der Klägerin insofern geschilderten Geschehnisse wird auf S. 6 bis 14 des Schriftsatzes vom 10. September 2021 nebst dazugehörigen Anlagen verwiesen. Sie habe eine intensive sexuelle Beziehung zu einem Direktor der Beklagten gehabt. Wegen der Darstellung der Entwicklung dieser Beziehung aus Sicht der Klägerin und der insofern von ihr geschilderten Geschehnisse wird auf S. 14 bis 28 des Schriftsatzes vom 10. September 2021 nebst dazugehörigen Anlagen verwiesen. Das Verhalten der beiden genannten Mitarbeiter sei der Beklagten als Erfüllungsgehilfen zuzurechnen. Es sei möglich, dass bei der Beklagten ein geheimes Netzwerk besteht, in dem Führungskräfte sich gegenseitig Mitarbeiterinnen zu sexuellen Zwecken zuführen.

Die Klägerin widerspricht den Darstellungen der Beklagten zu ihrer Beziehung zu dem Direktor und zu seinem Einfluss auf Abläufe bei der Beklagten. Insofern wird auf die Ausführungen auf S. 11 bis S. 55 des Schriftsatzes vom 27. Oktober 2021 verwiesen. Auch widerspricht sie der Darstellung der Beklagten zu ihrem Verhältnis zu dem xxx und dessen Einfluss auf Abläufe bei der Beklagten. Wegen der Einzelheiten des diesbezüglichen Vortrages wird auf S. 55 bis 81 des Schriftsatzes vom 27. Oktober 2021 verwiesen.

Sie habe eine erhebliche gesundheitliche und vor allem psychische Beeinträchtigung erlitten. Der Auflösungsantrag sei unbegründet, da sie nur ihre Rechte geltend mache.

Die Klägerin beantragt zuletzt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung vom 14. Dezember 2020 nicht aufgelöst worden ist.

2. Die Kündigungsschutzklage wird nachträglich zugelassen.

3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, sämtliche materiellen Schäden, die der Klägerin aufgrund und in Folge der sexuellen Handlungen an ihr durch Mitarbeiter der Beklagten entstanden sind, zu ersetzen.

4. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Entschädigung zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 100.000 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Hilfsweise, für den Fall der Stattgabe des Klageantrages zu 1 beantragt die Beklagte, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, aufzulösen.

Die Klägerin beantragt, den Auflösungsantrag abzuweisen.

Arbeitnehmerkündigung – Kündigungszugang bei Einwurf in Hausbriefkasten
(Symbolfoto: Sergio Delle Vedove/Shutterstock.com)

Die Beklagte trägt vor, der Betriebsrat X sei mit Schreiben vom 4. Dezember 2020 (Anlage B 14 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021) mit Anlagen (Anlage B 15 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021), welches diesem Betriebsrat am selben Tag übersendet worden seien, ordnungsgemäß angehört worden. Der Betriebsrat Y sei mit einem Schreiben vom 4. Dezember 2020 (Anlage B 16 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021) mit Anlagen (Anlage B 15 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021), welches diesem Betriebsrat am selben Tag übersendet worden sei, ordnungsgemäß angehört worden. Beide Betriebsräte hätten sich zu der beabsichtigten Kündigung nicht geäußert.Die Kündigung der Klägerin sei am 14. Dezember 2020 von zwei Mitarbeitern der Personalabteilung in einen Umschlag mit Sichtfenster eingelegt und verschlossen worden und an einen Boten übergeben worden, welcher die Kündigung am 14. Dezember 2020 um 20:30 Uhr in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen habe. Insofern verweise sie auf das Zustellungsprotokoll vom 14. Dezember 2020 (Anlage B 17 zur Klageerwiderung vom 6. Mai 2021).

Der Grund für die Kündigung liege in dem Verhalten der Klägerin. Sie habe in einem Personalgespräch am 18. November 2020 eine Sprachaufnahme ohne Einwilligung von zwei Mitarbeiterinnen der Beklagten – Frau E und Frau F – mit ihrem Mobiltelefon getätigt und dadurch in erheblicher Weise das Persönlichkeitsrecht ihrer Gesprächspartnerinnen verletzt. Wegen der Einzelheiten der Darstellung der Beklagten zu dem Verhalten der Klägerin und den Geschehnissen aus Sicht der Beklagten ab Ende Oktober 2020 bis 1. Dezember 2020 wird auf S. 4 bis S. 13 der Klageerwiderung vom 6. Mai 2021 sowie auf S. 51 bis 56 des Schriftsatzes vom 21. Oktober 2021 nebst dazugehörigen Anlagen verwiesen. Ausschlaggebend für die Kündigung sei das Verhalten der Klägerin, dass sie gegenüber den Mitarbeiterinnen Frau F und Frau E gezeigt habe. Die Kündigung stehe in keinem Zusammenhang mit den von der Klägerin herangezogenen Vorwürfen der Maßregelung und / oder der Diskriminierung. Wegen der Einzelheiten des diesbezüglichen Vortrages wird auf S. 17 bis 19 der Klageerwiderung vom 6. Mai 2021 verwiesen.

Sie habe nach internen Ermittlungen einen anderen Eindruck erhalten als die Klägerin schildert. Insofern wird auf die Ausführungen der Beklagten auf S. 4 bis 7 des Schriftsatzes vom 21. Oktober 2021 Bezug genommen. Die Klägerin habe in einer einvernehmlichen Liebesbeziehung zu dem von ihr erwähnten Direktor gelebt. Wegen der Darstellung des Verlaufs der Beziehung und der aus Sicht der Beklagten relevanten Geschehnisse wird auf S. 7 bis 22 des Schriftsatzes vom 21. Oktober 2021 nebst dazugehörigen Anlagen verwiesen. Das Verhalten des xxx gegenüber der Klägerin stelle keine sexuelle Belästigung dar. Sie hätten einvernehmlich Bilder und Chat-Nachrichten mit sexuellem Inhalt ausgetauscht. Handlungen mit sexuellem Bezug gegen den Willen der Klägerin seien nicht erfolgt. Wegen der Einzelheiten der Darstellungen hierzu wird auf S. 39 bis 41 des Schriftsatzes vom 21. Oktober 2021 verwiesen. Auch habe dieser xxx die Kündigung nicht veranlasst oder hierauf Einfluss genommen. Zudem seien weder der genannten Direktor noch der genannte xxx ihre Erfüllungsgehilfen im Verhältnis zur Klägerin.

Der von der Klägerin geschilderten Vorfall in einem Café am 14. Oktober 2020 habe sich nach ihren Ermittlungen anders zugetragen. Insofern wird auf die Ausführungen auf S. 42 bis 43 des Schriftsatzes vom 21. Oktober 2021 verwiesen. Nach ihren internen Ermittlungen hätten sich keine Hinweise auf ein wie von der Klägerin behauptetes geheimes Netzwerk ergeben.

Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihr selbst bei einer Unwirksamkeit der Kündigung nicht zumutbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die Klageschrift vom 7. Januar 2021, die Klageerweiterung vom 13. Februar 2021 sowie die klägerischen Schriftsätze vom 10. September 2021 und 27. Oktober 2021 jeweils nebst Anlagen und die Schriftsätze der Beklagten vom 6. Mai 2021 und vom 21. Oktober 2021 jeweils nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften und den Beschluss des Gerichts über die Zurückweisung des Aussetzungsantrages nach § 149 ZPO vom 14. Mai 2021 und den weiteren Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 14. Dezember 2020 beendete das Arbeitverhältnis der Parteien. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung einer Schadenersatzpflicht der Beklagten. Sie hat ferner keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung. Mangels Eintritt der innerprozessualen Bedingung war über den Auflösungsantrag der Beklagten nicht zu entscheiden.

Der Beklagten war kein Schriftsatznachlass zu gewähren, § 283 S. 1 ZPO, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG. Der letzte Schriftsatz der Klägerin enthält keinen für die Entscheidung erheblichen neuen Tatsachenvortrag. Zudem waren die Beklagtenvertreterinnen erkennbar in der Lage, sich in der Kammerverhandlung zum Schriftsatz der klägerischen Partei zu erklären. Damit war ein Schriftsatznachlass nicht erforderlich. Eine Entscheidung in der Sache konnte ergehen.

Auch soweit die Klägerin im anwaltlichen Schriftsatz vom 27. Oktober 2021 einen Schriftsatznachlass beantragte, war dieser nach § 283 S. 1 ZPO, § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG nicht zu gewähren. Die Klägervertreterin nahm am 27. Oktober 2021 ausführlich zum letzten Schriftsatz der Beklagtenseite vom 21. Oktober 2021 Stellung und war auch in der Kammverhandlung erkennbar in der Lage, sich zum Schriftsatz der beklagten Partei zu erklären. Damit war ein Schriftsatznachlass nicht erforderlich. Eine Entscheidung in der Sache konnte ergehen.

Wegen der nach § 313 Abs. 3 ZPO gebotenen kurzen Zusammenfassung der die Entscheidung der Kammer tragenden Erwägungen gilt Folgendes:

I.

1. Der zulässige Kündigungsschutzantrag ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis wurde durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 14. Dezember 2020 beendet.

Die Klägerin hielt die dreiwöchige Klagefrist im Sinne des § 4 KSchG nicht ein. Daher gilt die Kündigung nach § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.

Der Zugang im Briefkasten der Klägerin erfolgte am 14. Dezember 2020 um 20:30 Uhr. Diesen von der Beklagten vorgetragenen Umstand bestritt die Klägerin nicht. Der Einwurf in einen Briefkasten bewirkt den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Da 20:30 Uhr keine übliche Uhrzeit für einen Postlauf ist, gilt die Kündigung am 15. Dezember 2020 als zugegangen. Die dreiwöchige Frist im Sinne des § 4 KSchG lief am 05. Januar 2021 ab. Der Klageeingang am 7. Januar 2021 war mithin verfristet im Sinne der §§ 4, 7 KSchG.

Die Klage ist nicht nach § 5 KSchG nachträglich zuzulassen. Nach § 5 Abs. 1 S. 1 KSchG ist die Klage auf Antrag der klagenden Partei nachträglich zuzulassen, wenn ein Arbeitnehmer nach erfolgter Kündigung trotz Anwendung aller ihm nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert war, die Klage innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung zu erheben.

Die Klägerin war nicht trotz Anwendung aller ihr nach Lage der Umstände zuzumutenden Sorgfalt verhindert im Sinne der Norm. Sie war zunächst im Urlaub, sodann nach ihrem Vortrag im Urlaub erkrankt und im Anschluss an die Erkrankung weiterhin im Urlaub, um sich zu erholen.

Erkrankt ein Arbeitnehmer während einer urlaubsbedingten Ortsabwesenheit und kehrt er deshalb nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt an seinen Wohnort zurück, geht die Kündigung in der Regel dennoch nach § 130 Abs. 1 S. 1 BGB durch Einwurf des Kündigungsschreibens in den Hausbriefkasten zu. Der Arbeitgeber hat ein schutzwürdiges Interesse daran, dass dem Arbeitnehmer rechtsgeschäftliche Erklärungen nicht nur zugehen, sondern von diesem auch zur Kenntnis genommen werden können. Dieses Interesse findet seinen gesetzlichen Niederschlag in § 5 Abs. 2 S. 1 EFZG, der den im Ausland erkrankten Arbeitnehmer zur Mitteilung seiner Adresse verpflichtet, um dem Arbeitgeber zu ermöglichen, eine Untersuchung durch einen Vertrauensarzt zu veranlassen. Dieser Pflicht zur Mitteilung nach § 5 Abs. 2 S. 1 EFZG kam die Klägerin nicht nach und wandte daher nicht alle ihr nach Lage der Umstände zuzumutende Sorgfalt an. Die Beklagte konnte mithin den Zugang der Kündigung mangels anderer Möglichkeit wirksam an der Wohnadresse der Klägerin bewirken.

Der als gesonderter Antrag zu 2) gestellte Antrag auf nachträgliche Klagezulassung ist mithin auch unbegründet.

2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz sämtlicher materieller Schäden, die ihr aufgrund und in Folge der sexuellen Handlungen an ihr durch Mitarbeiter der Beklagten entstanden sind, verpflichtet ist.

Ein derartiger Anspruch ergibt sich nicht aus §§ 1, 3 Abs. 1, 3 und 4 AGG, 7, 15 Abs. 1 AGG.

a) Die Klägerin beruft sich auf eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG von drei Herren, die bei der Beklagten tätig sind bzw. waren. Selbst eine sexuelle Belästigung dieser Herren unterstellt, sind diese Taten der Beklagten nicht zuzurechnen.

Eine Zurechnung der Taten der Herren als Erfüllungsgehilfen der Beklagten nach § 278 S. 1 BGB scheidet aus. Erfüllungsgehilfe im Sinne des § 278 S. 1 BGB ist, wer mit dem Willen des Schuldners bei der Erfüllung einer dem Schuldner obliegenden Verbindlichkeit als dessen Hilfsperson tätig ist. Aus diesem Begriff und dem Erfordernis, „in Erfüllung“ der dem Arbeitgeber obliegenden Pflichten zu arbeiten, folgt erstens, dass eine solche Haftung in der Regel nur für weisungsabhängige andere Personen in Betracht kommt und zweitens, dass die Diskriminierung auch mit der Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten im Zusammenhang stehen muss. Die genannten Herren haben nicht „in Erfüllung“ der der Beklagten obliegenden Pflichten gehandelt. Ein notwendiger innerer sachlicher Zusammenhang der schuldhaften Handlungen mit der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung der Herren als Erfüllungsgehilfen liegt nicht vor – selbst wenn man die Existenz der behaupteten schuldhaften Handlungen als gegeben annimmt. Die im Rahmen einer sexuellen Belästigung vorzuwerfenden Verhaltensweisen stehen nicht in Verbindung mit der beruflichen Tätigkeit oder können sich aus den vom Arbeitgeber eingeräumten vertraglichen Befugnissen ergeben. Selbst wenn den Herren selbst die Handlungen vorzuwerfen sind, so übten sie diese nicht in Erfüllung, sondern nur bei Gelegenheit der von der Beklagten aufgetragenen Tätigkeit aus. Die Ausübung bei Gelegenheit der beruflichen Tätigkeit genügt für eine Zurechnung nach § 278 S. 1 BGB jedoch nicht. Die Wahrnehmung auch strafrechtlich relevanter Handlungen bei Gelegenheit der Berufsausübung steht nicht in Verbindung mit der beruflichen Tätigkeit. Ein Arbeitgeber muss jedoch nur für in Verbindung mit der beruflichen Tätigkeit stehende Verfehlungen seiner Erfüllungsgehilfen haften. Maßstab hierfür ist, ob die Handlungen nach der Beurteilung eines Außenstehenden in einem inneren Zusammenhang mit dem übertragenen Aufgabenbereich stehen. Die vorgeworfenen Handlungen der genannten Herren sind als Verfehlungen eines Erfüllungsgehilfen von dem ihm übertragenen Aufgabenbereich so weit entfernt, dass aus der Sicht eines Außenstehenden ein innerer Zusammenhang zwischen dem Handeln des Erfüllungsgehilfen und dem allgemeinen Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben nicht mehr zu erkennen ist (so bei einer sexuellen Belästigung OLG München, Urteil vom 10. September 2015 – 8 U 1555/15 – NJW-RR 2016, 472 ff. [473] m.w.N.).

Der Beklagten ist auch kein Organisationsverschulden durch Unterlassen der nach § 12 AGG gebotenen Schutzmaßnahmen und -pflichten vorzuwerfen. Bei der Haftung für Organisationsverschulden handelt es sich um einen Unterfall der Haftung wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten. Der Unternehmer ist danach verpflichtet, die innerbetrieblichen Abläufe so zu organisieren, dass Schädigungen Dritter in dem gebotenen Umfang vermieden werden (BAG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 8 AZR 709/06 – NZA 2007, 1154 ff. [1163-1164 ]). Dass die Beklagte Schulungen im Sinne des AGG bei den genannten Herren nicht durchführte, trug auch die Klägerin nicht vor. Dass die Klägerin nicht die Möglichkeit hatte, sich an jemanden bei der Beklagten zu wenden, um die Vorwürfe zu erheben, trug sie selbst auch nicht vor. Weitere Maßnahmen zum Schutz der Klägerin – selbst eine Benachteiligung der Klägerin im Sinne des § 7 Abs. 1 AGG unterstellt – trug auch die Klägerin nicht vor. Sie hat nicht dargetan, durch welche allgemeinen organisatorischen Maßnahmen die Beklagte die von ihr behaupteten Rechts(gut)verletzungen hätte verhindern können (so auch BAG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 8 AZR 709/06 – NZA 2007, 1154 ff. [1164 ]).

Soweit sich die Klägerin auf ein mögliches geheimes Netzwerk innerhalb der Beklagten beruft, stützt sie dies auf eine von ihr vorgetragene Bemerkung und Aufforderung einer der genannten Herren. Ferner bringt sie zum Ausdruck, sie habe rückwirkend das Gefühl, dass die in ihrer Abteilung beschäftigten Frauen teilweise bewusst eingestellt worden seien, um diese in ein Abhängigkeitsverhältnis zu locken, bei dem berufliches Fortkommen an das „Gefallen in sexueller Hinsicht“ gegenüber dem verantwortlichen Mitarbeiter geknüpft gewesen sei. Dieser Vortrag ist nicht ausreichend substantiiert, sondern zu vage, um ihm nachzugehen.

b) Soweit sich die Klägerin daneben auf eine Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Religionszugehörigkeit berufen möchte, erfolgte insoweit keinerlei substantiierter Vortrag.

c) Überdies sieht die Kammer die Frist nach § 15 Abs. 4 AGG nicht als gewahrt an. Alle Sachverhalte, die die Klägerin zur Begründung ihres Antrages vorträgt, sollen sich nach ihrem Vortrag vor dem 13. Dezember 2020 zugetragen haben und mithin mehr als zwei Monate vor ihrer erstmaligen Geltendmachung mit Schriftsatz vom 13. Februar 2021.

3. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung.

a) Ein Anspruch ergibt sich weder aus §§ 1, 3 Abs. 1, 3 und 4 AGG, 7, 15 Abs. 1 AGG noch aus dem Arbeitsvertrag in Verbindung mit der arbeitgeberseitigen Fürsorgepflicht.

Der Beklagten sind Handlungen der drei Herren – selbst diese als wahr unterstellt – nicht nach § 278 S. 1 Alt. 2 BGB zuzurechnen. Sie handelten nicht in Erfüllung der Aufgaben der Beklagten. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen unter Ziffer 2 verwiesen. Die Beklagte beging auch kein Organisationsverschulden. Auch insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen verwiesen. Zur Annahme eines geheimen Netzwerkes und einer Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft und / oder ihrer Religionszugehörigkeit fehlt es an substantiiertem Vortrag.

b) Ein Anspruch ergibt sich ferner nicht aus deliktischen Anspruchsgrundlagen, §§ 823 BGB, 823 Abs. 2 BGB, §§ 223, 224, 225 StGB, §§ 826, 831 BGB.

Der Beklagten ist kein deliktsrechtlicher Vorwurf zu machen. Die mögliche schuldhafte Verletzung der arbeitgeberseitigen Schutzpflicht kommt nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber von den Verletzungen der Rechte oder Rechtsgüter des Arbeitnehmers durch andere Arbeitnehmer Kenntnis hat (BAG, Urteil vom 16. Mai 2007 – 8 AZR 709/06 – NZA 2007, 1154 ff. [1161]). Kenntnis von möglichen Rechts(gut)verletzungen durch Kollegen oder Vorgesetzte hatte die Beklagte bis zur Klageerhebung bzw. Eingang der Klageerweiterung vom 13. Februar 2021 nicht. Dies trägt die Klägerin nicht vor und ist mangels Eingaben der Klägerin gegenüber der Beklagten zu einem früheren Zeitpunkt dieser auch nicht möglich gewesen. Die Beklagte musste daher zum Ergreifen von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit oder des Persönlichkeitsrechts der Klägerin keine Veranlassung sehen.

Auch eine Haftung für Verrichtungsgehilfen nach § 831 BGB scheidet aus.

Nach § 831 BGB ist für eine Haftung für das Handeln eines Verrichtungsgehilfen erforderlich, dass der Schaden in Ausführung der Verrichtung und nicht nur bei Gelegenheit zugefügt wurde. Dies ist bei Vorliegen eines inneren Zusammenhangs zwischen den spezifischen Merkmalen sowie dem Zweck der Verrichtung und der schädigenden Handlung der Fall. Bei sexuellen Belästigungen durch Arbeitskollegen und einer damit einhergehenden Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, besteht regelmäßig kein enger Zusammenhang zwischen der Erbringung der Arbeitsleistung und der sexuellen Belästigung. Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen unter Ziffer 2 zu dem fehlenden inneren Zusammenhang im Rahmen des § 278 S.1 BGB verwiesen. Selbst eine vorsätzliche Straftat, die nur gelegentlich der Verrichtung begangen wird, die aber nicht mit der Tätigkeit selbst im Zusammenhang steht, wird nicht von § 831 BGB erfasst (BGH, Urteil vom 14. Februar 1989 – VI ZR 121/88 – NJW-RR 1989, 723 ff. [725]). Ein innerer Zusammenhang der Tätigkeit zur begangenen Straftat besteht allenfalls, wenn die Fürsorge für das verletzte Rechtsgut gerade Hauptgegenstand der Verrichtung war (Spindler in Beck-Großkommentar, § 831 RN. 33 m.w.N.). Dies war nicht der Fall.

4. Da der Klageantrag zu 1 unbegründet ist, war über den Hilfsantrag der Beklagten mangels Eintritt der zulässigen innerprozessualen Bedingung nicht zu entscheiden.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG, § 91 Abs. 1 ZPO; die Klägerin ist die im Rechtsstreit unterlegene Partei.

Der im Urteil gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG festzusetzende Streitwert beruht auf §§ 3, 5 ZPO, § 42 Abs. 2 GKG und setzt sich aus dem dreifachen Bruttomonatsgehalt und € 100.000,00 einheitlich für die klageerweiternd geltend gemachten Anträge zusammen.

Die Berufung war nicht gesondert zuzulassen. Hierfür liegt ein gesetzlicher Grund im Sinne des § 64 Abs. 3 ArbGG nicht vor. Davon unberührt bleibt die Statthaftigkeit der Berufung für die Klägerin nach § 64 Abs. 2 lit. b und ArbGG. Die Einzelheiten der Rechtsmittelbelehrung befinden sich auf der nächsten Seite.

 

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