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Arbeitslohnrückzahlung Mindestlohnanspruch bei Insolvenzanfechtung

Hessisches Landesarbeitsgericht – Az.: 12 Sa 587/21 – Urteil vom 19.10.2021

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 13. April 2021 – 5 Ca 188/20 – teilweise abgeändert und die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.169,74 EUR (in Worten: Eintausendeinhundertneunundsechzig und 74/100 Euro) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28. Dezember 2019 zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 64 % und die Beklagte 36 % zu tragen.

Die Revision wird für den Kläger zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rückzahlung von Lohnzahlungen infolge einer Insolvenzanfechtung.

Der Kläger ist der Insolvenzverwalter in dem am 01. Dezember 2016 eröffneten Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners A (fortan: Insolvenzschuldner). Der Eigenantrag des Insolvenzschuldners auf Verfahrenseröffnung ist am 12. Oktober 2016 bei dem Amtsgericht Gießen eingegangen. Drei Monate zuvor, am 12. Juli 2016, bestanden fällige Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners in Höhe von 1.122.551,65 EUR. Zum Zeitpunkt der Insolvenzantragstellung betrugen die Verbindlichkeiten EUR 3.610.889,73.

Die Beklagte war Arbeitnehmerin des Insolvenzschuldners. Die Beklagte erhielt am 25. August 2016 und am 26. September 2016 Zahlungen in Höhe von jeweils 1.640,31 EUR auf ihr Konto, welche den Verwendungszweck „Lohn August“ bzw. „Lohn September“ auswiesen und über das Konto der Mutter des Insolvenzschuldners erfolgt sind. Die Zahlungen wurden der Beklagten als Netto-Arbeitsentgelt geschuldet.

Auf das Konto der Mutter des Insolvenzschuldners, dass sich am 16. Juli 2016 mit 7,87 EUR im Soll befand, erfolgte am 18. Juli 2016 eine Bareinzahlung aus dem Vermögen des Insolvenzschuldners in Höhe von 4.350,- EUR. Zwischen dem 18. Juli 2016 und dem 10. Oktober 2016 erfolgten weitere Umbuchungen und Bareinzahlungen des Insolvenzschuldners auf das Konto seiner Mutter. Auch erfolgten Überweisungsgutschriften von Schuldnern des Insolvenzschuldners unmittelbar auf das Konto der Mutter des Insolvenzschuldners. Hinsichtlich dieser Bareinzahlungen, Umbuchungen und Überweisungsgutschriften wird auf Bl. 19 f. der Akte verwiesen.

Mit außergerichtlichem Schreiben vom 05. Dezember 2019 hat der Kläger die erfolgten Lohnzahlungen an die Beklagte für die Kalendermonate August und September 2016 angefochten und begehrt im vorliegenden Klageverfahren deren Rückzahlungen.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Lohnzahlungen seien anfechtbar, weil sie nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners erfolgt seien. Da es sich um Zahlungen gehandelt habe, die über das Konto einer Dritten – der Mutter des Insolvenzschuldners – abgewickelt worden seien und zu einer Gläubigerbenachteiligung geführt hätten, läge ein Fall inkongruenter Deckung vor.

Der Kläger hat gemeint, die Regelungen des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns – Mindestlohngesetz (MiLoG) stünden der Anfechtung nicht entgegen, da der Gesetzgeber, hätte er einen weiteren Schutz für Arbeitnehmer/innen für erforderlich gehalten, er diesen im Rahmen der Gesetzgebung zur Änderung der Insolvenzordnung entsprechend berücksichtigt hätte. Überdies seien Arbeitnehmer jedenfalls durch staatliche Hilfen, wie das Insolvenzgeld ausreichend abgesichert. Auch sei eine verfassungsrechtlich legitimierte Anfechtungssperre für Rückforderungen im Wege der Insolvenzanfechtung gem. § 131 Abs. 1 InsO nicht geboten.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die durch ihn verwaltete Insolvenzmasse 3.280,62 EUR sowie vorprozessuale Zinsen in Höhe von 45,89 EUR sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt und behauptet, die Lohnzahlungen für August und September 2019 seien aus dem eigenen Vermögen der Mutter des Insolvenzschuldners geleistet worden. Infolgedessen habe es sich nicht um einen Vermögensgegenstand des Insolvenzschuldners gehandelt, der im Rahmen der Anfechtung zurückgefordert werden könne.

Hinsichtlich des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Niederschriften der mündlichen Verhandlungen und auf den Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Arbeitsgericht Gießen hat mit Urteil vom 13. April 2021 die Klage insgesamt abgewiesen und angenommen, die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 131 Abs. 1 InsO seien zwar erfüllt, insbesondere sei der pauschale Vortrag der Beklagten, die Zahlungen seien aus dem Vermögen der Mutter des Insolvenzschuldners erfolgt, durch die vorgelegten Kontoauszüge widerlegt, dem Rückzahlungsanspruch stünden jedoch die Vorschriften des Mindestlohngesetzes entgegen. Daher könne auch offenbleiben, ob die Insolvenzanfechtung auch deshalb nicht durchgreifen könne, weil im Fall der hier vorliegenden inkongruenten Deckung, die dadurch entstanden sei, dass eine Dritte den Lohn pünktlich und in voller Höhe an die Arbeitnehmerin ausbezahlt habe, eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 129 ff. InsO dahingehend erfolgen müsse, dass der Arbeitnehmerin jedenfalls das im Entgelt enthaltene Existenzminimum verbleiben müsse.

Arbeitslohnrückzahlung Mindestlohnanspruch bei Insolvenzanfechtung
(Symbolfoto: PhotoSGH/Shutterstock.com)

Das Arbeitsgericht hat unter Hinweis auf die Kommentierung im Erfurter Kommentar (ErfK/Müller-Glöge, 21. Aufl. 2021, Einführung, Insolvenzanfechtung) ausgeführt, dass die bundesgesetzlich geregelte Sicherung des Existenzminimums der Arbeitnehmer auch im Insolvenzverfahren berücksichtigt werden müsse und eine Anfechtung hinsichtlich der in der Leistung des Arbeitsentgelts enthaltenen Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs ausgeschlossen sei. Der Mindestlohnanspruch aus § 1 Absatz 1 MiLoG sei ein gesetzlicher Anspruch, der eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch trete. Das Mindestlohngesetz schaffe in seinem Geltungsbereich eine eigenständige Anspruchsgrundlage für alle Arbeitnehmer. Vorrangiger Zweck des Mindestlohngesetzes sei es, jedem Arbeitnehmer ein existenzsicherndes Monatseinkommen zu gewährleisten. Zugleich sollten nach dem Willen des Gesetzgebers die Systeme der sozialen Sicherheit entlastet werden. Die Vorschrift des § 3 Satz 1 MiLoG stelle überdies klar, dass es sich bei dem gesetzlichen Mindestlohnanspruch nach § 1 Abs. 1 i.V.m. § 20 MiLoG um nicht zu Lasten des Arbeitnehmers abdingbares Schutzrecht handele. Der Mindestlohnanspruch werde durch den Arbeitgeber durch die Zahlung eines Brutto-Eurobetrages erfüllt, §§ 1, 2 MiLoG. Bei einer Geldschuld werde die geschuldete Leistung mangels anderweitiger Vereinbarung nur dann bewirkt, wenn der Gläubiger den Geldbetrag, den er beanspruchen könne, endgültig zur freien Verfügung erhalte. Dürfe der Arbeitnehmer den Betrag nicht behalten, trete der Leistungserfolg nicht ein. Eine dem Mindestlohngesetz genügende Vergütungszahlung müsse dem Arbeitnehmer daher endgültig verbleiben, dürfe also nicht rückzahlbar sein.

Das Arbeitsgericht hat weiter ausgeführt, dieser Sichtweise stehe auch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26. Oktober 2017 im Verfahren 6 AZR 511/16 nicht entgegen. Zwar sei dort entschieden worden, dass in Fällen der inkongruenten Deckung, eine Anfechtungssperre in Höhe des auf den Vergütungszeitraum entfallenden Existenzminimums im Falle einer durch Druckzahlung bewirkten Inkongruenz verfassungsrechtlich nicht geboten sei. Das Bundesarbeitsgericht habe aber ausdrücklich klargestellt, dass auf die Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Anspruch auf den Mindestlohn nur erfüllt sei, wenn die Zahlung dem Arbeitnehmer endgültig verbleibe, nicht eingegangen werden müsse, da es sich im streitgegenständlichen Fall um Ausbildungsvergütung gehandelt habe und eine solche gem. § 22 Abs. 3 MiLoG vom Mindestlohngesetz nicht umfasst werde. Dem Verweis des Bundesarbeitsgerichts auf das Mindestlohngesetz lasse sich insoweit aber entnehmen, dass diese Frage im „regulären“ Beschäftigungsverhältnis sehr wohl der Klärung bedürfe.

Das Arbeitsgericht hat gemeint, der Hinweis des Klägers, dass der Beklagten Insolvenzgeldansprüche zustünden und die Anfechtung bereits vor diesem Hintergrund unbedenklich sei, greife nicht durch. Zwar habe das Bundesarbeitsgericht in seinen Entscheidungen vom 29. Februar 2014 (6 AZR 367/13) oder auch vom 26. Oktober 2017 (6 AZR 511/16) entschieden, dass in Fällen der inkongruenten Deckung, die durch die Erfüllung erheblicher Geldrückstände unter dem Druck der Zwangsvollstreckung herbeigeführt würden, eine verfassungskonforme Auslegung der § 129 ff. InsO ausscheide. Das Bundesarbeitsgericht habe hierbei darauf abgestellt, dass bei solchen Entgeltrückständen die Arbeitnehmer die zur Sicherung des Existenzminimums vorgesehenen und geeigneten staatlichen Hilfen unproblematisch in Anspruch nehmen könnten. Der Arbeitnehmer, dem das verdiente Entgelt vor Insolvenzeröffnung nicht mehr gezahlt werde, könne sein Existenzminimum durch staatliche Sozialleistungen bzw. das Insolvenzgeld decken, ohne dass ihm dies rückwirkend wieder entzogen werden könne. Lägen erhebliche Entgeltrückstände vor, könne der Arbeitnehmer außerordentlich kündigen und ohne Sperrfrist Arbeitslosengeld beziehen. Zudem sei das rückständige Entgelt für die letzten drei Monate vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses über das Insolvenzgeld, das er im Regelfall unproblematisch fristgerecht beantragen könne, gesichert. Wolle der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis (noch) nicht beenden, könne er bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Abweichend hiervon habe das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 29. Januar 2014 (6 AZR 345/12) dann allerdings zutreffend in Erwägung gezogen, den Schutz von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, auch auf solche Fälle zu erweitern, in denen der Schuldner den Lohn pünktlich zahle, da in diesen Fällen, der Schutz des Insolvenzgeldanspruches versage. Der Arbeitnehmer könne in diesen Fällen zwar nachträglich Insolvenzgeld beantragen, wenn die Entgeltzahlung erfolgreich angefochten werde und er das Erlangte zurückgewähre. In diesem Fall lebe gem. § 144 Absatz 1 InsO die (Netto-) Entgeltforderung rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlöschens als Insolvenzforderung wieder auf, so dass der Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld hätte. Allerdings sei insoweit die zweimonatige Ausschlussfrist des § 324 Absatz 3 Satz 1 SGB III, die unionsrechtskonform an das Insolvenzereignis anknüpfe, versäumt. Ob die zweimonatige Nachfrist des § 324 Absatz 3 Satz 2 SGB III dem Arbeitnehmer helfe, hänge vom Einzelfall ab und es bestehe jedenfalls rechtstatsächlich ein erhebliches Risiko, dass auch die Nachfrist mangels deren Kenntnis versäumt werde. Auch Arbeitslosengeld könne der Arbeitnehmer für Zeiträume, in denen er gearbeitet hat, nicht rückwirkend beantragen, da dieses erst ab dem Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung gezahlt werde. Auch Sozialhilfe sei erst ab dem Zeitpunkt zu zahlen, in dem der Sozialhilfeträger Kenntnis erlange, dass die Voraussetzungen der Leistung vorliegen (§ 18 SGB XII).

Das Arbeitsgericht hat herausgestellt, dass all diese Möglichkeiten der Sicherung des Existenzminimums bei einer wie hier vorliegenden inkongruenten Deckung, bei denen Zahlungen über das Konto eines Dritten pünktlich erfolgt seien, nicht in Betracht kämen. Die Beklagte habe in der fraglichen Zeit das Arbeitsentgelt erhalten. Auf den Überweisungen seien die Zahlungen auch jeweils als „Lohn“ bezeichnet worden. Die Beklagte habe keinen Anlass gehabt, vorsorglich staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen oder ihr Arbeitsverhältnis fristlos zu kündigen, zumal es am Vorliegen eines wichtigen Grundes gefehlt hätte. Ob überhaupt und wenn ja, für welche Zeiträume die Beklagte hätte Insolvenzgeld beanspruchen können, sei unklar.

Das Arbeitsgericht hat dahinstehen lassen, ob in Fällen der inkongruenten Deckung durch Leistungen Dritter, eine verfassungsrechtlich legitimierte Anfechtungssperre greifen müsse. Denn bereits mit erfolgreicher Rückforderung des Entgelts würden die Rechte des Arbeitnehmers auf den Mindestlohn untergraben. Ein etwaiger Anspruch auf Insolvenzgeld, der dann ggf. rückwirkend wiederaufleben würde, heile diesen Verstoß nicht. Auch würde der – neben der Sicherung des Existenzminimums bestehende – ausdrückliche Zweck des Mindestlohngesetztes, nämlich die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme mit einem Verweis auf etwaige Insolvenzgeldansprüche, ausgehöhlt.

Darüber hinaus vertritt das Arbeitsgericht die Ansicht, dass auch der Hinweis des Klägers auf die Begründung des Gesetzgebers zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz nicht durchgreife. Die Regelungen zum Mindestlohngesetz seien bei der Änderung der Insolvenzordnung offensichtlich überhaupt nicht berücksichtigt worden, da sich die Entwurfsbegründung an keiner Stelle mit den Regelungen des Mindestlohngesetzes auseinandersetze. Im Übrigen werde durch eine „Anfechtungssperre“ auf Grundlage des Mindestlohngesetzes der Schutz der Arbeitnehmer nicht beliebig zu Lasten der Gläubigergemeinschaft ausgedehnt. Der Mindestlohnanspruch sei bundesgesetzlich verankert und grundsätzlich unabdingbar. In diesem gesetzlich abgesteckten Rahmen müsse der Schutz der Gläubigergemeinschaft zurücktreten, da ansonsten die Ziele des Mindestlohngesetzes der Existenzsicherung und der Entlastung der Systeme der sozialen Sicherung vereitelt würden.

Abschließend hat das Arbeitsgericht erkannt, dass dem Kläger gegen die Beklagte zwar ein Rückzahlungsanspruch bezüglich des, den Mindestlohn überschreitenden Entgelts zustehe, dieser Anspruch jedoch ohne den erforderlichen und nicht gehaltenen Vortrag des Klägers zu den im Einzelnen geleisteten Stunden nicht der Höhe nach bestimmt werden könne. Die Anfechtungssperre umfasse daher vorliegend den gesamten streitgegenständlichen Forderungsbetrag.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten der Argumentation des Arbeitsgerichts werden die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils in Bezug genommen.

Das Urteil des Arbeitsgerichts ist dem Kläger am 06. Mai 2021 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2021, eingegangen beim Hessischen Landesarbeitsgericht am 18. Mai 2021, hat der Kläger Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts eingelegt und diese zugleich begründet.

Der Kläger ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe die Klage zu Unrecht abgewiesen. Eine Anfechtungssperre, die von der Rechtsprechung lediglich für Fälle kongruenter Deckung entwickelt worden sei, bleibe in Fällen inkongruenter Zahlungen unzulässig. Weder die neugefassten Regelungen zur Insolvenzordnung noch das Mindestlohngesetz böten für die Sichtweise des Arbeitsgerichts eine Stütze.

Der Kläger vertritt die Ansicht, die Bestimmungen des Mindestlohngesetzes bezögen sich lediglich auf das Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und regelten nicht das Verhältnis zu Dritten. Die durch das Arbeitsgericht getroffene multilaterale Auslegung lasse sich auch nicht aus § 3 MiLoG herleiten. Dem Schutzzweck des Mindestlohngesetzes sei vorliegend genüge getan, da der Beklagten der Mindestlohn vertraglich zugesichert worden war und sie diesen von dem Insolvenzschuldner mit Erfüllungswirkung zur freien Verfügung überwiesen erhalten habe. Infolgedessen sei der Leistungserfolg bei ihr eingetreten. Im bilateralen Verhältnis zwischen der Beklagten und dem Insolvenzschuldner sei die Zahlung auch nicht zurückzuzahlen gewesen. Der vorliegende Rechtsstreit behandle gerade keine Rückzahlung an den Arbeitgeber, sondern eine qualitativ und sinnhaft völlig andere Konstellation, nämlich die Insolvenzanfechtung nach § 131 Abs. 1 InsO, welche das Ur-Synallagma zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht berühre. Wollte man hingegen der Auffassung des Arbeitsgerichts folgen, wäre der Mindestlohn für alles und jedermann, in jeder denkbaren Konstellation, unantastbar. Das gesamte Zivilrecht wäre bis zur Höhe des Mindestlohns faktisch außer Kraft gesetzt.

Der Kläger meint darüber hinaus, die Ansicht des Arbeitsgerichts, der Beklagten seien bei einer Rückzahlung die Möglichkeiten der Sicherung des Existenzminimums verwehrt, sei unzutreffend. Vielmehr stünde ihr grundsätzlich rückwirkend ein Anspruch auf Insolvenzgeld wegen § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III zu. Der Anspruch auf Insolvenzgeld lebe nach der erfolgten Anfechtung wieder auf. Soweit der Anspruch auf Insolvenzgeld aus anderen Gründen nicht mehr bestehe, etwa weil er bereits für andere Zeiträume genutzt worden sei, lebe ein Anspruch auf Arbeitslosengeld wieder auf.

Der Kläger weist im Übrigen darauf hin, dass die Beklagte auch wegen der bestehenden Pfändungsvorschriften nicht schutzlos gestellt sei. Sie bedürfe daher eines durch das Mindestlohngesetz vermittelten Schutzes nicht.

Vorsorglich führt der Kläger aus, dass der Beklagten für die Kalendermonate August 2016 und September 2016 ausgehend von dem damaligen Mindestlohn von 8,50 EUR brutto pro Stunde für jeden der beiden Monate ein Bruttoarbeitsentgelt i.H.v. 1.425,45 EUR zugestanden hätte. Ausgehend von der zutreffenden Steuerklasse 1 der Beklagten, ihrer Kirchensteuerpflichtigkeit und unter Berücksichtigung des Zusatzbeitrags der gesetzlichen Krankenversicherung ergäbe sich ein Mindestlohn i.H.v. 1.055,44 EUR netto, der von dem tatsächlich gezahlten Nettoentgelt i.H.v. 1.640,31 EUR in Abzug zu bringen sei. Zumindest in Höhe dieses Differenzbetrags von 584,87 EUR pro Monat (= 1.169,74 EUR für 2 Monate) greife die Anfechtung auch unter Berücksichtigung der unzutreffenden Auffassung des Arbeitsgerichts durch.

Hinsichtlich der genauen Begründung wird auf die Berufungsbegründungsschrift vom 18. Mai 2021 und auf die Sitzungsniederschrift vom 19. Oktober 2021 verwiesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 13. April 2021 – 5 Ca 188/20 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.280,62 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags. Sie meint, der Anwendungs- und Schutzbereich des Mindestlohngesetzes sei nicht lediglich auf das synallagmatische Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu reduzieren. Die Durchsetzung der Vorschriften des ersten Abschnitts des Mindestlohngesetzes unterläge der staatlichen Kontrolle durch die Zollverwaltung und durch andere Behörden. Dies unterstreiche die von dem Arbeitsgericht angenommene umfassende Sicherung des Mindesteinkommens nicht nur Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien untereinander, sondern auch gegenüber den Vorschriften der Insolvenzordnung. Auch der Hinweis des Klägers auf den Pfändungsschutz führe nicht weiter, da dieser nicht gewährleiste, dass das Existenzminimum für die Monate August und September 2016 nach erfolgreicher Insolvenzanfechtung dauerhaft bei der Beklagten verbleibe. Eine Sicherung durch das Insolvenzgeld scheide aus, da die Beklagte bereits für zwei Monate Insolvenzgeld erhalten habe, so dass allenfalls der September 2016 noch abgesichert werden könnte. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen für eine Gewährung von Arbeitslosengeld für August 2016 nicht vor.

Hinsichtlich der Einzelheiten ihres Vorbringens im Berufungsrechtszug wird auf die Berufungserwiderungsschrift vom 13. Juli 2021 und auf die Sitzungsniederschrift vom 19. Oktober 2021 verwiesen.

Entscheidungsgründe

I. Die gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gießen vom 13. April 2021 – 5 Ca 188/20 – eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Das Rechtsmittel ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 b) ArbGG statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,- EUR übersteigt, es ist auch fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 4 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.

II. Die Berufung ist überwiegend unbegründet. Nur hinsichtlich des den Mindestlohnanspruch übersteigenden Teil des erlangten Nettoentgelts i.H.v. insgesamt 1.169,74 EUR greift die Anfechtung durch. In diesem Umfang ist die Berufung begründet. Im Übrigen hat das Arbeitsgericht die Klage zu Recht und mit uneingeschränkt zutreffender Begründung abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht folgt den Ausführungen des Arbeitsgerichts, § 69 Abs. 2 ArbGG, macht sich diese zu Eigen und nimmt auf sie Bezug. Das Vorbringen des Klägers im Berufungsrechtszug veranlasst lediglich zu folgenden kurzen Ergänzungen:

1. Der Kläger ist der Auffassung, die Rückzahlung der durch eine Dritte an die Beklagte geleisteten Netto-Arbeitsentgelte für die Kalendermonate August und September 2016 an ihn sei qualitativ etwas anderes als eine Rückzahlung an seine Arbeitgeberin. Er erkennt im Grundsatz an, dass eine dem Mindestlohngesetz genügende Vergütungszahlung im Hinblick auf die Erfüllungswirkung der Arbeitnehmerin dauerhaft zu verbleiben habe und nicht durch die Hintertür wieder rückzahlbar sein dürfe, sieht sich jedoch in diesem Zusammenhang als einen außenstehenden Dritten an. Diese Sichtweise ist verfehlt. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt gemäß § 80 Abs. 1 InsO dazu, dass der Schuldner das Recht verliert, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis und damit die Arbeitgeberfunktionen gehen auf den Insolvenzverwalter über. Zwar bleibt der Insolvenzschuldner Vertragspartner des Arbeitsvertrags, im Rahmen der Unternehmensfortführung rückt der Insolvenzverwalter jedoch in die Arbeitgeberstellung der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO fortbestehende Arbeitsverhältnisse ein (Schaub Arbeitsrechtshandbuch, 19. Aufl. 2021 § 16 Rn. 22; Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 23). Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung geht zu Recht davon aus, dass der Insolvenzverwalter mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens in die Arbeitgeberstellung des Insolvenzschuldners eintritt und für die Dauer des Insolvenzverfahrens statt des Vertragsarbeitgebers die Funktion des Arbeitgebers ausübt (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, 27. September 2010 – GmS-OGB 1/09 – NZA 2011, 534). Infolgedessen handelt es sich nicht, wie der Kläger annimmt, um ein multilaterales Verhältnis, welches vorliegend zu beachten sei, sondern, wie er es formuliert, um ein bilaterales.

In diesem bilateralen Verhältnis müssen, auch nach Auffassung des Klägers, die Vorschrift des Mindestlohngesetzes eingehalten werden. Eine von dem Arbeitgeber geleistete Zahlung kann mithin von dem Arbeitgeber, auch wenn es sich nunmehr um den eingerückten Insolvenzverwalter handelt, in Höhe des Mindestlohngesetzes nicht zurückgefordert werden.

Hieraus folgt wiederum, dass die Sichtweise des Klägers, eine Anfechtungssperre in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns würde dazu führen, dass dieser Mindestlohn für alle und jedermann und in jeder Konstellation unantastbar wäre, unzutreffend ist. Selbstverständlich können Dritte – im Rahmen der Pfändungsgrenzen – auch auf gesetzliche Mindestlohnansprüche eines Schuldners zugreifen. Nur der Arbeitgeber, der diese Mindestlohnansprüche zuvor ausgezahlt hat, kann diese nicht zurückfordern.

2. Auch die Neufassung von § 142 InsO zu sog. Bargeschäften streitet nicht zugunsten des Klägers. § 142 InsO bestimmt, dass Bargeschäfte nur unter den Voraussetzungen von § 133 Abs. 1 bis 3 InsO und bei Kenntnis des Gläubigers von dem unlauteren Handeln des Schuldners anfechtbar sind. Da die Auszahlung des Arbeitsentgelts vorliegend über das Konto der Mutter des Insolvenzschuldners erfolgt ist, die Zahlungsunfähigkeit des Insolvenzschuldners zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden hat und durch den auf den Kontoauszügen dokumentierten Verwendungszweck und die Angabe des Namens des Anweisenden erkennbar war, dass ein Dritter die Leistung bewirkt hat, sind die geleisteten Geldzahlungen dem Grunde nach anfechtbar. Diese Feststellung enthält jedoch keine Aussage dazu, ob die Zahlungen in voller Höhe anfechtbar sind oder nur hinsichtlich des, den gesetzlichen Mindestlohn oder die maßgebenden Pfändungsfreigrenzen übersteigenden Teils.

3. Auch die Ansicht des Klägers, die Sichtweise des Arbeitsgerichts zum Umfang des Schutzes, der durch das Mindestlohngesetz gewährleistet werden solle, sei mit der Insolvenzordnung nicht vereinbar und das Mindestlohngesetz gehe der Insolvenzordnung auch nicht vor, überzeugt nicht. Zutreffend ist zweifellos, dass das Mindestlohngesetz der Insolvenzordnung in der Tat nicht vorgeht. Sowohl die Insolvenzordnung, als auch das Mindestlohngesetzes sind bundesgesetzliche Regelungen, die in keinem Rangverhältnis zueinanderstehen. Einen Vorrang des Mindestlohngesetzes vor den Regelungen der Insolvenzordnung hat das Arbeitsgericht auch nicht anerkannt. Vielmehr ist zu beachten, dass bei der Ausübung von Rechtspositionen, die eine Norm gewährt, stets auch andere Rechtsnormen zu beachten sind. Infolgedessen kommen auch Insolvenzanfechtungen nur im Rahmen und im Umfang des geltenden Rechts in Betracht. Konsequenterweise hat das Arbeitsgericht auch nicht die Anfechtung für unzulässig erklärt, sondern ausgeführt, dass sich die Anfechtung nur auf den, den Mindestlohn übersteigenden Auszahlungsbetrag bezieht. Der Umstand, dass der Kläger die erforderlichen Angaben zur Berechnung des Mindestlohnes im erstinstanzlichen Verfahren nicht mitgeteilt hat und er deswegen mit der Anfechtung insgesamt nicht durchdringen konnte, liegt im Verantwortungsbereich des Klägers.

4. Schließlich spricht für die Sichtweise des Arbeitsgerichts insbesondere die soziale Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmerin. Soweit der Kläger mit der Berufung weiterhin die Auffassung vertritt, die Beklagte hätte ihre Existenz durch Insolvenzgeld sichern können, trifft dies zumindest teilweise nicht zu. Selbst wenn sie nach Rückzahlung der erlangten Nettovergütung einen Antrag auf Insolvenzgeld rechtzeitig stellen und die Arbeitsagentur diesen Zeitpunkt noch als hinreichend ansehen sollte – was unterschiedlich bewertet werden dürfte – stünde ihr vorliegend nur noch Insolvenzgeld für einen Monat zu. Wegen der erfolgten Insolvenzgeldvorfinanzierung und der Fortführung des Betriebs im Zeitraum zwischen der Insolvenzantragstellung und der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist der drei Monate umfassende Insolvenzgeldanspruch der Klägerin für die Monate Oktober und November bereits verbraucht. Die Beklagte könnte somit bestenfalls noch für einen der beiden Monate, für die der Kläger vorliegend die Rückzahlung begehrt, Insolvenzgeld erhalten. Andere Ansprüche wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe kommen rückwirkend nicht in Betracht. Die von dem Kläger angesprochenen etwaigen Regressansprüche der Beklagten gegen die Dritte als Zahlungsmittlerin sind vor dem Hintergrund der bestehenden Darlegungs- und Beweislast im Rahmen von § 826 BGB und des erheblichen Kostenrisikos der Beklagten ausschließlich theoretischer Natur. Zwar ist es zutreffend, dass Anfechtungsansprüche gegen den Angewiesenen und den Zuwendungsempfänger im Verhältnis der Gesamtschuld zueinander stehen (BGH 29. November 2007 – IX ZR 121/06 – NJW 2008, 1067), Eine Anfechtung ist jedoch hinsichtlich der Dritten nicht vorgetragen, sodass eine Ausgleichungspflicht unter Gesamtschuldnern ausscheidet. Auch die Vollstreckungsschutzvorschriften können der Beklagten das durch das Mindestlohngesetz geschützte Minimum nicht sichern, da ein dauerhafter Verbleib des Mindestlohns für die Monate August und September 2016 nicht gewährleistet wäre.

5. Nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers hätte der Beklagten für jeden der beiden Kalendermonate August und September 2016 ausgehend von dem damaligen Mindestlohn von 8,50 EUR und den geleisteten Arbeitsstunden ein Bruttoarbeitsentgelt i.H.v. 1.425,45 EUR zugestanden. Unter Berücksichtigung der steuerlich und sozialversicherungsrechtlich relevanten Merkmale errechnet sich hieraus für jeden der beiden Monate ein Nettoeinkommen von 1.055,44 EUR statt des ausgezahlten Betrags von 1.640,31 EUR. Hinsichtlich des sich ergebenden Differenzbetrags von 584,87 EUR für jeden der beiden Monate August und September 2016 besteht keine Anfechtungssperre. Die Berufung ist mithin im Umfang von 1.169,74 EUR begründet und im Übrigen unbegründet.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ArbGG.

IV. Die Zulassung der Revision ist nach § 72 Abs. 2 ArbGG veranlasst, da die streitentscheidende Frage, ob Mindestlohnansprüche bei inkongruenter Deckung im Rahmen einer erfolgten Insolvenzanfechtung zu berücksichtigen sind, höchstrichterlich nicht geklärt ist.

 

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