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Arbeitsunfähigkeit zu Beginn des Arbeitsverhältnisses – Entgeltfortzahlung

ArbG Braunschweig – Az.: 6 Ca 280/16 Ö – Urteil vom 25.10.2016

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger ausstehende Vergütung für den Kalendermonat April 2016 in Höhe von 2.256,97 € brutto abzüglich geleisteten Krankengeldes in Höhe von 1.110,78 € netto nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 01.05.2016 zu zahlen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt das beklagte Land.

3. Der Streitwert wird auf 1.146,19 € festgesetzt.

4. Die Berufung wird gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um einen Entgeltfortzahlungsanspruch für den Monat April 2016.

Der Kläger war seit Anfang 2016 bis zum 31.03.2016 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Unter dem Datum des 29.03./30.03.2016 unterzeichneten die Parteien einen Arbeitsvertrag, wonach der Kläger ab dem 01.04.2016 als Schulassistent bei einer Vergütung nach der Entgeltgruppe 6 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) wird. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der TVL Anwendung. Der Kläger wurde unmittelbar vor der Arbeitsaufnahme an zwei Tagen durch den bisherigen Schulassistenten in die Tätigkeit eingeführt. Er erschien am 01.04.2016 zur Arbeit. An diesem Tag fanden im Wesentlichen ein Einarbeitungsgespräch sowie eine Gebäudebegehung statt. In geringem Umfang verrichtete der Kläger an diesem Tag Kopier- und Zuschnittarbeiten.

Am 04.04.2016 erschien der Kläger um 07.15 Uhr zur Arbeit und übergab die von ihm gefertigten Kopien. Nach ca. zwei Stunden an diesem Tag meldete er sich krank. Er teilte mit, aufgrund einer depressiven Erkrankung seit Beginn des Jahres 2016 krankgeschrieben gewesen zu sein und gehofft zu haben, mit der Aufnahme der Beschäftigung eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes herbeiführen zu können, was aber gescheitert sei. Er war sodann fortlaufend bis zum 30.04.2016 arbeitsunfähig krankgeschrieben.

Im Rahmen eines Personalgesprächs vom 14.04.2016 wies der Kläger darauf hin, nunmehr weniger Krankengeld als zuvor zu beziehen und fragte, ob eine höhere Einstufung als in Stufe 1 möglich sei, was das beklagte Land verneinte. Er erklärte nochmals, in Absprache mit dem ihn behandelnden Arzt habe er sich zum Zwecke der Arbeitsaufnahme gesundschreiben lassen in der Hoffnung auf eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes. Am 02.04.2016 habe er feststellen müssen, dass er der Tätigkeit bei dem beklagten Land hingegen aufgrund seiner Erkrankung nicht gewachsen sei.

Das beklagte Land zahlte dem Kläger für den Monat April 2016 keine Vergütung. Der Kläger erhielt Krankengeld für diesen Monat in Höhe von 1.110,78 € netto. Eine von dem beklagten Land bei der Krankenkasse des Klägers erbetene Auskunft, ob eine Fortsetzungserkrankung vorliege, erteilte die Krankenkasse unter Hinweis auf die Schweigepflicht nicht.

Der Kläger behauptet -auch unter Hinweis auf eine ärztliche Stellungnahme vom 05.10.2016-, am 01.04.2016 arbeitsfähig gewesen zu sein. Er sei dann erneut erkrankt. Er meint, es komme im Übrigen auf die Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt der beabsichtigten Arbeitsaufnahme oder zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrages nicht an. Gleiches gelte für die Frage, ob eine Fortsetzungserkrankung vorliegt.

Der Kläger beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an ihn ausstehende Vergütung für den Kalendermonat April 2016 in Höhe von 2.256,97 € brutto abzüglich geleisteten Krankengeldes in Höhe von 1.110,78 € netto nebst Zinsen hierauf in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 01.05.2016 zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Land behauptet, der Kläger sei weder bei Abschluss des Arbeitsvertrages noch bei der Aufnahme der Tätigkeit am 01.04.2016 tatsächlich arbeitsfähig gewesen. Das Land meint, es handele sich um einen missglückten Arbeitsversuch. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1989 ist das Land der Auffassung, der Schutzzweck der Norm, die die Entgeltfortzahlung regelt, gebiete keine Entgeltfortzahlung in Fällen, in denen bei Vertragsabschluss feststehe, dass dem Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung ganz oder auch nur vorübergehend unmöglich ist. Dies folge aus dem Gesichtspunkt der Anfechtbarkeit. Schließlich meint das beklagte Land, das geleistete Krankengeld sei brutto in Abzug zu bringen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

A.

Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 2.256,97 € brutto abzüglich auf die Krankenkasse übergegangenen Krankengeldes in Höhe von 1.110,78 € netto gem. § 22 Abs. 1 TV-L.

I.

Der Anspruch besteht dem Grunde nach.

1.

Zwischen den Parteien bestand vom 01.04.2016 bis zum 30.04.2016 ein Arbeitsverhältnis aufgrund des zwischen ihnen Ende März 2016 abgeschlossenen Arbeitsvertrages. Der Hinweis des beklagen Landes auf die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs ist unerheblich. § 22 Abs. 1 TV-L setzt allein ein bestehendes Arbeitsverhältnis voraus. Auf die sozialversicherungsrechtliche Bewertung kommt es nicht an. Darüber hinaus ist die Rechtsfigur des missglückten Arbeitsversuchs seit Inkrafttreten des SGB V nicht mehr anzuwenden (BSG v. 04.12.1997, 12 RK 3/97, zitiert nach juris).

Das beklagte Land hat das Arbeitsverhältnis nicht wirksam angefochten. Eine Anfechtungserklärung liegt nicht vor. Auf die von dem beklagten Land angenommene Anfechtbarkeit kommt es insoweit nicht an.

2.

Der Kläger war in dem Zeitraum, für den er Vergütung verlangt, arbeitsunfähig erkrankt. Es kann insoweit dahingestellt bleiben, ob die Arbeitsunfähigkeit erst am 04.04. bzw. im Laufe des Arbeitstages am 04.04.2016 eintrat oder er bereits seit dem 01.04.2016 arbeitsunfähig erkrankt war. Sollte der Kläger am 01.04.2016 und teilweise 04.04.2016 arbeitsfähig gewesen sein, ergäbe sich ein entsprechender Anspruch des Klägers aus § 611 BGB i.V.m. dem zwischen den Parteien geschlossenen Arbeitsvertrag aufgrund tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung.

3.

Es kann dahingestellt bleiben, ob – wofür viel spricht – es sich bei der attestierten erneuten Arbeitsunfähigkeit ab dem 04.04.2016 um eine Fortsetzungserkrankung gehandelt hat. Gem. § 22 Abs. 1 Satz 2 TV-L gelten bei erneuter Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit sowie bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die gesetzlichen Bestimmungen. Die Regeln über die mehrfachen Erkrankungen in § 3 Abs. 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz gelten nur im jeweiligen Arbeitsverhältnis. Nur dann, wenn ein Arbeitsverhältnis beendet und später ein rechtlich selbständiges weiteres Arbeitsverhältnis zu demselben Arbeitgeber begründet wird, ist ein Arbeitsverhältnis als einheitliches Arbeitsverhältnis zu behandeln, wenn zwischen diesen Arbeitsverhältnissen ein enger sachlicher Zusammenhang besteht (Erfurter Kommentar/Reinhard, 16. Aufl., § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz, Rdnr. 42 .m.w.N.). Die Voraussetzungen für diesen Ausnahmefall liegen nicht vor.

4.

Der Anspruch des Klägers ist nicht ausgeschlossen, weil er möglicherweise bereits bei Beginn des Arbeitsverhältnisses am 01.04.2016 tatsächlich arbeitsunfähig krank war. § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz sieht vor, dass der Anspruch auf Entgeltfortzahlung erst nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses entsteht. Von dieser gesetzlichen Regelung sind die Tarifvertragsparteien in § 22 TV-L zugunsten der Arbeitnehmer abgewichen. Eine dem § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz entsprechende Wartezeitregelung ist in dem Tarifvertrag nicht vereinbart. Somit haben die Arbeitnehmer im Anwendungsbereich des TV-L auch dann Anspruch auf Entgeltfortzahlung ab dem Einstellungstag, wenn sie vor dem vorgesehenen Beschäftigungsbeginn bereits erkrankt sind (Clemens/Scheuring/Steingen/Wie- se, Kommentar zum TV-L, § 22 Rdnr. 13).

5.

Der Anspruch des Klägers ist nicht unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Norm (hier § 22 TV-L) ausgeschlossen. Der Kläger hat selbst dann einen Anspruch auf die geforderte Entgeltfortzahlung, wenn er nicht nur zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrages arbeitsunfähig war (unstreitig), sondern die Arbeitsunfähigkeit auch noch zum vorgesehenen Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme fortbestand.

Die zum damals geltenden § 1 Abs. 1 Lohnfortzahlungsgesetz ergangene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.07.1989, 5 AZR 491/88, AP Nr. 87 zu § 1 Lohnfortzahlungsgesetz, ist nicht einschlägig (a.A. Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, a.a.O., § 22 Rdnr. 14; Dassau/Wiesend-Rothbrust, TVÖD Kompaktkommentar, 5. Aufl., § 22 Rdnr. 57).

a)

Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1989 zu den damals einschlägigen Normen § 1 Lohnfortzahlungsgesetz, § 616 BGB, § 63 HGB, § 133 c Gewerbeordnung ausgeführt, dass die Regelungen über die Entgeltfortzahlung als eine gesetzliche Ausgestaltung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegen Rechtsmissbrauch geschützt werden müssen und des begrenzenden Schutzes gegen Anspruchüberdehnung bedürfen. Der Schutzzweck der Normen erstrecke sich nicht auf Fallgestaltungen, in denen schon bei Vertragsabschluss feststeht, dass dem Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung – ganz oder auch nur vorübergehend – unmöglich ist.

b)

Dieser vom Bundesarbeitsgericht vorgenommenen Einschränkung bedarf es nicht (mehr). Der Gesetzgeber hat nunmehr in § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz durch die Aufnahme der Wartezeitregelung eine Anspruchsbegrenzung selbst vorgenommen. Dass in dem TV-L die Wartezeitregelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes nicht aufgenommen wurde, ist eine bewusste Entscheidung der Tarifvertragsparteien im Sinne einer Besserstellung der Beschäftigten. Dies führt nicht dazu, dass die Rechtsprechung trotz geänderter gesetzlicher Regelung weiterhin anzuwenden ist. Für die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene Einschränkung, wonach der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ausgeschlossen ist, wenn bei Vertragsabschluss Arbeitsunfähigkeit bestand und diese zum Zeitpunkt der vorgesehenen Aufnahme der Beschäftigung fortdauert, ausgeschlossen ist, findet sich weder in § 22 TV-L noch in § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz ein Anhaltspunkt (vgl. Treber, Entgeltfortzahlungsgesetz, 2. Aufl., § 3 Rdnr. 97; Schmitt, Entgeltfortzahlungsgesetz 7. Aufl., § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz, Rdnr. 207, 208; Schmitt, Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, RdA 1996, Seite 5 (6)).

Der Arbeitgeber ist durch § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz hinreichend geschützt. Stellt der Arbeitgeber bei Beginn der Beschäftigung fest, dass der eingestellte Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist, hat er regelmäßig die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis kurzfristig wieder zu beenden, ohne dass er mit nennenswerten Entgeltfortzahlungskosten belastet wird. Der Arbeitgeber hat die Möglichkeit – wovon in der Regel auch Gebrauch gemacht wird – eine Probezeit mit einer kurzen Kündigungsfrist zu vereinbaren. Auch im vorliegenden Fall wären bei einer Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (nahezu) keine Entgeltfortzahlungskosten für das beklagte Land entstanden.

Neben dem sich aus § 3 Abs. 3 Entgeltfortzahlungsgesetz ergebenden Schutz des Arbeitgebers besteht ggf. auch die Möglichkeit der Anfechtung des Arbeitsverhältnisses gem. §§ 119 Abs. 2, 123 BGB. Soweit das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung aus dem Jahr 1989 auf die Anfechtbarkeit abstellt, den Arbeitgeber nicht aber auf die tatsächliche Anfechtung verwiesen hat, folgt die Kammer dem nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, warum eine Anfechtbarkeit des Arbeitsverhältnisses zum Wegfall des Entgeltfortzahlungsanspruchs führen soll, wenn doch gleichermaßen die Möglichkeit der tatsächlichen Anfechtung besteht.

II.

Der von dem Kläger errechneten Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs in Höhe von 2.256,97 € brutto ist das beklagte Land nicht entgegengetreten. Antragsgemäß ist das vom Kläger im Monat April 2016 erhaltene Krankengeld in Höhe von 1.110,78 € netto in Abzug zu bringen. In dieser Höhe ist der Vergütungsanspruch des Klägers gem. § 115 SGB X auf die Krankenkasse übergegangen. Der Anspruchsübergang gem. § 115 SGB X beschränkt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes auf die Höhe des Nettokrankengeldes (vgl. BAG v. 25.06.2014, 5 AZR 283/12, AP Nr. 1 zu § 187 SGB III; BAG v. 04.12.2002, 7 AZR 437/01, AP Nr. 24 zu § 2 BAT SR2y).

III.

Der Zinsanspruch beruht auf den §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB. Der Anspruch des Klägers war gem. § 24 Abs. 1 TV-L zum 30.04.2016 fällig.

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO.

Die Streitwertfestsetzung erfolgte gem. § 61 Abs. 1 ArbGG in Höhe der Klagforderung.

Die gesonderte Zulassung der Berufung beruht auf § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG.

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