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Außerordentliche Kündigung wegen sexueller Belästigung

ArbG Nienburg, Az.: 2 Ca 460/11 Ö, Urteil vom 19.04.2012

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 09.11.2011 weder fristlos noch mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2012 beendet wird.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 14.810,00 Euro brutto abzüglich als Arbeitslosengeld von der Beklagten geleisteter 1.648,01 Euro netto zuzüglich 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz

auf 5.265,00 Euro seit dem 01.12.2011,

auf weitere 2.962,00 Euro seit dem 01.01.2012,

auf weitere 2.962,00 Euro seit dem 01.02.2012

und auf weitere 1.972,99 Euro seit dem 01.03.2012

zu zahlen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4. Der Streitwert wird auf 22.047,99 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtmäßigkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung sowie um Annahmeverzugslohnansprüche.

Der am … 1962 geborene Kläger ist seit dem …1980 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als psychologisch-technischer Assistent im psychologischen Dienst zu einer monatlichen Bruttovergütung von zuletzt im Jahresdurchschnitt ca. 3.350,00 Euro beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Tarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit (TV-BA) Anwendung. Der Kläger wird bei der Beklagten in deren Agentur in A-Stadt eingesetzt. Seine Tätigkeit ist der Tätigkeitsebene V zugeordnet.

Außerordentliche Kündigung wegen sexueller Belästigung
Symbolfoto: Zinkevych/Bigstock

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer im Sinne des § 23 KSchG.

Ebenfalls in der Agentur A-Stadt der Beklagten ist Frau X seit 1996 tätig, seit dem Jahr 2000 wird sie wie der Kläger im psychologischen Dienst eingesetzt. Frau X übt im psychologischen Dienst die Tätigkeit einer Teamassistentin aus. Diese Tätigkeit ist eine Vergütungsgruppe unter der Vergütungsgruppe des psychologisch-technischen Assistenten angesiedelt. Der Kläger ist nicht Dienstvorgesetzter von Frau X, beide unterstehen der Leitung eines ausgebildeten Psychologen.

Eine private Nutzung der EDV, insbesondere der E-Mail-Software, ist bei der Beklagten nicht gestattet. Dennoch nutzten der Kläger und Frau X die EDV der Beklagten für private Korrespondenz. Der von der Beklagten zur Gerichtsakte gereichte E-Mail-Verkehr ist von sexuell anzüglichen Mitteilungen bzw. Äußerungen des Klägers geprägt. So übersandte der Kläger seiner Kollegin Frau X am 26.10.2010 einen Wort-Bild-Clip, in dem es heißt: „Neulich beim Spaziergang … – und jetzt weiß ich endlich, was ein Brückentag ist …“. Dazu werden Fotos eines auf einem begehbaren Brückengeländer in schwindelerregender Höhe kopulierenden Paares gezeigt. In der als Anlage B1 zur Gerichtsakte gereichten E-Mail-Korrespondenz vom … bat der Kläger Frau X, ihm einen „5-Minuten-Kuss“ zu geben.

Nachdem die Beklagte vom Verhalten des Klägers erfuhr, hörte sie ihn am 12.10.2011 zu dem Vorwurf sexueller Belästigung und Nötigung zum Nachteil von Frau X an. Mit Schreiben vom 18.10.2011 nahm der Kläger hierzu Stellung. Mit Schreiben vom 04.11.2011 (Bl. 92 – 109 d. A.) hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Personalrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung des Klägers an. Mit Schreiben vom 08.11.2011 erklärte der Personalrat, keine Einwände gegen die geplante außerordentliche fristlose Kündigung zu haben. Ebenfalls mit Schreiben vom 08.11.2011 stimmte der Personalrat der hilfsweise beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2012 zu.

Mit Schreiben vom 09.11.2011 kündigte die Beklagte das zu dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2012.

Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger. Er bringt vor, zwischen ihm und Frau X sei es im Laufe des Beschäftigungsverhältnisses zu zahlreichen verbalen Anzüglichkeiten gekommen, die jedoch stets einvernehmlich erfolgt seien. Frau X habe sich an diesen Gesprächen in mindestens ebensolchem Maße beteiligt wie er selbst, teilweise sei sie sogar die treibende Kraft gewesen. Bei den von ihm gegenüber Frau X geäußerten Anzüglichkeiten habe es sich deshalb nicht um unerwünschte Verhaltensweisen iSv. § 3 AGG gehandelt.

Der Kläger trägt vor, mehrere Arbeitskollegen und Arbeitskolleginnen könnten bestätigen, dass Äußerungen mit sexuellem Inhalt auch in hohem Maße von Frau getätigt worden seien. Er bezieht sich dabei auf fünf schriftliche Erklärungen der Kollegen/Kolleginnen (Bl. 144 – 148 d. A.), die wie folgt lauten:

„Erklärung:

Ich kenne Herrn [den Kläger] und Frau seitdem sie im … beschäftigt sind. Den Umgangston zwischen den beiden würde ich als „sehr locker“ bezeichnen. Auffällig war jedoch, dass sich Frau gegenüber Herrn B sehr oft in Fäkalsprache bzw. anstößig ausdrückte und Worte wie „bumsen, lecken, ficken und blasen“ verwendete.

-Stadt, 04.01.12 … Unterschrift“

„Aufgrund meiner Tätigkeit im Ärztlichen Dienst arbeite ich häufig mit dem Psychologischen Dienst zusammen.

Seit vielen Jahren sind mir Herr und auch Frau bekannt. Den Umgangston zwischen den beiden würde ich zeitweilig zweideutig bis vulgär bezeichnen. Dieses ist im beiderseitigen Einvernehmen geschehen.

Ich habe diesbezüglich, je nach Gesprächsinhalt bzw. -anlass, sowohl Herrn als auch Frau als treibende Kraft erlebt. Einen nötigenden Charakter konnte ich weder von der einen noch von der anderen Seite erkennen.

-Stadt, 19.02.2012 … Unterschrift“

„Bei meinen Postgängen war der Umgangston zwischen Herrn und Frau gelinde gesagt immer ziemlich obszön, wobei ich finde, dass Frau Herrn eher übertroffen hat.

-Stadt, 17.11.2011 … Unterschrift“

„Dass Frau und Herr sich gesiezt haben, würde ich eher als besondere Note bezeichnen, so viel wie die beiden in ihrer langen Zusammenarbeit voneinander wussten. Der Umgangston zwischen den beiden war vertraut bis schlüpfrig. Frau hat in den zahlreichen Raucherpausen, die wir miteinander verbracht haben, nie ein negatives Wort über Herrn verloren.

-Stadt, d. 17.01.12 … Unterschrift“

„Ich habe in meiner Funktion als Gleichstellungsbeauftragte der … bis Ende 2008 auch mehrere Gespräche mit Frau geführt. In diesen Gesprächen ging es nie um Herrn .

-Stadt, d. 16.01.12 … Unterschrift

Zwischen Frau und Herrn herrschte in der Regel ein ziemlich flapsiger Umgangston.

-Stadt, d. 16.01.12 … Unterschrift“

Der Kläger räumt ein, dass es zwischen den Beteiligten zweimal zu Handlungen mit sexuellem Bezug gekommen sei. Einmal sei es im Frühjahr 2010 einvernehmlich zu einem Zungenkuss im Büro des Klägers gekommen. Im Sommer 2010 habe ein weiterer sexuellen Kontakt der Beteiligten in einem Untersuchungsraum stattgefunden. Die dabei erfolgten sexuellen Handlungen wolle er schriftsätzlich nicht im Einzelnen schildern. Es reiche aus, zu betonen, dass diese sexuellen Handlungen absolut einvernehmlich erfolgt seien.

Der Kläger trägt weiter vor, zwischen ihm und Frau habe stets ein kollegiales und freundschaftliches Verhältnis bestanden. Auch nach den beiden einvernehmlichen sexuellen Kontakten habe sich hieran nichts geändert. Dies werde insbesondere dadurch belegt, dass Frau den Kläger nach diesen Ereignissen, als sie eines Morgens im Zug eingeschlafen und erst an der nächsten Station aufgewacht sei, gebeten habe, sie vom dortigen Bahnhof mit dem Auto abzuholen, was er dann auch getan habe. Ferner habe Frau ihn nach Dienstschluss am 28.07.2011 und am 19.08.2011 mit ihrem Auto nach H mitgenommen. Auf den Fahrten hätten beide sich nett unterhalten und die zwischen ihnen üblichen Gespräche ohne Spannungen geführt.

In der Zeit von November 2011 bis Februar 2012 habe er kein anderweitiges Arbeitsentgelt erzielt, sondern lediglich für den Monat November teilweise Lohn und – nach Ablauf der Sperrfrist – von der Beklagten in netto von der Klagforderung abzusetzendes Arbeitslosengeld I erhalten.

Der Kläger hat zuletzt beantragt:

I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 09.11.2011 noch durch die hilfsweise ausgesprochene außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2012 vom 09.11.2011 beendet wird, sondern über den 10.11.2011 bzw. 30.06.2012 hinaus unbefristet fortbesteht.

II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger

1. die restliche Vergütung für den Monat November 2011 in Höhe von 5.924,00 Euro brutto abzüglich geleisteter 659,00 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.12.2011,

2. die Vergütung für den Monat Dezember 2011 in Höhe von 2.962,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2012,

3. die Vergütung für den Monat Januar 2012 in Höhe von 2.962,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2012,

4. die Vergütung für den Monat Februar 2012 in Höhe von 2.962,00 Euro brutto abzüglich von der Agentur für Arbeit gezahlter 989,01 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.03.2012 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie bringt vor, die Kollegin Frau habe sich an den anzüglichen Gesprächen mit dem Kläger nicht aktiv und nur notgedrungen beteiligt. Die Initiative zu solchen Gesprächen sei stets von dem Kläger ausgegangen. Auch habe Frau dem Kläger deutlich gemacht, an sexuellen Kontakten nicht interessiert zu sein. Dennoch habe der Kläger sie einmal gegen ihren Willen zu einem Zungenkuss veranlasst. Im Sommer 2010 habe er sie zudem gegen ihren Willen dazu gedrängt, ihn im Untersuchungsraum zu befriedigen. Soweit der Kläger Frau X vorhalte, sich freiwillig an den Gesprächen mit sexuellem Bezug und an den sexuellen Handlungen beteiligt zu haben, sei zu berücksichtigen, dass Frau aufgrund der wesentlich längeren und umfassenderen beruflichen Erfahrung des Klägers in Rat und Tat von diesem abhängig gewesen sei und sich nur notgedrungen und mit erkennbarem Widerwillen an Derartigem beteiligt habe. Der Kläger habe so schwer gegen seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen verstoßen, dass eine außerordentliche fristlose Kündigung seines Arbeitsverhältnisses auch ohne vorhergehende Abmahnung gerechtfertigt sei.

Das Gericht hat in der Kammerverhandlung vom 19.04.2012 durch Vernehmung der Zeugin Frau sowie durch Vernehmung des Zeugen M Beweis über die Behauptungen der Beklagten und den Gegenvortrag des Klägers erhoben.

Die Zeugin hat in der Zeugeneinvernahme u. a. geäußert:

„Wenn ich gefragt werde, ob wir uns vulgär unterhalten haben, kann ich das bejahen. Das habe ich aber nur Herrn zu Gefallen getan. …“

„Wenn ich gefragt werde, ob ich auch obszöne Ausdrücke benutzt habe, kann ich sagen: Klar, das war manchmal der Fall. Zum Beispiel habe ich manchmal Fotze gesagt. …“

„… Die Initiative zu sexuellen Handlungen ist ausschließlich von Herrn B ausgegangen. Wenn ich gefragt werde, wer von sich aus ein sexuelles Thema angeschnitten und sexuelle Anspielungen gemacht hat, kann ich sagen, dass solche Dinge – auch initiativ – von beiden ausgingen. Im Mengenverhältnis würde ich allerdings sagen, dass die Initiative zu solchen Anspielungen in 80 % der Fälle von Herrn ausging, in 20 % der Fälle von mir.“

„Wenn mir von Klägerseite vorgehalten wird, ich hätte berichtet über den Besuch in einem Swingerklub, kann ich sagen, dass ich mich diesbezüglich nicht erinnern kann.

Ich will damit sagen, ich kann mich nicht erinnern, ob ich so etwas erzählt habe. Ich kann aber vom Tatsächlichen her sagen, dass ich niemals in einem Swingerklub gewesen bin. Natürlich habe ich auch einmal erzählt, was am Wochenende passiert ist, auch in sexueller Hinsicht. Das habe ich deshalb getan, weil Herr B das hören wollte. …“

Der Zeuge hat u. a. Folgendes bekundet:

„Ich arbeite auf demselben Flur wie Herr und Frau . Ich bin aber einer anderen Abteilung zugeordnet, fachlich hatte ich also mit Herrn und Frau nichts zu tun. Ich war ab und zu bei den beiden im Zimmer. Es war ein bisschen sonderbar oder bizarr: Frau hat dann manchmal völlig zusammenhanglos ordinäre Wörter benutzt wie ficken, lecken, blasen. Ich kann das auch nur so wiedergeben. Ich fühlte mich dabei etwas peinlich berührt. Herr hat dann auch kräftig zurückgegeben mit gleicher Sprache. Das kam auch vor.

Mit Sicherheit hat dabei sie angefangen. Ich habe mich zum Beispiel mit Herrn B über Hannover 96 unterhalten. Dann platzte Frau dazu und fing eben mit solchen derben Worten an. Ich selbst schätze die Situation so ein, dass Frau , wenn sie sich von Herrn B belästigt gefühlt hätte, mir gegenüber mit Sicherheit etwas gesagt hätte. Ich muss dazu sagen, dass wir per Du sind. Mit Herrn ist Frau per Sie. …“

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen. Ferner wird wegen des weiteren Vorbringens der Parteien sowie wegen des Inhaltes der Beweisaufnahme im Einzelnen auf das Protokoll der Kammerverhandlung vom 19.04.2012 (Bl. 181 – 186 R d. A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist auch begründet. Die außerordentliche Kündigung vom 09.11.2011 hat das Arbeitsverhältnis weder fristlos noch mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2012 beendet. Die Beklagte ist dem Kläger unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges zur Zahlung der eingeklagten Löhne und Gehälter verpflichtet. Teilweise erhaltenen Lohn für den Monat November 2011 und erhaltenes Arbeitslosengeld hat der Kläger abgesetzt.

1. Die Beklagte kann das Arbeitsverhältnis zu dem tariflich ordentlich unkündbaren Kläger nicht mit außerordentlicher Kündigung beenden, da es an einem wichtigen Grund fehlt. Daher hat weder die fristlose noch die hilfsweise mit sozialer Auslauffrist ausgesprochene außerordentliche Kündigung Bestand.

2. a) Eine schwere, insbesondere schuldhafte Vertragspflichtverletzung kann die außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund an sich rechtfertigen. Dabei kann ein wichtiger Grund an sich nicht nur in einer erheblichen Verletzung der vertraglichen Hauptleistungspflichten liegen. Auch die erhebliche Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten kann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung sein (BAG 19. April 2007 – 2 AZR 78/06 – AP BGB § 611 Direktionsrecht Nr. 77; 2. März 2006 – 2 AZR 53/05 – AP BGB § 626 Krankheit Nr. 14; 15. Januar 1986 – 7 AZR 128/83 – AP BGB § 626 Nr. 93). Bei der außerordentlichen fristlosen Kündigung eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers ist entscheidend, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist unzumutbar wäre (BAG 29. März 2007 – 8 AZR 538/06 – AP BGB § 613a Widerspruch Nr. 4; 27. April 2006 – 2 AZR 386/05 – BAGE 118, 104; 6. Oktober 2005 – 2 AZR 362/04 – AP BAT § 53 Nr. 8; 30. September 2004 – 8 AZR 462/03 – BAGE 112, 124; 8. April 2003 – 2 AZR 355/02 – AP BGB § 626 Nr. 181).

Es ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG 9. Juni 2011 – 2 AZR 323/10 – NZA 2011, 1342; BAG 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 – EzA BGB 2002 § 626 Nr. 32).

b) Eine sexuelle Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG stellt nach § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Sie ist „an sich“ als wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB geeignet (BAG 25. März 2004 – 2 AZR 341/03 – AP BGB § 626 Nr. 189). Ob die sexuelle Belästigung im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, u. a. von ihrem Umfang und ihrer Intensität (BAG 9. Juni 2011 – 2 AZR 323/10 – a.a.O.; BAG 25. März 2004 – 2 AZR 341/03 – a.a.O.).

aa) Eine sexuelle Belästigung im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 3 AGG können danach auch einmalige sexuell bestimmte Verhaltensweisen den Tatbestand einer sexuellen Belästigung erfüllen (BAG 9. Juni 2011 – 2 AZR 323/10 m. w. N.).

bb) Unerwünscht ist eine Verhaltensweise jedenfalls dann, wenn sie den Verhaltenserwartungen der betroffenen Person subjektiv nicht entspricht. Doch muss eine Benachteiligung für die Verbotsadressaten vermeidbar, d. h. jedenfalls erkennbar sein. Dies lässt sich entweder dadurch erreichen, dass die „Unerwünschtheit“ dem Handelnden gegenüber erkennbar verdeutlicht werden muss, wie dies in § 2 Beschäftigtenschutzgesetz verlangt wurde. Diese Voraussetzung der erkennbaren Ablehnung durch die Betroffenen ist in § 3 Abs. 3 und 4 AGG jedoch gerade nicht übernommen worden. Diese Bestimmungen sind folglich so auszulegen, dass von den Betroffenen nicht mehr verlangt werden kann, ihre Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv zu verdeutlichen. Auch solche Personen, deren persönliche Abwehrstrategie gegen unerwünschte Verhaltensweisen passiv im Ausweichen oder Ignorieren besteht, können sich mithin auf den Benachteiligungsschutz berufen (vgl. zu allem Vorstehenden ErfK/Schlachter, 12. Aufl. 2012, § 3 AGG Rz. 14).

cc) Allerdings muss die Unerwünschtheit der Verhaltensweise dennoch klar sein. Die Erkennbarkeit kann sich nicht nach dem subjektiven Verständnishorizont der Belästigenden bestimmen, sondern nach demjenigen eines objektiven Dritten (BAG 9. Januar 1986, AP BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 20). Bei hinreichend schweren Vorfällen steht die Unerwünschtheit ohne weiteres fest. Sie kann aber auch in Abhängigkeit vom Aufgabenbezug der jeweiligen Verhaltensweise festgestellt werden: Je weniger die Verhaltensweise zu den üblichen Interaktionen der beteiligen Kreise zählt, desto wahrscheinlicher ist sie nicht erwünscht. Von willkommenen persönlichen Beziehungen und Umgangsweisen lässt sich eine „unerwünschte Verhaltensweise“ etwa durch die Ein- oder Zweiseitigkeit dieses Verhaltens abgrenzen. Ein „unverkrampfter Umgangston“, der ggf. Anspielungen, Witze oder körperliche Berührungen nicht unerwünscht erscheinen ließe, zeichnet sich durch die Gegenseitigkeit seiner Verwendung aus (vgl. zu allem Vorstehenden ErfK/Schlachter, a.a.O).

c) Die Anwendung der vorbezeichneten Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass dem Kläger insoweit, als er der Zeugin X gegenüber Gespräche mit sexuellem Bezug geführt hat, nicht der Vorwurf eines schwerwiegenden Fehlverhaltens gemacht werden kann, der die Beklagte zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würde.

Die durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, dass nicht nur der Kläger, sondern auch die Zeugin vulgäre und aus dem sexuellen Bereich stammende Begriffe wie „Ficken“, „Bumsen“, „Lecken“, „Blasen“ oder auch „Fotze“ zahlreich bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten, oft auch völlig zusammenhanglos, verwendet hat. Die Einvernahme des Zeugen hat zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass solche Gespräche oftmals erst auf Initiative der Zeugin zustande kamen. Die Gespräche waren offensichtlich beiderseitig durchweg von einem Ton geprägt, für den die Beschreibung als „unverkrampft“ noch sehr beschönigend ist. Dabei kann dahinstehen, ob die Zeugin diesen Ton nur deshalb mit anschlug, weil sie fachlich auf den Rat und die Hilfe des Klägers angewiesen war bzw. davon abhängig zu sein glaubte. Aufgrund der häufigen aktiven und initiativen Beteiligung der Zeugin X an Gesprächen mit sexuellem Bezug konnte der Kläger, ohne insoweit schuldhaft zu handeln, davon ausgehen, dass die beschriebene Konversation von gegenseitigem Einvernehmen getragen war. Auch einem objektiven Dritten in der Rolle des Klägers hätte man eine solche Einschätzung nicht zum Vorwurf machen können. Die Gespräche und E-Mails mit sexuellem Bezug waren damit nicht „unerwünscht“ iSv. § 3 Abs. 3 und 4 AGG, weshalb es insoweit bereits an einem wichtigen Grund „an sich“ iSv. § 626 Abs. 2 BGB fehlt. Die schuldhafte Pflichtverletzung des Klägers, die in dem nicht gestatteten Gebrauch der EDV der Beklagten für private Belange liegt, wiegt – abgesehen davon, dass nicht hinreichend deutlich wird, ob die Beklagte sich auch hierauf zur Begründung dieser außerordentlichen Kündigung berufen will – nicht schwer genug; sie ist in dem hier vorgetragenen Umfang lediglich abmahnungswürdig. Auch der Umstand, dass der Kläger durch die häufige Verwendung obszöner Begriffe zahlreiche andere Arbeitnehmer der Beklagten, die dies unfreiwillig mit anhören mussten, in gewissem Rahmen belästigt haben mag, und die Gefahr, dass der Ruf der Beklagten durch Mitarbeiter, die sich an ihrem Arbeitsplatz derart penetrant im Ton vergreifen, leiden kann, begründen den berechtigten Vorwurf einer arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung gegenüber dem Kläger, aber nicht bereits den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung ohne vorgängige Abmahnung.

d) Auch die sexuellen Handlungen, die bei zwei Gelegenheiten zwischen dem Kläger und der Zeugin stattfanden, rechtfertigen nicht den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung.

Zwar steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass es zwischen dem Kläger und der Zeugin im Frühjahr 2010 zu einem intensiveren Kuss gekommen ist. Im Sommer 2010 ist es auch zu sexuellen Handlungen gekommen. Auch hält das Gericht die Aussage der Zeugin, mit dem Kuss bzw. mit den sexuellen Handlungen innerlich nicht einverstanden gewesen zu sein, für glaubhaft. Die Kammer hatte allerdings bei der Beurteilung der Frage, ob ein objektiver Dritter in der Rolle des Klägers hätte erkennen können bzw. müssen, dass diese Handlungen nicht von gegenseitigem Einvernehmen getragen waren, das gesamte Verhalten der Zeugin zu würdigen. Als gegen ein Einverständnis der Zeugin sprechend hätte der Kläger den Umstand berücksichtigen müssen, dass diese nach eigener Aussage den Kläger anlässlich des wiederholten „Bettelns“ um einen Kuss mehrfach hingehalten hat bzw. diesem Wunsch mehrfach ausgewichen ist. Auch die Aussage der Zeugin, der Kläger habe sich zu einem späteren Zeitpunkt für seine Handlungsweise im Sommer 2010 entschuldigt, spricht – ungeachtet dessen, was konkret in welcher Weise vorgefallen ist – dafür, dass dem Kläger jedenfalls im Anschluss an den Geschehensablauf klar geworden sein muss, dass die Zeugin mit den sexuellen Handlungen innerlich nicht einverstanden war. Andererseits hatte die Kammer auch die für den Kläger sprechenden Tatsachen zu berücksichtigen. So spricht der Umstand, dass die Zeugin den Kläger in der Zeit nach den beiden sexuellen Kontakten aus freien Stücken nach Dienstende in ihrem privaten Pkw mit nach H genommen hat, vor allem aber die von der Zeugin bestätigte Tatsache, dass sie nach diesen Ereignissen, als sie im Zug eingeschlafen und deshalb eine Station zu spät ausgestiegen war, sich gerade an den Kläger wandte, um diesen zu bitten, sie abzuholen und zum Dienst zu bringen, eher gegen die Wertung, dass das Verhalten des Klägers der Zeugin in dem für eine sexuelle Belästigung hinreichenden Maße unerwünscht gewesen ist. Es gilt der Erfahrungssatz, dass derjenige, der sich von einem anderen sexuell belästigt fühlt, sich nicht anschließend unnötig engerem privatem Kontakt aussetzt. Weiter war zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass die nach der Überzeugung der Kammer erfolgte rege Beteiligung der Zeugin an den oben geschilderten Gesprächen mit sexuellem Bezug den – wenn auch ggf. falschen – Eindruck entstehen lassen konnte, die Zeugin sei auch daran interessiert, das gesprochene Wort zusammen mit ihm in die Tat umzusetzen. In diesem Zusammenhang konnte die Kammer nicht ungewürdigt lassen, dass die Zeugin auf den Vorhalt des Klägervertreters, sie hätte dem Kläger über den Besuch in einem Swingerklub berichtet, geantwortet hat, sie könne sich nicht erinnern, ob sie so etwas erzählt habe. Diese Behauptung glaubt die Kammer der Zeugin nicht. Nach der Überzeugung des Gerichts kann man sich daran erinnern, ob man einem anderen Menschen über ein so ungewöhnliches und von vielen Menschen als sexuell äußerst freizügig empfundenes Ereignis wie dem Besuch in einem Swingerklub berichtet hat. Die Kammer musste deshalb zu Gunsten des Klägers unterstellen, dass die Zeugin dem Kläger gemäß dessen Behauptungen berichtet hat, einen Swingerklub besucht zu haben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Angabe der Wahrheit entsprach – hier glaubt die Kammer der Zeugin, die bekundet hat, niemals in einem Swingerklub gewesen zu sein -, sondern vielmehr darauf, dass diese Äußerung bei dem Kläger, ohne ihm den Vorwurf einer schuldhaften Fehleinschätzung machen zu können, den Eindruck erweckt haben kann, die Zeugin denke sehr liberal über sexuelle Kontakte und pflege auf diese Weise den Umgang mit vielen Männern.

Die Gesamtwürdigung der für und gegen den Kläger sprechenden Umstände ergibt, dass dem Kläger nicht mit hinreichender Sicherheit der Vorwurf gemacht werden kann, er habe bei Anlegung des Maßstabs eines objektiven Dritten den möglicherweise vorhandenen inneren Widerwillen der Zeugin, die gemeinsam ins Werk gesetzten sexuellen Handlungen betreffend, erkennen können und müssen. Diese Unsicherheiten gehen zu Lasten der für das Vorliegen eines wichtigen Grundes darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten. Vorwerfbar ist dem Kläger, dass er die für rein dienstliche Zwecke vorgehaltenen Untersuchungsräume der Beklagte massiv zweckentfremdet hat, indem er sich dort mit der Zeugin sexuell betätigt hat. Dies muss die Beklagte nicht hinnehmen. In Anbetracht der über 30-jährigen Betriebszugehörigkeit des Klägers und des Umstandes, dass die Beschäftigungszeit des Klägers bislang frei von abgemahnten Vorfällen ist, ergibt die durchzuführende Interessenabwägung aber auch diesbezüglich, dass die Beklagte auf das mildere Mittel einer Abmahnung zu verweisen ist.

3. Im Ergebnis ist festzustellen, dass der Beklagten ein wichtiger Grund, der sie zu der streitbefangenen Kündigung berechtigen würde, nicht zur Seite steht. Das Gericht hatte deshalb dem zu I. gestellten Feststellungsantrag stattzugeben.

II.

Dem Kläger stehen auch die eingeklagten Bruttolohnbeträge für die Monate November 2011 bis einschließlich Februar 2012 zu. Da die Kündigung der Beklagten das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat, befand sie sich im Verzug mit der Annahme der Arbeitsleistung des Klägers und hat ihn deshalb auch für diese Zeiten zu entlohnen (§ 11 KSchG, § 615 BGB).

Die erhaltene Teilentlohnung für den Monat November 2011 sowie das für Februar 2012 erhaltene Arbeitslosengeld hat der Kläger in netto abgesetzt, dies ist in den Anträgen und bei der gerichtlichen Entscheidung berücksichtigt.

Die Höhe der dem Kläger zustehenden Vergütung hat die Beklagte erstmals in der Kammerverhandlung vom 19.04.2012 bestritten und vorgetragen, dieser erziele nach Auffassung der Beklagten eine um 100 Euro niedrigere Vergütung. Dieser Vortrag der Beklagten, den diese in der Kammerverhandlung auch nicht mit älteren oder Probe-Lohnabrechnungen, Entgelttabellenwerten oder sonstigen Unterlagen untermauert hat, war als verspätet zurückzuweisen. Bereits mit Schriftsatz vom 05.03.2012 hat der Kläger die entsprechenden Zahlungsanträge gestellt, so dass es der Beklagten in ausreichendem Umfang möglich war, hierzu schriftliche Einwendungen vorzutragen.

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO. Die Kosten waren der vollumfänglich unterlegenen Beklagten aufzuerlegen.

Gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG war der Streitwert im Urteil festzusetzen. Er richtet sich nach dem dreifachen Bruttomonatsgehalt des Klägers zur Bewertung des Kündigungsschutzantrages; hinzuzurechnen waren die zur Zahlung geforderten Bruttolöhne abzüglich der in netto abgesetzten erhaltenen Beträge.

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