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Aussetzung eines Kündigungsschutzstreits wegen Vorgreiflichkeit

Sächsisches Landesarbeitsgericht – Az.: 1 Ta 146/22 – Beschluss vom 17.10.2022

1. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Zwickau vom 29.08.2022 – 1 Ca 346/22 P – aufgehoben.

2. Der Gegenstandswert wird auf 1.590,00 € festgesetzt.

Zusammenfassung

Kläger legt Beschwerde gegen Aussetzung des Kündigungsschutzrechtsstreits ein.

Ein Kündigungsschutzrechtsstreit zwischen einem Kläger und der Beklagten wurde bis zur Rechtskraft der Entscheidung in einem Streit um eine frühere Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesetzt. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Die Beklagte hatte bereits im Jahr 2020 das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich gekündigt, was dieser jedoch mit einer Kündigungsschutzklage anfocht. Am 24.03.2022 verkündete das Arbeitsgericht ein nicht rechtskräftiges Urteil, wonach das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 19.10.2020 nicht aufgelöst wurde und die Beklagte zur Wiedereinstellung des Klägers verurteilt wurde. In einem weiteren Verfahren streiten die Parteien nun um die Wirksamkeit einer erneuten Kündigung vom 05.04.2022. Der Kläger ist der Meinung, dass die Tatbestandsvoraussetzungen einer Vorgreiflichkeit nach § 148 ZPO nicht vorliegen, da die Wirksamkeit der erneuten Kündigung in diesem Verfahren abzuwägen ist. Das Arbeitsgericht muss sich nun mit der Entscheidung über die Beschwerde auseinandersetzen, um Ermessensfehler zu vermeiden.

Gründe

I.

Mit seiner sofortigen Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Aussetzung des Kündigungsschutzrechtsstreits bis zur Rechtskraft der Entscheidung in einem Streit um eine frühere Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Die Parteien streiten in der Hauptsache über die Wirksamkeit einer am 05.04.2022 zugegangenen außerordentlich fristlos sowie hilfsweise ordentlich ausgesprochenen Kündigung des zwischen ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisses vom 4.4.2022. Dem Arbeitsverhältnis liegt ein am 19.01.2016/01.02.2016 unterzeichneter Arbeitsvertrag zugrunde, nach dem der Kläger bei der Beklagten, die im Beschäftigungsbetrieb mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, ab 01.02.2016 unter Anrechnung seiner Betriebszugehörigkeit zu einem früheren Arbeitgeber als Testanalyst tätig wird.

Die Beklagte hatte das Arbeitsverhältnis bereits durch außerordentliche Kündigung vom 19.10.2020 gekündigt. Gegen die Kündigung vom 19.10.2020 hatte der Kläger Kündigungsschutzklage erhoben, die beim Arbeitsgericht unter dem Az.: 4 Ca 1400/20 P anhängig ist. In diesem Verfahren hat das Arbeitsgericht am 24.03.2022 ein nicht rechtskräftiges Urteil verkündet, das auszugsweise lautet:

Urteil

1. Es wird festgestellt, dass das Durchführungs- und Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 19.10.2020, zugegangen am 19.10.2020, nicht aufgelöst worden ist.

2. (…)

3. Die Beklagte wird verurteilt, die klägerische Partei zu den im Vertrag zur Durchführung eines dualen Studiums vom 05.01.2017 und des Arbeitsvertrages vom 19.10.2016/01.02.2016 geregelten Arbeitsbedingungen als dualer Student sowie als Teamleiter Clientmanagement, jedenfalls aber entsprechend seiner letzten arbeitsvertraglichen Beschäftigung, am Standort der Beklagten bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag zu beschäftigen.

4. (…)

5. (…)

6. (…).

Mit Schreiben vom 19.07.2022 regte die Beklagte an, den Rechtsstreit um die Kündigung vom 04.04.2022 gem. § 148 ZPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens – 4 Ca 1400/20 P – auszusetzen. Dem trat der Kläger entgegen. Das Arbeitsgericht verkündete in der Güteverhandlung vom 11.08.2022 sodann einen Beschluss, wonach der Rechtsstreit des Arbeitsgerichts Zwickau – 1 Ca 346/22 P – bis zur rechtskräftigen Erledigung des Rechtsstreits – 4 Ca 1400/20 P – des Arbeitsgerichts Zwickau ausgesetzt wird. Die schriftliche, mit Begründung und Rechtsmittelbelehrung versehene Ausfertigung des Beschlusses datierte das Arbeitsgericht nicht auf den Zeitpunkt der Verkündung, sondern auf den 29.08.2022. Das Protokoll des Gütetermins vom 11.08.2022 und die auf den 29.08.2022 datierte, begründete und mit Rechtsmittelbelehrung versehene Ausfertigung des Beschlusses wurden dem Kläger am 02.09.2022 zugestellt.

Am 15.09.2022 legte der Kläger sofortige Beschwerde gegen den Beschluss „vom 29.08.2022“ ein. Zur Begründung macht er geltend, die Tatbestandsvoraussetzungen einer Vorgreiflichkeit nach § 148 ZPO lägen nicht vor. Zudem handle es sich bei der Kündigung vom 04.04.2022 um eine offensichtlich per se unwirksame Kündigung.

Das Arbeitsgericht half der sofortigen Beschwerde durch Beschluss vom 19.09.2022 nicht ab und legte sie dem Beschwerdegericht vor. Zur Begründung führt es aus, es werde nach Erledigung des Rechtsstreits – 4 Ca 1400/20 P – und Fortsetzung des gegenständlichen Rechtsstreits im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor der Kammer zu klären sein, ob ein ggf. von der Beklagten noch vorzutragender Kündigungsgrund die Kündigung vom 04.04.2022 zu rechtfertigen vermag.

II.

1. Die sofortige Beschwerde richtet sich erkennbar gegen den am bereits am 11.08.2022 verkündeten, dann aber unter dem Datum des 29.08.2022 schriftlich ausgefertigten, begründeten und mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Beschluss zur Aussetzung des Rechtsstreits. Sie ist nach §§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Die zweiwöchige Beschwerdefrist des § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist gewahrt, obwohl der angefochtene Beschluss bereits im Gütetermin vom 11.08.2022 verkündet wurde. Der angefochtene Beschluss bedurfte nach § 329 Abs. 3 ZPO der Zustellung. Die Beschwerdefrist begann nach § 569 Abs. 1 Satz 2 ZPO erst mit der Zustellung zu laufen, mithin am 2.9.2022.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.

a) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, kann das Gericht nach § 148 Abs.1 ZPO anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist.

aa) Bei der Ausübung des durch den Begriff „kann“ in § 148 Abs.1 ZPO eröffneten Ermessens hat das Gericht den Zweck der Aussetzung des Verfahrens, einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, gegen die Nachteile der durch die Aussetzung verlängerten Verfahrensdauer und die dadurch entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen (BAG, Urteil vom 16.04.2014, Az.: 10 AZR 6/14, juris, Rn 5). Bei der Abwägung ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG, dem in Bestandstreitigkeiten nach § 61 a ArbGG besonders große Bedeutung zukommt, zu berücksichtigen, ferner die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer nach § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, §§ 198 ff. GVG (BAG, aaO).

bb) Die Frage, ob der andere anhängige Rechtsstreit vorgreiflich ist, stellt kein Ermessenskriterium dar, sondern ist Tatbestandsvoraussetzung des § 148 ZPO, die erfüllt sein muss, bevor das Ermessen des Gerichts eröffnet wird (BAG, aaO Rn 10).

cc) Im Beschwerdeverfahren kann die Entscheidung des Arbeitsgerichts über die Aussetzung eines Rechtsstreits nach § 148 ZPO nur daraufhin überprüft werden, ob ein Aussetzungsgrund i. S. der Vorgreiflichkeit eines anderen Rechtsstreits vorliegt (oben 2.a) bb)) und ob das Arbeitsgericht bei der Ausübung seines Ermessens dessen Grenzen eingehalten hat und ihm auch sonst keine Ermessensfehler unterlaufen sind (BGH, Beschluss vom 09.03.2021, Az.: II ZB 16/20, juris, Rn 20; Beschluss vom 25.07.2019, Az.: I ZB 82/18, juris, Rn 38).

b) In Anwendung dieser Grundsätze war der Beschluss über die Aussetzung des vorliegenden Rechtsstreits schon deshalb aufzuheben, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 148 ZPO nicht vorliegen. Es ist nach dem Stand, den das Verfahren bis zur Verkündung des Aussetzungsbeschlusses erreicht hat, völlig offen, ob das Verfahren – 4 Ca 1400/20 P – für den vorliegenden Rechtsstreit vorgreiflich ist.

Vorgreiflichkeit kann nur bestehen, wenn die gegen die Kündigung vom 04.04.2022 erhobene Kündigungsschutzklage begründet ist. Nur dann kommt es auf die im Verfahren – 4 Ca 1400/20 P – verkündete Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 19.10.2020 an. Ist die gegen die Kündigung vom 4.4.2022 gerichtete Klage dagegen unbegründet, weil sie aus anderen Gründen abzuweisen ist, kommt es auf den Ausgang des Rechtsstreits – 4 Ca 1400/20 P – nicht an. Ob dies der Fall ist, lässt sich erst prüfen, wenn beide Parteien Gelegenheit hatten, sich zur Kündigung vom 04.04.2022 zu äußern. Der Rechtsstreit muss also „ausgeschrieben“ sein, bevor sich die Vorgreiflichkeit des Rechtsstreits um die frühere Kündigung überhaupt beurteilen lässt (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.11.2020, Az.: 21 Ta 1223/20, juris, Rn 24; LAG Köln, Beschluss vom 27.03.2020, Az.: 4 Ta 31/20, juris, Rn 20).

Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit ausgesetzt, bevor die Beklagte zu der gegen die Kündigung vom 04.04.2022 erhobenen Kündigungsschutzklage Stellung genommen hat. Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit mithin zu einem Zeitpunkt aufgesetzt, in dem die Vorgreiflichkeit des Rechtsstreits – 4 Ca 1400/20 P – noch nicht beurteilt werden kann. Bereits dies führt zur Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses.

c) Auf die Frage, ob das Arbeitsgericht das von § 148 ZPO eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, kommt es mithin (noch) gar nicht an.

Vorsorglich ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung über Kündigungsschutzanträge auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch die konkret angegriffene Kündigung beschränkt werden kann (BAG, Urteil vom 22.11.2012, Az.: 2 AZR 732/11, Rn 20). Mit dieser sogenannten Ausklammerung ist es dem Arbeitsgericht möglich, einzelne Feststellungen „herauszupicken“, mithin die Rechtskraft eines Kündigungsschutzantrags dergestalt zu beschränken, dass nur die Nichtbeendigung des Arbeitsverhältnisses durch die angegriffene Kündigung festgestellt wird (vgl. Thüringer LAG, Urteil vom 16.08.2022, Az.: 1 Sa 197/21, juris, Rn 60). Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn eine Kündigung offensichtlich unwirksam ist, etwa weil sie gegen das Schriftformerfordernis des § 623 BGB verstößt, der Betriebsrat nicht angehört wurde (§ 102 Abs.1 Satz 2 BetrVG) oder gesetzlicher Sonderkündigungsschutz unbeachtet blieb (z.B. § 22 Abs.2 BBiG, § 168 ff. SGB IX, § 15 KSchG, § 6 Abs.4 Satz 2 BDSG, § 5 PflegeZG, § 17 MuSchG etc.). Auch mit der rechtlich zulässigen Verfahrensweise der Ausklammerung muss sich das Arbeitsgericht im Rahmen einer Entscheidung über die Aussetzung eines Kündigungsschutzstreits auseinandersetzen, um Ermessensfehler zu vermeiden.

III.

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, denn das Beschwerdeverfahren ist Bestandteil des Hauptverfahrens. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind ein Teil der Kosten des Rechtsstreits, über die das Arbeitsgericht im Rahmen der Entscheidung über die Kündigungsschutzklage mit zu befinden hat (vgl. Herget in Zöller, ZPO-Kommentar, 34. Auflage 2022, § 97 Rn 9).

IV.

Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen der §§ 78 Satz 2, 72 Abs.2 ArbGG nicht vorliegen. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung, die Entscheidung der Kammer weicht nicht von der Rechtsprechung anderer Obergerichte ab und absolute Revisionsgründe liegen nicht vor.

V.

Gerichtsgebühren fallen für die Beschwerdeentscheidung nicht an, sodass es einer Wertfestsetzung für die Berechnung der Gerichtsgebühr nach § 63 Abs.2 GKG nicht bedarf. Auf Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 26.9.2022 war jedoch der Beschwerdewert auf Grundlage von § 33 Abs.1 RVG gesondert festzusetzen, um eine Grundlage für die Berechnung der im Beschwerdeverfahren verdienten Rechtsanwaltsvergütung zu schaffen.

Rechtsgrundlage der Wertbemessung ist § 3 ZPO, wonach das Gericht den Wert nach freiem Ermessen zu bestimmen hat. Im Falle eines Streits über die Berechtigung der Aussetzung eines Rechtsstreits ist es angemessen, den Gegenstandswert auf ein Fünftel des Werts der Hauptsache festzusetzen (Herget in Zöller, a.a.O., § 3 Rn 16.31 m.w.N.; zuletzt OLG München, Beschluss vom 27.1.2022, Az.: 8 W 1818/21, juris, zu V. 2 der Gründe.)

Der Kläger hat vorgetragen, sein Jahresgehalt betrage 31.800,00 €. Für den Wert der in der Hauptsache erhobenen Kündigungsschutzklage ist nach § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG das für die Dauer eines Vierteljahres zu leistende Arbeitsentgelt maßgeblich, mithin ein Betrag von 7.950,00 €. Hieraus folgt ein Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens von 1.590,00 €.

 

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