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Ausspruch Abmahnung der konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung ?

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 5 Sa 311/18 – Urteil vom 08.08.2019

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 5. April 2018, Az. 9 Ca 1688/17, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten sowie über Ansprüche auf Arbeitsentgelt.

Der 1963 geborene Kläger war bei der Beklagten aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrages ab dem 01.02.2017 als Mitarbeiter für den Bereich „Bauleitung und Baubetreuung“ beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt ständig mehr als zehn Arbeitnehmer iSd. § 23 Abs. 1 KSchG. Im schriftlichen Arbeitsvertrag haben die Parteien eine sachgrundlose Befristung bis zum 01.02.2018 sowie eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit nach der sechsmonatigen Probezeit mit einer Frist von vier Wochen vereinbart. Das Monatsgehalt betrug nach der Probezeit € 4.000,00 brutto.

Dem Kläger wurde am 09.03.2017 ein Dienstfahrzeug (BMW 318d) auch zur privaten Nutzung überlassen. Der geldwerte Vorteil wurde nach der Ein-Prozent-Regelung mit monatlich € 304,00 versteuert. Laut Übergabeprotokoll vom 09.03.2017 übernahm der Kläger das Fahrzeug mit einem Kilometerstand von 103.212 ohne Beschädigungen. Er gab das Fahrzeug am 23.10.2017 der Beklagten mit einem Kilometerstand von 134.372 zurück. Im Rückgabeprotokoll vom 23.10.2017 sind mehrere Beschädigungen (Steinschlag, Kratzer, Lackschäden) und eine starke Verschmutzung (innen und außen) vermerkt.

Am 17.10.2017 händigte der Prokurist der Beklagten dem Kläger drei Abmahnungen mit Datum vom 17.10.2017 aus. Eine Abmahnung erfolgte, weil der Kläger beim Bauvorhaben T. versäumt haben soll, das Abnahmeprotokoll nach Durchführung der Hausübergabe im Original sowie digitalisiert im Betrieb zu hinterlegen. Eine zweite Abmahnung wurde erteilt, weil der Kläger die Bauzeitenpläne bei den Bauvorhaben K. und v. R. nicht vollständig und nicht zeitnah geführt haben soll. Mit der dritten Abmahnung rügte die Beklagte ein eigenmächtiges Fernbleiben des Klägers von der Bauleiterbesprechung am 13.10.2017.

Mit Schreiben vom 23.10.2017, dem Kläger am selben Tag ausgehändigt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin. Das Gehalt für den Monat Oktober 2017 zahlte die Beklagte nicht. Mit seiner am 13.11.2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wandte sich der Kläger gegen die Kündigung und verlangte die Zahlung von Arbeitsentgelt iHv. € 3.196,26 brutto für den Monat Oktober 2017 (vom 01. bis 23.10.) sowie Lohnabrechnungen und ein Zeugnis; hilfsweise Urlaubsabgeltung für zehn Tage iHv. € 1.988,31 brutto.

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 23.10.2017, zugegangen am selben Tage, nicht aufgelöst worden ist,

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 23.10.2017, zugegangen am selben Tage, nicht aufgelöst worden ist,

3. festzustellen, dass das Anstellungsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 23.10.2017 hinaus fortbesteht,

4. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 3.196,26 brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.11.2017 zu zahlen,

5. die Beklagte zu verurteilen, ihm die Lohnabrechnungen für die Monate August sowie September 2017 herauszugeben,

6. die Beklagte zu verurteilen, ihm ein Arbeitszeugnis zu erteilen, das sich auf Verhalten und Leistung im Arbeitsverhältnis erstreckt,

7. hilfsweise für den Fall, dass die Feststellungsanträge zu Ziff. 1., 2. und 3. abgewiesen werden, die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 1.988,31 brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 24.11.2017 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat erstinstanzlich im Wesentlichen vorgetragen, die drei Abmahnungen vom 17.10.2017 seien gerechtfertigt. Am 19.10.2017 habe sie einen weiteren schwerwiegenden Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten des Klägers festgestellt. Der Kläger habe für das durch ihn betreute Bauvorhaben G. versäumt, die Begehungen durch einen externen Sachverständigen zu terminieren und durchführen zu lassen. Er habe als verantwortlicher Bauleiter das Bauvorhaben ohne einen Blower-Door-Test (Test auf Luftdichtheit) übergeben. Aufgrund dieses Versäumnisses sei es ihr nicht möglich, das Gebäude zu versichern. Die Erteilung einer Mängelansprüchebürgschaft sei ua. an die Ausstellung eines Qualitätszertifikats durch TÜV, DEKRA oder VQC geknüpft, die ihre Bauvorhaben baubegleitend überprüften. Ein Zertifikat könne im Nachgang aufgrund der fehlenden Begehungen nicht erstellt werden. Außerdem seien am Tag der Kündigung erhebliche Schäden am Dienstfahrzeug festgestellt worden, die der Kläger verursacht habe. Entgegen seiner Verpflichtungen aus dem Dienstwagenüberlassungsvertrag habe der Kläger ihr die selbst verursachten Schäden nicht gemeldet. Außerdem sei er seiner Verpflichtung zum pfleglichen Umgang mit dem ihm anvertrauten Fahrzeug nicht nachgekommen. Um die verursachten Schäden zu decken, habe sie das Oktobergehalt des Klägers einbehalten und die Aufrechnung mit ihren Ansprüchen erklärt.

Der Kläger hat die Vorwürfe bestritten und zum Bauvorhaben G. vorgetragen, er habe dieses Bauvorhaben, das in Verzug gewesen sei, von einem gekündigten Kollegen übernommen. Der Blower-Door-Test sei aufgrund seiner Nachwirkung nachgeholt worden. Das Verfahren diene dazu, die Luftdichtheit eines Gebäudes zu messen, um zu kontrollieren, ob es den Anforderungen der Norm DIN 4108 Teil 7 entspricht. Die Zertifizierung könne auch nachträglich erfolgen. Er bestreite, dass die Beklagte das Gebäude nicht habe versichern können.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Mainz vom 05.04.2018 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat mit dem vorbezeichneten Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die am 23.10.2017 ausgesprochene Kündigung weder außerordentlich fristlos noch unter Einhaltung der Kündigungsfrist zum 30.11.2018 aufgelöst worden sei; es habe aufgrund der vereinbarten Befristung mit dem 01.02.2018 geendet. Der Kläger könne die Vergütung für den Monat Oktober bis zum Ausspruch der Kündigung iHv. € 3.196,26 brutto nebst Zinsen beanspruchen. Außerdem sei die Beklagte verpflichtet, ihm ein qualifiziertes Arbeitszeugnis zu erteilen sowie die Lohnabrechnungen für August und September 2017 herauszugeben. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht – zusammengefasst – ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die drei Abmahnungen berechtigt seien, die die Beklagte am 17.10.2017 erklärt und dem Kläger ausgehändigt habe. Zwischen den drei Abmahnungen vom 17.10.2017 und dem Kündigungsanlass liege kein hinreichender Abstand. Vielmehr dürften die Abmahnungen erst im Anschluss an diesen erklärt worden sein. Mangels konkreter Angaben der Beklagten zu den zeitlichen Abläufen lasse sich dies nicht feststellen. Dem Vortrag der Beklagten könne kein Fehlverhalten des Klägers entnommen werden, das ausnahmsweise ohne vorangegangene Abmahnung eine Kündigung rechtfertige. Der Kläger habe Anspruch auf Zahlung des Arbeitsentgelts für die Zeit vom 01. bis 23.10.2017. Die Beklagte habe zur Schadenshöhe nichts Konkretes vorgetragen. Außerdem habe sie weder zeitlich noch inhaltlich eine Aufrechnungserklärung konkretisiert. Die Einhaltung der Pfändungsfreigrenzen oder Fragen der Haftungsbegrenzung seien daher nicht zu behandeln. Wegen der Einzelheiten der erstinstanzlichen Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vom 05.04.2018 Bezug genommen.

Gegen das am 25.08.2018 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 20.09.2018 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 26.11.2018 verlängerten Frist mit einem am 26.11.2018 eingegangenen Schriftsatz begründet. Weil im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 04.04.2019 für die Beklagte niemand erschienen ist, hat die Kammer die Berufung der Beklagten durch Versäumnisurteil vom 04.04.2019 zurückgewiesen. Gegen das am 05.04.2019 zugestellte Versäumnisurteil hat die Beklagte noch am 05.04.2019 Einspruch eingelegt.

Die Beklagte macht geltend, ihre außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung vom 23.10.2017 sei wirksam. Der Kläger habe wiederholt seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, diese Pflichtverletzungen habe sie zuletzt am 17.10.2017 abgemahnt. Gegenstand und Inhalt dieser Pflichtverletzungen sowie der darauf erfolgten Abmahnungen vom 17.10.2017 habe sie erstinstanzlich im Einzelnen dargelegt. Weiterhin habe sie erstinstanzlich dargelegt, dass ihr nach Ausspruch der Abmahnungen vom 17.10.2017 am 19.10.2017 ein weiterer schwerwiegender Verstoß des Klägers gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten zur Kenntnis gelangt sei. Diesen Vortrag habe sie unter Beweis gestellt durch das Zeugnis ihres Prokuristen. Ihr Prokurist habe von der Versäumung des sog. Blower-Door-Tests am 19.10.2017 erfahren. Für das Bauvorhaben G. sei das Abnahmeprotokoll am 11.10.2017 unter Mitwirkung des Klägers erstellt worden. Danach sei das Projekt durch den technischen Innendienst weiter bearbeitet worden. Der zuständige Innendienstmitarbeiter habe bei der Bearbeitung am 19.10.2017 festgestellt, dass ausweislich des Abnahmeprotokolls der Blower-Door-Test nicht durchgeführt worden sei. Er habe noch am 19.10.2017 den Prokuristen informiert. Das Arbeitsgericht sei rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, dass es weder auf die Berechtigung der drei Abmahnungen vom 17.10.2017 noch auf die Frage der Vergleichbarkeit der gerügten Verhaltensweisen ankomme, weil zwischen den Abmahnungen und der Kündigung kein hinreichender zeitlicher Abstand liege. Die Bewertung des Arbeitsgerichts sei unrichtig und in sich widersprüchlich. Das Arbeitsgericht habe einerseits darauf abgestellt, dass ein hinreichender zeitlicher Abstand zwischen den Abmahnungen und dem Kündigungsanlass nicht vorliege und andererseits ausgeführt, dass die abgemahnten und zur Kündigung führenden Pflichtverletzungen nicht vergleichbar seien. Vorliegend sei darauf abzustellen, dass es ihr aufgrund der Häufigkeit sowie der Art und Weise der Pflichtverletzungen des Klägers sowie der erheblichen Schadensgeneigtheit der sich daraus ergebenden Folgen, unzumutbar gewesen sei, das Arbeitsverhältnis bis zum Befristungsende fortzusetzen. Der Kläger habe wiederholt in einem kurzen Zeitraum gegen seine primären arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Das Arbeitsgericht habe der Klage auf Zahlung des Oktobergehaltes 2017 zu Unrecht stattgegeben. Ihr stünden Gegenansprüche wegen mehrerer Beschädigungen am Dienstfahrzeug zu. Dem Kläger sei das Fahrzeug am 09.03.2017 ohne Beschädigungen übergeben worden. Etwas mehr als sieben Monate später sei das Fahrzeug umfangreich beschädigt gewesen. Die Schäden seien durch einen unsachgemäßen Gebrauch des Fahrzeugs entstanden. Abgesehen vom Steinschlag an der Frontscheibe, für den eine Haftung des Klägers nicht gegeben sein dürfte, seien die übrigen Beschädigungen am Außenspiegel der Fahrerseite, den Stoßfängern sowie am Kotflügel auf das Fehlen der erforderlichen Sorgfalt seitens des Klägers zurückzuführen. Hierfür habe der Kläger in dem Umfang, wie das Fahrzeug tatsächlich repariert worden sei, einzustehen. Für die Lackiererarbeiten an den Stoßstangen hinten und vorne sowie am Kotflügel vorne rechts habe sie € 800,00 netto an den beauftragten Fahrzeugaufbereitungsbetrieb gezahlt. Rein vorsorglich erkläre sie erneut die Aufrechnung mit Gegenansprüchen für Lackierarbeiten iHv. € 800,00 gegenüber dem Gehaltsanspruch des Klägers für Oktober 2017.

Die Beklagte beantragt zweitinstanzlich, das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 05.04.2018, Az. 9 Ca 1688/17, abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Durch den zulässigen Einspruch der Beklagten gegen das Versäumnisurteil vom 04.04.2019 wurde der Prozess gem. § 342 ZPO in die Lage zurückversetzt, in der er sich vor Eintritt der Versäumnis befand. Danach ist die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, denn sie ist teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.

I.

Die Berufung ist unzulässig, soweit sich die Beklagte gegen die Verurteilung zur Erteilung eines qualifizierten Arbeitszeugnisses und zur Herausgabe von Lohnabrechnungen für die Monate August und September 2017 richtet.

Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 ArbGG muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergibt. Die Berufungsbegründung muss deshalb auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. Hat das Arbeitsgericht – wie hier – über mehrere Streitgegenstände iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO mit jeweils eigenständiger Begründung entschieden, muss für jeden eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Rechtsmittelbegründung gegeben werden. Fehlen Ausführungen zu einem Streitgegenstand, ist das Rechtsmittel insoweit unzulässig. Eine eigenständige Begründung ist nur entbehrlich, wenn die Entscheidung über den einen Streitgegenstand notwendig von der Entscheidung über den anderen abhängt (vgl. LAG Rheinland-Pfalz 11.04.2019 – 5 Sa 371/18 – Rn. 31 mwN).

Die Berufung führt zwar aus, dass sie das erstinstanzliche Urteil „insgesamt“ angreife, es fehlt aber eine Berufungsbegründung zu allen Streitgegenständen. Mit den Anträgen auf Zeugniserteilung und Lohnabrechnungen befasst sich die Berufung nicht.

II.

Soweit die Berufung zulässig ist, ist sie nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 23.10.2017 mit sofortiger Wirkung noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung zum 30.11.2017 aufgelöst worden ist, sondern bis zum vereinbarten Befristungsende am 01.02.2018 fortbestanden hat. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zu Recht verurteilt, an den Kläger für die Zeit vom 01. bis 23.10.2017 Arbeitsentgelt iHv. € 3.196,26 brutto nebst Verzugszinsen zu zahlen. Die Angriffe der Berufung greifen nicht durch.

1. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 23.10.2017 ist unwirksam. Es fehlt an einem wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB.

a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. unter vielen BAG 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15 mwN).

b) Nach diesen Maßstäben ist die Kündigung nicht aus wichtigem Grund gerechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte den Kläger nur wenige Tage vor Ausspruch der Kündigung vom 23.10.2017 mit drei Schreiben vom 17.10.2017 wegen drei – vom Kläger bestrittener – Pflichtverletzungen abgemahnt hat.

aa) Der Kläger soll beim Bauvorhaben T. versäumt haben, das Abnahmeprotokoll nach Durchführung der Hausübergabe im Original sowie digitalisiert im Betrieb zu hinterlegen (Abmahnung 1). Außerdem soll er die Bauzeitenpläne bei den Bauvorhaben K. und v. R. nicht vollständig und nicht zeitnah geführt haben (Abmahnung 2). Schließlich rügte die Beklagte ein eigenmächtiges Fernbleiben des Klägers von der Bauleiterbesprechung am 13.10.2017 (Abmahnung 3).

Regelmäßig liegt im Ausspruch einer Abmahnung der konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen. Der Arbeitgeber gibt mit einer Abmahnung zu erkennen, er sehe das Arbeitsverhältnis noch nicht als so gestört an, dass er es nicht mehr fortsetzen könne. Auf das dafür maßgebliche Motiv kommt es nicht an (vgl. BAG 12.05.2011 – 2 AZR 479/09 – Rn. 53 mwN).

So ist es auch hier. Die Beklagte hat dem Kläger mit den drei Abmahnungen vom 17.10.2017 jeweils eine Kündigung in Aussicht gestellt, wenn er seinen arbeitsvertraglichen Pflichten erneut nicht ordnungsgemäß nachkommen sollte. Sie sei nicht bereit, derartige Pflichtwidrigkeiten „in Zukunft“ hinzunehmen. Aus Empfängersicht erklärt der Arbeitgeber mit der Ankündigung, (erst) im Wiederholungsfall eine Kündigung auszusprechen, stillschweigend zugleich, eben dies aufgrund der aktuell gerügten Pflichtenverstöße nicht tun zu wollen. Darin liegt ein bewusster Verzicht auf das Recht zur Kündigung. Für den Kläger als Empfänger der drei Abmahnungen (§§ 133, 157 BGB) war klar, dass er dann, wenn er ab Zugang dieser Abmahnungen weitere Pflichtwidrigkeiten in dem genannten Sinne zu verantworten hat, mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechnen muss. Der Ausspruch einer auf gleichgelagerte Pflichtwidrigkeiten gestützten verhaltensbedingten Kündigung setzt dann aber voraus, dass der Arbeitnehmer nach Erhalt der Abmahnung(en) solche Pflichtwidrigkeiten erneut begeht.

Nach dem zweitinstanzlich konkretisierten Vortrag der Beklagten war dies hier aber nicht der Fall. Denn der Kläger hatte nach Erhalt der drei Abmahnungen vom 17.10.2017 keine Gelegenheit, seine Arbeitsleistung zu verbessern bzw. das gerügte Fehlverhalten abzustellen. Die Beklagte wirft dem Kläger nicht vor, dass er in den wenigen Tagen vom 17. bis zum 23.10.2017 weitere Pflichtwidrigkeiten im einschlägigen Sinne begangen hätte. Deswegen bedarf es keines Eingehens auf die vom Arbeitsgericht problematisierte Frage, welchen Zeitraum der Arbeitgeber zwischen Abmahnung und Kündigung abwarten muss, damit die gerügten Leistungs- oder Verhaltensmängel vom Arbeitnehmer korrigiert werden können (vgl. ErfK/Niemann 19. Aufl. BGB § 626 Rn. 29a).

bb) Die Beklagte hat zweitinstanzlich klargestellt, dass sie eine – bestrittene – Pflichtwidrigkeit als Kündigungsgrund heranzieht, die der Kläger in der Vergangenheit, also vor Erhalt der drei Abmahnungen vom 17.10.2017 begangen haben soll. Er soll als verantwortlicher Bauleiter das Bauvorhaben G. laut Abnahmeprotokoll vom 11.10.2017 ohne Blower-Door-Test übergeben haben. Das reicht als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB nicht aus.

Zwar wird der Verzicht hinfällig, wenn weitere Gründe zu den abgemahnten hinzutreten oder zwar bei Ausspruch der Abmahnung objektiv schon vorlagen, aber erst danach bekannt wurden. Diese können vom Arbeitgeber zur Begründung einer Kündigung herangezogen werden, die sowohl die neuen oder neu bekannt gewordenen Tatsachen als auch unterstützend die bereits abgemahnten Gründe erfasst, sofern sich daraus ein über das abgemahnte Verhalten hinausgehender Kündigungsgrund ergibt (vgl. BAG 12.05.2011 – 2 AZR 479/09 – Rn. 56 mwN). Kündigt der Arbeitgeber im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Abmahnung, kann dies allerdings dafür sprechen, dass die Kündigung in Wirklichkeit wegen der bereits abgemahnten Pflichtverletzung erfolgt, zumal dann, wenn der Arbeitnehmer zwischen Abmahnung und Kündigungserklärung nicht mehr gearbeitet hat. Es ist insbesondere in einem solchen Fall Sache des Arbeitgebers, im Einzelnen darzulegen, dass neue oder später bekannt gewordene Gründe hinzugetreten sind und erst sie seinen Kündigungsentschluss bestimmt haben (vgl. BAG 26.11.2009 – 2 AZR 751/08 – Rn. 15).

Nach diesen Maßstäben stellt der Vorwurf, der Kläger habe laut Abnahmeprotokoll vom 11.10.2017 beim Bauvorhaben G. den Blower-Door-Test nicht durchführen lassen, keinen wichtigen Grund dar. Das nachträglich bekannt gewordene Fehlverhalten ist nicht von einem solchen Gewicht, dass es der Beklagten nicht zumutbar gewesen wäre, dem Kläger nach Ausspruch der drei Abmahnungen vom 17.10.2017 Gelegenheit zu geben, seine Arbeitsweise zu ändern. Der Kündigungsvorwurf liegt auf der gleichen Linie wie die Pflichtverstöße, die die Beklagte mit drei Schreiben vom 17.10.2017 abgemahnt hat. Die Beklagte wirft dem Kläger nach Ausspruch der drei Abmahnungen nur zahlenmäßig umfangreichere, der Sache nach aber gleichgelagerte Fehlleistungen vor; dadurch ergibt sich keine neue Qualität der Kündigungsgründe (vgl. zu diesem Aspekt APS/Vossen 5. Aufl. KSchG § 1 Rn. 404a mwN).

Hinzu kommt, dass die Beklagte auf das Vorbringen des Klägers im erstinstanzlichen Schriftsatz vom 23.03.2018 nicht eingegangen ist. Der Kläger entlastet sich damit, dass er das Bauvorhaben G., das in Verzug gewesen sei, von einem gekündigten Kollegen übernommen habe. Er habe den Blower-Door-Test nachholen lassen. Im Übrigen hat der Kläger substantiiert bestritten, dass das Zertifikat über die Luftdichtheit nicht nachträglich erstellt und das Gebäude von der Beklagten nicht versichert werden kann. Die Beklagte ist diesem Vorbringen nicht durch weiteren unter Beweisantritt gestellten Vortrag entgegengetreten. Den kündigenden Arbeitgeber trifft die Darlegungs- und Beweislast auch für diejenigen Tatsachen, die einen vom Gekündigten behaupteten Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrund ausschließen (vgl. BAG 22.10.2015 – 2 AZR 569/14 – Rn. 23 mwN).

cc) Soweit die Beklagte dem Kläger vorwirft, sie habe am Tage der Kündigung festgestellt, dass er den Dienstwagen nicht pfleglich behandelt und von ihm selbst verursachte Schäden nicht gemeldet habe, liegt hierin kein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung iSd. § 626 Abs. 1 BGB. Das Fahrzeug hatte bei Übergabe an den Kläger am 09.03.2017 einen Kilometerstand von 103.212, bei der Rückgabe am 23.10.2017 betrug der Kilometerstand 134.372. Der Kläger musste das Fahrzeug in einem seinem Alter und der Laufleistung entsprechenden Zustand abgeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass er als Bauleiter auch auf Baustellen unterwegs war. Normale Verschleiß- und Gebrauchsspuren gelten nicht als Schaden. Der Vortrag der Beklagten unter Verweis auf die vorgelegten (teilweise unscharfen) Handyfotos reicht nicht aus, um darzulegen, dass die gerügten Mängel nicht auf normalem Verschleiß, sondern auf übermäßiger Abnutzung beruhen. Erst Recht besteht kein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung. Da der Kläger das Fahrzeug nach Aushändigung des Kündigungsschreibens sofort zurückgeben musste, kann ihm nicht vorgeworfen werden, dass er es nicht auf die Rückgabe vorbereitet, insbesondere innen und außen gereinigt hat.

2. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung ist sozial ungerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 1, Abs. 2 KSchG. Der Kläger hat seine Vertragspflichten nach Zugang der drei Abmahnungen vom 17.10.2017 nicht verletzt. Soweit die Beklagte behauptet, ihr sei nachträglich bekannt geworden, dass der Kläger einen Blower-Door-Test beim Bauvorhaben G. nicht veranlasst habe, ergeben sich daraus keine Kündigungsgründe von solchem Gewicht, dass eine ordentliche Kündigung gerechtfertigt wäre. Zur Begründung kann auf die obigen Ausführungen unter II 1b verwiesen werden.

3. Die Beklagte ist nach § 611a Abs. 2 BGB iVm. dem Arbeitsvertrag verpflichtet, an den Kläger für die Zeit vom 01. bis 23.10.2017 Arbeitsentgelt iHv. € 3.196,26 brutto zu zahlen.

a) Die Beklagte hat den Entgeltanspruch des Klägers nicht im Wege der Aufrechnung erfüllt.

Die Aufrechnung der Beklagten verstößt gegen das Aufrechnungsverbot des § 394 Satz 1 BGB. Nach dieser Vorschrift ist eine Aufrechnung gegen eine Forderung ausgeschlossen, soweit diese nicht der Pfändung unterworfen ist. Bei Arbeitseinkommen bestimmt sich der pfändbare Teil gemäß § 850 Abs. 1 ZPO nach Maßgabe der §§ 850a bis 850i ZPO. Zur Sicherung des Existenzminimums des Arbeitnehmers und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen regelt § 850c Abs. 1 ZPO einen unpfändbaren Grundbetrag. Dieser ist entsprechend den Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers gestaffelt und nach oben begrenzt. Für den Teil des Arbeitseinkommens, der diesen Grundbetrag übersteigt, gelten die weiteren Pfändungsbeschränkungen des § 850c Abs. 2 ZPO.

Rechnet der Arbeitgeber gegen Arbeitseinkommen auf, obliegt es ihm vorzutragen, dass die Aufrechnung unter Beachtung der Pfändungsschutzvorschriften erfolgt. Denn die Befugnis des Arbeitgebers, gegen den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers aufzurechnen, ist integraler Teil des Erfüllungseinwands, den der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Arbeitgeber dem Zahlungsanspruch des Arbeitnehmers entgegenhalten kann (vgl. BAG 22.09.2015 – 9 AZR 143/14 – Rn. 10 ff mwN). Im Urteilsverfahren, für das der Beibringungsgrundsatz gilt, ist es nicht Sache der Gerichte für Arbeitssachen, die pfändbaren Teile des Arbeitseinkommens zu ermitteln. Genügt der Arbeitgeber seiner diesbezüglichen Obliegenheit nicht, ist der Erfüllungseinwand – wie hier – unbeachtlich. Eine Aufrechnung mit Nettozahlungsansprüchen gegen eine Bruttoentgeltforderung ist nicht statthaft (vgl. BAG 20.06.2018 – 5 AZR 262/17 – Rn. 44 mwN).

Die Beklagte hat auch zweitinstanzlich den Nettobetrag nicht bestimmt, der sich bei der Abrechnung eines Bruttoarbeitsentgelts von € 3.196,26 ergibt. Die Aufrechnung ist daher unzulässig. Welches Arbeitsentgelt der Kläger nach Abzug der Steuern und Sozialversicherungsabgaben für die Zeit vom 01. bis 23.10.2017 zu beanspruchen hat, entzieht sich der Kenntnis des – ob des Beibringungsgrundsatzes zur Ermittlung des betreffenden Sachverhaltes nicht von Amts wegen verpflichteten – Berufungsgerichts. Der Klage ist demnach ohne Rücksicht auf den möglichen Bestand der Gegenforderung des Beklagten zu entsprechen. Die Beklagte ist wegen einer vermeintlichen Forderung iHv. € 800,00 netto nicht berechtigt, gegen das laufende Arbeitsentgelt für den Monat Oktober 2017 iHv. € 3.196,26 brutto auf „Null“ aufzurechnen.

b) Es bedarf auch zweitinstanzlich keiner Entscheidung, ob der Kläger der Beklagten zum Schadensersatz verpflichtet ist, weil das ihm überlassene Firmenfahrzeug bei der Rückgabe am 23.10.2017 bei einer Laufleistung von 134.372 Kilometern starke Verschmutzungen und mehrere Kratzer aufgewiesen haben soll. Der Kläger nutzte das Fahrzeug ua. für dienstliche Fahrten auf Baustellen; für gewöhnliche Gebrauchsspuren muss er – wie oben unter II 1b cc ausgeführt – nicht haften.

c) Der Anspruch auf Verzugszinsen ab dem 02.11.2017 folgt aus §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Das Arbeitsentgelt für den Monat Oktober 2017 war spätestens am Monatsletzten fällig, § 614 BGB.

III.

Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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