Skip to content

Beleidigung eines Arbeitskollegen als Bastard – Arbeitnehmerkündigung

In einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm (Az.: 18 Sa 645/21) vom 20. Januar 2022 wurde über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung und einen Weiterbeschäftigungsanspruch entschieden. Die Klägerin, seit dem 1. Oktober 2009 für die Beklagte als Verkäuferin beschäftigt, erhielt in den Jahren 2014 und 2016 überdurchschnittliche Bewertungen ihres Arbeits- und Sozialverhaltens. Jedoch wurden ihr in den Jahren 2018 und 2019 mehrere Abmahnungen erteilt, unter anderem aufgrund von Kassendifferenzen und unangemessenem Verhalten gegenüber Kunden und anderen Mitarbeitern.

Direkt zum Urteil: Az.: 18 Sa 645/21 springen.

Auseinandersetzung mit Kollegen und Kündigungsandrohung

Am 14. Dezember 2019 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und einem Kollegen, dem Zeugen B. Laut Beklagter hat die Klägerin den Zeugen beleidigt, indem sie ihn unter anderem einen „Bastard“ nannte. Nachdem sich die Klägerin über den Vorfall beschwert hatte und Konsequenzen für den Zeugen B. forderte, teilte die Beklagte in einem Schreiben vom 6. Januar 2020 dem Betriebsrat mit, dass sie beabsichtige, das Arbeitsverhältnis der Klägerin aus personen- und verhaltensbedingten Gründen zu kündigen. Hierbei wurden unter anderem Kassendifferenzen und der Vorfall vom 14. Dezember als Kündigungsgründe angeführt.

Kündigung und Kündigungsschutzklage der Klägerin

Mit Schreiben vom 8. Januar 2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2020. Die Klägerin erhob daraufhin Kündigungsschutzklage. Sie bestritt die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats und vertrat die Auffassung, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt sei. Die Klägerin wies Vorwürfe bezüglich der Kassendifferenzen und des unangemessenen Verhaltens zurück und behauptete, sie habe sich beim Vorfall vom 14. Dezember 2019 lediglich verteidigt. In der Berufung des Landesarbeitsgerichts Hamm wurde das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits, die Revision wird nicht zugelassen.

Benötigen Sie Hilfe in einem ähnlichen Fall? Jetzt Ersteinschätzung anfragen oder Beratungstermin vereinbaren: 02732 791079.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Hamm – Az.: 18 Sa 645/21 – Urteil vom 20.01.2022

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 05.05.2021 – 7 Ca 988/21 dahin abgeändert, dass die Klage insgesamt abgewiesen wird.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung, die die Beklagte auf Gründe im Verhalten der Klägerin stützen will, sowie um einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Die Klägerin wurde am 18.04.“0000″ geboren, sie ist verheiratet und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet. Seit dem 01.10.2009 ist sie für die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin als Verkäuferin in A tätig; im dortigen Betrieb beschäftigt die Beklagte mehr als 10 Arbeitnehmer vollzeitig.

In den Jahren 2014 und 2016 erhielt die Klägerin von ihren Vorgesetzten überdurchschnittliche Bewertungen des Arbeits- und Sozialverhaltens (weit überwiegend 6 Punkte von 7 möglichen Punkten). Im Jahr 2018 sprach die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Abmahnung aus, im Jahr 2019 erteilte sie der Klägerin insgesamt drei Abmahnungen. Mit der Abmahnung vom 16.05.2019 beanstandete die Beklagte sowohl Kassendifferenzen als auch unangemessenes Verhalten der Klägerin gegenüber Kunden und anderen Mitarbeitern der Beklagten. In der Abmahnung heißt es auszugsweise:

Wir erwarten künftig, dass sie derartige Unmutsäußerungen bei der Aufklärung von Differenzen unterlassen, und sich vielmehr konstruktiv an der Aufklärung von Kassendifferenzen beteiligen, ohne die Schuld pauschal einem Kollegen oder den Kunden selbst zuzuweisen. Wir erwarten ferner künftig von Ihnen, dass Sie jegliche Art von abfälligen Äußerungen gegenüber oder über Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden auf der Verkaufsfläche, in allen anderen Räumlichkeiten des Markts und im sonstigen Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit bei uns, unterlassen.

Sollten Sie abermals in dieser oder ähnlicher Weise gegen ihre Vertragspflichten verstoßen, werden wir das Arbeitsverhältnis kündigen. …“

Im Hinblick auf diese Vorwürfe ließ die Klägerin mit gewerkschaftlichem Schreiben vom 27.05.2019 eine Gegendarstellung zu ihrer Personalakte reichen.

Am 14.12.2019 kam es, als die Klägerin zum Dienst erschien, zu einer Kollision mit dem Zeugen B., der zu diesem Zeitpunkt einen Karton auf seiner Schulter trug. Der Zeuge ist Mitarbeiter im Verkauf bei der Beklagten. Danach führte die Klägerin mit dem Zeugen B. ein Streitgespräch im Pausenraum; die Beklagte behauptet, die Klägerin habe den Zeugen beleidigt, indem sie ihn u.a. einen „Bastard“ nannte. Die Klägerin begab sich nach den Ereignissen im Pausenraum in das Büro der Teamleitung, um sich zu beschweren. Sie führte ein Gespräch mit dem stellvertretenden Teamleiter im Beisein des Zeugen C., wobei die Klägerin ihre Erwartung äußerte, dass es für den Zeugen B. Konsequenzen gebe. Der Zeuge C. ist Mitarbeiter der Beklagten und Betriebsratsmitglied; er war während der Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und dem Zeugen B. im angrenzenden Lagerbereich tätig.

Mit Schreiben vom 06.01.2020 teilte die Beklagte dem Betriebsrat mit, sie beabsichtige, das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis aus personen- und verhaltensbedingten Gründen zu kündigen. Im Hinblick auf die personenbedingten Kündigungsgründe führte die Beklagte aus, die Klägerin sei nicht in der Lage, sich auf ihre Kassiertätigkeit zu konzentrieren; es sei im Dezember an drei Tagen zu Kassendifferenzen gekommen. Im Hinblick auf Gründe im Verhalten der Klägerin schilderte die Beklagte die Ereignisse vom 14.12.2019. Zu den Unterhaltspflichten der Klägerin heißt es im Anhörungsschreiben: „Sie hat nach den uns vorliegenden Informationen ein unterhaltspflichtiges Kind laut Lohnsteuerkarte und ist verheiratet“. Die Beklagte hat eine Ablichtung des Schreibens vom 06.01.2020 zu den Gerichtsakten gereicht. Ausweislich eines Empfangsvermerks, der sich auf dem Schreiben befindet, erhielt der Betriebsrat das Schreiben am 07.01.2020. Das Schreiben trägt zudem einen handschriftlichen Vermerk, unterzeichnet von der Betriebsratsvorsitzenden, mit folgendem Wortlaut: „Der BR hat zugestimmt am 07.01.20“.

Mit Schreiben vom 08.01.2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2020. Hiergegen hat die Klägerin Kündigungsschutzklage erhoben, die am 23.01.2020 bei dem Arbeitsgericht eingegangen ist.

Die Klägerin hat die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats mit Nichtwissen bestritten und die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die Klägerin hat Kassendifferenzen aus Dezember 2019 „mit Nichtmehrwissen“ bestritten und vorgetragen, dass es zum Teil bei der Abrechnung kleinere Differenzen gab, die sie auch gegengezeichnet habe. Zum Vorfall, der Gegenstand der Abmahnung vom 16.05.2019 war, hat die Klägerin vorgebracht, sie habe dem Kunden gegenüber in ruhigem Ton die Situation erklärt und ihrer Vorgesetzten gegenüber erwähnt, sie sei nicht verpflichtet, sich zu entschuldigen, wenn sie von Kunden in unangemessener Weise angesprochen und gar beleidigt werde.

Zum Vorfall vom 14.12.2019 hat die Klägerin behauptet: Der Zusammenstoß mit dem Zeugen B. habe sich ereignet, weil sich eine Kundin zwischen dem Zeugen und der Klägerin ganz schnell „durchgeschlängelt“ und ihr die Sicht versperrt habe. Die Klägerin habe eine Prellung am linken Oberarm erlitten, im Verkaufsraum dazu jedoch nichts gesagt. Sie habe sich vorgenommen, den Zeugen abseits des Verkaufsraums noch einmal auf die Situation anzusprechen. Die Klägerin habe sich zum Pausenraum begeben, um ihre Arbeitskleidung anzulegen. Dabei habe der Zeuge B. den Pausenraum betreten. Die Klägerin habe gegenüber Herrn B. geäußert: „Du hättest dich wenigstens entschuldigen können“. Der Zeuge habe erwidert: „Du hättest mir aus dem Weg gehen können“. Daraufhin sei es zu massiven Beleidigungen gekommen. Der Zeuge habe unter anderem erklärt, die Klägerin solle die Klappe und die Fresse halten. Er habe eine leere Plastikflasche in der Hand gehalten und diese mit voller Kraft demonstrativ auf den Pausentisch geschlagen. Die Klägerin habe sich bedroht gefühlt und erklärt, der Zeuge solle sie in Ruhe lassen, ihr aus dem Weg gehen und sie nicht ansprechen. Der Zeuge habe sich daraufhin aus dem Pausenraum entfernt, sei jedoch wieder hereingekommen und habe weitere Drohungen ausgesprochen für den Fall, dass die Klägerin zum Anwalt gehe. Der Zeuge B. habe geäußert: „Weißt du, mit wem du es zu tun hast?“ Die Klägerin habe daraufhin erwidert, sie fände das Verhalten asozial und sie habe keine Angst vor ihm. Als die Klägerin sodann ihre Beschwerde bei der Teamleitung angebracht habe, habe der Zeuge C. geäußert, Herr B. habe gesagt, dass die Klägerin ihn gefragt habe, ob er keine Erziehung genossen habe. Der stellvertretende Teamleiter habe dies mit den Worten kommentiert: „Du weißt ja, wie der .. ist“.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Betriebsrat sei nicht hinreichend über die sie entlastenden Umstände unterrichtet worden. Zudem sei der Betriebsrat nicht zu den Erfordernissen einer entsprechenden Interessenabwägung angehört worden. Als milderes Mittel im Vergleich zur Kündigung komme der Einsatz der Klägerin in einem anderen Bereich in Betracht.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 08.01.2020 nicht aufgelöst worden ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht;

3. die Beklagten im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder 2. zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Verkäuferin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sowohl aus Gründen in der Person als auch aus Gründen im Verhalten der Klägerin sozial gerechtfertigt. Die Beklagte hat behauptet, im Dezember 2019 sei es zu Fehlleistungen der Klägerin im Kassenbereich und zu Kassendifferenzen gekommen; vergleichbaren Beschäftigten unterliefen nicht annähernd so viele Fehler wie der Klägerin. Zu den Ereignissen vom 14.12.2019 hat die Beklagte folgendes behauptet: Der Zeuge B sei am Morgen dieses Tages, als er auf die Klägerin traf, davon ausgegangen, dass die Klägerin ihn aufgrund des schweren Kartons, den er trug, und aufgrund der Enge des Ganges vorrangig passieren lasse. Dies sei jedoch nicht geschehen. Die Klägerin habe den Zeugen B. im Beisein von Kunden angeschrien: „Sag mal, spinnst du, warum gehst du nicht zur Seite?“ Da die Klägerin – wie zwischen den Parteien unstreitig ist – noch nicht ihre Arbeitskleidung trug und daher nicht als Beschäftigte der Beklagten erkennbar gewesen sei, sei der Eindruck entstanden, der Zeuge habe eine Kundin angerempelt. Bei dem nachfolgenden Zusammentreffen im Pausenraum habe die Klägerin sogleich angefangen, den Zeugen B. anzuschreien. Sie habe geäußert, dass der Zeuge keine Erziehung genossen habe und ihm seine Eltern keinen Verstand beigebracht hätten; sie habe den Zeugen einen „Bastard“ genannt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe Schlechtleistungen der Klägerin im Hinblick auf die Ausführung der Kassiertätigkeit nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Durch ihr beleidigendes Verhalten gegenüber dem Zeugen B. am 14.12.2019 habe die Klägerin zwar die sie treffende vertragliche Rücksichtnahmepflicht auf die berechtigten Interessen der Beklagten verletzt. Im Hinblick darauf, dass die Auseinandersetzung im Rahmen eines Vieraugengesprächs erfolgte und von den Kunden nicht bemerkt worden sei, liege jedoch keine erhebliche Pflichtverletzung vor, die ohne den vorhergehenden Ausspruch einer Abmahnung eine Kündigung hätte rechtfertigen können. Eine einschlägige Abmahnung sei der Klägerin nicht erteilt worden.

Das Urteil erster Instanz ist der Beklagten am 12.05.2021 zugestellt worden. Sie hat mit einem Schriftsatz, der am 09.06.2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt. Die Beklagte hat die Berufung mit einem 12.08.2021 eingegangenem Schriftsatz begründet, nachdem zuvor die Berufungsbegründungsfrist durch gerichtlichen Beschluss bis zum 12.08.2021 verlängert worden war.

Die Beklagte meint, das Arbeitsgericht habe verkannt, dass es sich bei der Äußerung „Bastard“ um eine strafbare Beleidigung handele. Eine vergleichbare Pflichtverletzung sei Gegenstand der Abmahnung vom 16.05.2019 gewesen. Der Ausspruch einer weiteren Abmahnung sei nicht erfolgsversprechend gewesen. Die Beklagte behauptet, Klägerin sei im Mai 2019 wegen aggressiven Verhaltens und Kundenbeschwerden umgesetzt worden.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend. Sie behauptet, der Zeuge B. habe im Verlauf des Streitgesprächs am 14.12.2019 zu ihr gesagt: „Ich schlag dich kaputt“. Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Anhörung des Betriebsrats sei fehlerhaft gewesen, da die Beklagte sich im Hinblick auf die Mitteilung von Unterhaltspflichten auf die aus der Steuerkarte hervorgehenden Angaben beschränkt habe; diese Angaben (1 Kind) seien unzutreffend, da die Klägerin tatsächlich gegenüber zwei Kindern unterhaltspflichtig sei und sie sich mit ihrem Ehemann die Anzahl der Kinderfreibeträge geteilt habe. Wollte man es dem Arbeitgeber gestatten, im Rahmen der Betriebsratsanhörung zu den Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers lediglich die Angaben der Steuerkarte wiederzugeben, stelle dies eine mittelbare Frauendiskriminierung dar. Aus § 38b Abs. 2 EStG ergebe sich, dass die Eintragung eines Kindes auf der Lohnsteuerkarte nicht möglich sei, falls Beschäftigte die Steuerklasse 5 gewählt hätten. Dies treffe auf mehr Frauen als Männer zu. In diesen Fällen spiegelten die sich aus der Steuerkarte ergebenden Daten nicht die tatsächliche Anzahl der Unterhaltspflichten wider, was dazu führe, dass der Betriebsrat unzutreffend informiert werde und bei einer versuchten Einflussnahme auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers nicht hinreichend argumentieren könne. Die Vorgehensweise, sich hinsichtlich der Unterhaltspflichten des betroffenen Arbeitnehmers auf die Angabe der Lohnsteuerkarte zu beziehen, führe auch zu einer Benachteiligung von Elternteilen gegenüber Alleinstehenden.

Zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen B. und C.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht vom 20.01.2022 verwiesen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung ist zulässig.

Die Beklagte hat die Berufung insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 66 Abs. 1 ArbGG eingelegt und begründet.

II. Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Kündigungsschutzantrag ist unbegründet.

Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis wurde durch die Kündigung der Beklagten vom 08.01.2020 zum 30.06.2020 beendet. Die Kündigung ist rechtswirksam.

a) Die Kündigung ist nicht unwirksam gemäß § 1 Abs. 1 KSchG.

Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt. Sie ist durch Gründe im Verhalten der Klägerin (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG) bedingt.

aa) Für die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung gelten folgende Grundsätze:

Ein Grund, der die Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers rechtfertigt, liegt vor, wenn das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten eine Vertragspflicht verletzt, das Arbeitsverhältnis dadurch konkret beeinträchtigt wird, keine zumutbare Möglichkeit anderweitiger Beschäftigung besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Parteien billigenswert und angemessen erscheint (BAG, Urteil vom 17.06.2003 – 2 AZR 62/02, Urteil vom 31.05.2007 – 2 AZR 200/06, Urteil vom 23.06.2009 – 2 AZR 283/08, jeweils m.w.N.). Auch die schwerwiegende Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten kann einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund darstellen und im Einzelfall sogar zur außerordentlichen Kündigung berechtigen (BAG, Urteil vom 23.06.2009 – 2 AZR 283/08). Grobe Beleidigungen von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, können einen gewichtigen Verstoß gegen die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers (§ 241 Abs. 2 BGB) darstellen und eine fristgemäße oder fristlose Kündigung rechtfertigen (BAG, Urteil vom 10.12.2009 – 2 AZR 534/08, Urteil vom 27.09.2012 – 2 AZR 646/11; LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 24.01.2017 – 3 Sa 244/16; Sächsisches LAG, Urteil vom 17.07.2017 – 5 Sa 273/16). Der Arbeitnehmer ist gemäß § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet, im Rahmen des Arbeitsverhältnisses Störungen des Betriebsfriedens zu vermeiden (BAG, Urteil vom 30.07.2020 – 2 AZR 43/20; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.02.2018 – 5 Sa 324/17). Den Arbeitgeber trifft eine Fürsorgepflicht hinsichtlich des Ehrschutzes von Mitarbeitern im Betrieb (Deeg/Scheuenpflug, Arbeitsrecht aktuell 2010, 547; Häcker, Arbeitsrechtsberater 2008, 118, 120). Bei beleidigenden Äußerungen kann der Arbeitnehmer sich im Regelfall nicht auf sein Recht zur freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) berufen. Das Grundrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet und findet seine Grenze im Recht der persönlichen Ehre gemäß Art. 5 Abs. 2 GG (BAG, Urteil vom 27.09.2012 – 2 AZR 646/11).

Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das Prognoseprinzip (BAG, Urteil vom 31.05.2007 – 2 AZR 200/06, Urteil vom 23.06.2009 – 2 AZR 283/08). Der Zweck der Kündigung ist nicht eine Sanktion für die begangene Vertragspflichtverletzung, sondern die Vermeidung des Risikos weiterer erheblicher Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich deshalb noch für die Zukunft belastend auswirken. Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig den Arbeitsvertrag nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen.

bb) Im Streitfall verletzte die Klägerin ihre vertragliche Rücksichtnahmepflicht massiv, indem sie den Zeugen B. am 14.12.2019 in grober Weise beleidigte.

Die Klägerin erklärte am 14.12.2019 im Pausenraum gegenüber dem Zeugen B., er habe keine Erziehung genossen und seine Eltern hätten ihn falsch behandelt. Sie nannte den Zeugen zudem einen „Bastard“. Dieser Sachverhalt steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme fest.

(1) Der von der Beklagten benannte Zeuge B. hat dies bestätigt.

Er hat den Geschehensablauf glaubhaft geschildert. Seine Bekundungen waren schlüssig und detailliert. Er nannte Details (das Schlagen mit der leeren Plastikflasche auf den Tisch), die auch dem Vorbringen der Klägerin entsprechen. Der von ihm geschilderte Geschehensablauf eines eskalierenden Streitgesprächs ist nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht unplausibel, sondern angesichts der Motivationslage der Klägerin sehr wahrscheinlich. Die Klägerin suchte nach ihrem Vorbringen gerade deshalb das Gespräch mit dem Zeugen, weil sie von ihm eine Entschuldigung erwartete, da es zuvor zu einer Kollision gekommen war. Die Klägerin selbst schilderte diese Kollision als schmerzhaft. Es erscheint daher nachvollziehbar, dass sie das Gespräch mit der Absicht führte, den Zeugen B. zu tadeln und zu belehren. Die erwartete Entschuldigung blieb indes aus. Dies betrachtete die Klägerin, wie sie im Rahmen der Beweisaufnahme vor dem Berufungsgericht selbst erklärte, als „Provokation“. Dass auf die Klägerin auf diese von ihr so empfundene „Provokation“ im Laufe des Streitgesprächs mit einer gezielten Beleidigung reagierte, ist ein kein ungewöhnlicher Geschehensablauf. Ihr Bedürfnis, den Zeugen B. „abzustrafen“, war auch noch nach dem Streitgespräch vorhanden, als sie die Teamleitung aufsuchte, um zu erreichen, dass Konsequenzen gegenüber dem Zeugen ergriffen werden.

Der Zeuge ist auch glaubwürdig. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass der Zeuge ein Eigeninteresse an einer Schilderung des Geschehensablaufs hat, die vom Vorbringen der Klägerin abweicht. Denn die Beklagte könnte es ihm übel nehmen, wenn er im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung den Geschehensablauf anders schildert, als die Beklagte dies schriftsätzlich im Rechtsstreit und gegenüber dem Betriebsrat getan hat. Die Kammer verkennt auch nicht, dass es in der Vergangenheit Spannungen zwischen dem Zeugen und der Klägerin gab. Der Zeuge hat diese Spannungen auf Nachfrage eingeräumt. Andererseits ist zu bedenken, dass natürlich auch die Klägerin als Partei des Rechtsstreits ein erhebliches Interesse daran hat, den Sachverhalt so darzustellen, dass ihr der Vorwurf einer schweren Beleidigung nicht gemacht werden kann. Angesichts des bereits zuvor mit der Klägerin bestehenden Konfliktes und angesichts des Umstandes, dass dem Zeugen klar sein musste, das Gericht habe zu entscheiden, ob seine Bekundungen oder der Vortrag der Klägerin falsch sind, war seine Aussage erstaunlich sachlich und nicht von Anschuldigungseifer geprägt. Der Zeuge hat nicht sogleich das „Kerngeschehen“ geschildert, nämlich die Beleidigung der Klägerin, obwohl dies das ihm mitgeteilte Beweisthema war. Er hat vielmehr Wert darauf gelegt, gleich zu Beginn seiner Aussage auch darzustellen, was sich zuvor ereignete. Dass die Klägerin „Bastard“ zu ihm sagte, hat der Zeuge nur einmal erklärt. Er hat die Äußerung danach neutral zu umschreiben versucht („nichts derart Beleidigendes zu Frau D. gesagt, wie sie zu mir“, „der negative Wortlaut von Frau D.“). Der Zeuge ist trotz mehrfacher Nachfrage seitens der Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei seiner Schilderung der Ereignisse geblieben. Er hatte andererseits kein Problem damit, gewisse Erinnerungslücken einzuräumen, beispielsweise im Hinblick auf die Frage, ob er nach dem Gespräch noch jemanden getroffen habe. Der Zeuge hat auch weder davon abgesehen, seine Beteiligung im Streitgespräch zu schildern, noch hat er versucht, diese Beteiligung kleinzureden. So hat er eingeräumt, es könne sein, dass er gegenüber der Klägerin „halt die Klappe“ sagte; er hat auch bekundet, mit der leeren Plastikflasche auf den Tisch geschlagen zu haben.

(2) Die Bekundungen des Zeugen B. werden durch die Aussage des von der Klägerin benannten Zeugen C. nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt.

Der Zeuge C. hat glaubhaft geschildert, dass er den Streit zwischen der Klägerin und dem Zeugen B. jedenfalls bruchstückhaft mitbekam. Der Zeuge hat mehrfach bekräftigt, dass es bei dem Streit laut und „derbe“ herging. Er hat auch bestätigt, dass die Klägerin den Zeugen B. als „Bastard“ beschimpfte. Der Zeuge hat ferner bekundet, dass die Klägerin im Streitgespräch mit dem Zeugen B. äußerte, dieser habe keine Erziehung genossen.

Die Bekundungen des Zeugen C. sind im Hinblick auf den Verlauf der Auseinandersetzung zwischen der Klägerin und dem Zeugen B. in hohem Maße glaubwürdig. Der Zeuge räumte freimütig ein, nicht jedes Detail des Gesprächs verstanden zu haben. Die Kammer hatte den Eindruck, der Zeuge war bemüht, einerseits bloß nichts Falsches zu sagen, andererseits die Klägerin nicht unnötig zu belasten. Denn der Zeuge C. hat erst auf Nachfrage durch das Gericht bekundet, dass die Klägerin das Wort „Bastard“ benutzte. Der Zeuge hat dann auch bekräftigt, die Klägerin habe das „auf jeden Fall“ gesagt und ist im Laufe der nachfolgenden intensiven Befragung durch die Klägervertreterin nicht davon abgerückt. Dass die Klägerin lediglich äußerte „lass‘ das“, „ich hass‘ das“ oder „war’s das“, wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Rahmen der Beweisaufnahme insinuierte, und der Zeuge diese Worte als „Bastard“ missverstand, schließt die Kammer nach dem Verlauf der Vernehmung aus. Die Klägerin selbst hat zuvor auch nicht vorgetragen, Derartiges gegenüber dem Zeugen B. erklärt zu haben. Angesichts der räumlichen Nähe des Zeugen C. zu dem Geschehen im Pausenraum ist es auch plausibel, dass der Zeuge zumindest die in größerer Lautstärke ausgetauschten Bemerkungen zu verstehen imstande war.

cc) Vor dem Hintergrund dieser Pflichtverletzung ist es für die Beklagte nicht zumutbar, das Arbeitsverhältnis der Klägerin über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist hinaus fortzusetzen; das Weiterbeschäftigungsinteresse der Klägerin muss zurücktreten.

Die Kammer hat sämtliche von der Klägerin zu ihren Gunsten vorgebrachten Umstände berücksichtigt. Für die Klägerin spricht insbesondere, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien seit dem Jahr 2009, also zum Zeitpunkt des kündigungsrelevanten Vorfalls, bereits mehr als zehn Jahre bestand. Für das Weiterbeschäftigungsinteresse der Klägerin sind auch die sie treffenden Unterhaltspflichten gegenüber zwei Kindern und gegenüber ihrem Ehemann ins Feld zu führen. Schließlich ist zu bedenken, dass es sich bei der Klägerin um eine Arbeitnehmerin handelt, deren Leistungen jedenfalls in den Jahren 2014 und 2016 von den Vorgesetzten ausdrücklich gelobt wurden. Das vermag das Ergebnis der Interessenabwägung jedoch nicht zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Entscheidend für das Auflösungsinteresse der Beklagten spricht die Schwere der Pflichtverletzung. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Beleidigung in einem Gespräch erfolgte, an dem nur die Klägerin und der Zeuge B. teilnahmen, und dass es um einen einmaligen Vorfall geht. Allerdings handelt es sich um eine besonders schwere Beleidigung. Mit dem Schimpfwort „Bastard“ hat die Klägerin den Zeugen B. als unterwertigen Menschen von illegitimer Abstammung bezeichnet. Das stellt eine gravierende Ehrkränkung dar. Hinzu kommt, dass sie dem Zeugen zuvor bescheinigte, er habe keine Erziehung genossen.

Diese schwere Beleidigung ist nicht im Ansatz nachvollziehbar. Das Verständnis versagt schon hinsichtlich der Erwartungshaltung, mit der die Klägerin das Streitgespräch führte. Sie ging davon aus, der Zeuge B. habe sich wegen der zuvor stattgefundenen Kollision bei ihr zu entschuldigen. Selbst nach dem von ihr geschilderten Sachverhalt bestand jedoch für eine Entschuldigung des Zeugen B. überhaupt kein Anlass. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, der Zeuge habe sie absichtlich oder auch nur fahrlässig angerempelt. Vielmehr hat die Klägerin selbst vorgebracht, die Kollision habe sich ereignet, weil eine Kundin sich überraschend zwischen den beiden „durchschlängelte“. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge B. die Klägerin im Laufe des Streitgesprächs unangemessen provozierte, beleidigte oder gar bedrohte. Keiner der Zeugen bestätigte, dass sich Derartiges ereignete. Weder die Äußerung des Zeugen B. „halt die Klappe“ noch sein Schlagen mit der leeren Plastikflasche auf den Tisch können die Beleidigung als „Bastard“ rechtfertigen oder auch nur relativieren.

Hinzu kommt, dass der Klägerin jedenfalls aufgrund der Abmahnung vom 16.05.2019 klar sein musste, dass die Beklagte Beleidigungen von Mitarbeitern als arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen ansieht und nicht duldet. Dabei ist nicht entscheidend, ob diese Abmahnung in formaler Hinsicht zu beanstanden ist und ob der Klägerin gegebenenfalls ein Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte zustünde. Kann der Arbeitnehmer aus der – gegebenenfalls auch: unberechtigten – Abmahnung erkennen, welches Verhalten der Arbeitgeber erwartet und welches Fehlverhalten er als so schwerwiegend ansieht, dass es ihm aus seiner Sicht Anlass zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses gibt, so kommt der Abmahnung sogar eine kündigungsrechtliche Warnfunktion zu (BAG, Urteil vom 23.06.2009 – 2 AZR 283/08; Fischermeier/Krumbiegel in: KR, 13. Auflage 2022, § 626 BGB Rdnr. 289 m.w.N.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Abmahnung vom 16.05.2019. Insbesondere konnte die Klägerin der Abmahnung entnehmen, dass sie sich im Interesse der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses eines angemessenen Umgangstones auch gegenüber Arbeitskollegen zu befleißigen hat.

Für das Auflösungsinteresse der Beklagten spricht ferner, dass das Arbeitsverhältnis nicht unbelastet war. Dass es bei der Klägerin zu Kassendifferenzen kam, ist im Ergebnis zwischen den Parteien unstreitig. Die Klägerin hat zwar die Höhe einzelner Differenzen in Abrede gestellt; sie hat jedoch eingeräumt, kleinere Differenzen gegengezeichnet zu haben. In der Gegendarstellung vom 27.05.2019 lässt sie vorbringen, sie bedauere, dass Kassendifferenzen entstanden seien.

Das Fehlverhalten der Klägerin rief auch betriebliche Auswirkungen hervor. Der Zeuge B. musste eine schwere Ehrkränkung hinnehmen, für die die Klägerin sich nicht entschuldigt hat. Zudem war es der Klägerin daran gelegen, auch die Teamleitung für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Insoweit ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin, nachdem sie den Zeugen B. beleidigte, auch noch die Teamleitung aufsuchte, um zu erreichen, dass gegenüber dem Zeugen arbeitsrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Der Zeuge C. hat erklärt, die Klägerin habe „immer wieder darauf bestanden, dass Herr B. sich entschuldigt und dass er abgemahnt wird“. Damit hat die Klägerin, nachdem sie durch die Beleidigung des Zeugen eine Vertragspflichtverletzung beging, den Konflikt noch weiter angeheizt.

Insbesondere aufgrund dieses Verhaltens der Klägerin nach den Ereignissen im Pausenraum am 14.12.2019 ist eine negative Prognose zu ihren Lasten zu erstellen. Die Beklagte musste in Ansehung des uneinsichtigen Verhaltens der Klägerin damit rechnen, dass sie auch zukünftig in Situationen, in denen ihr (Un-)Rechtsbewusstsein aus dem Ruder läuft, Nebenpflichtverletzungen in Form von ehrkränkenden Äußerungen begeht. Aus dem Verhalten der Klägerin ergibt sich das Bild einer Persönlichkeit, die jede von ihr so empfundene Beeinträchtigung ihrer eigenen Interessen zum Anlass für einen aggressiven „Gegenschlag“ nimmt, ohne berechtigte Belange des Gegenübers anzuerkennen. Dazu passt es, dass die Klägerin sich im Hinblick auf die Abmahnungen vom 02.05.2018 und vom 19.11.2019 weigerte, auch nur deren Erhalt zu quittieren.

dd) Mildere Mittel als der Ausspruch einer ordentlichen Kündigung sind nicht ersichtlich.

(1) Die Beklagte musste die Klägerin nicht zuvor abmahnen.

Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht, wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 m.w.N.). Im Streitfall liegt eine schwere Pflichtverletzung vor (siehe oben unter I 2 a cc der Entscheidungsgründe). Die Klägerin konnte nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die Beklagte die schwere Beleidigung eines Mitarbeiters hinnimmt und die Pflichtverletzung keine Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses haben werde.

(2) Auch die Beschäftigung der Klägerin auf einem anderen Arbeitsplatz in einem anderen Bereich muss als milderes Mittel ausscheiden.

Es ist schon nicht ersichtlich, ob ein freier Arbeitsplatz existierte und ob die Beklagte durch die Ausübung des Direktionsrechts der Klägerin andere Tätigkeiten in anderen Bereichen hätte zuweisen können. Jedenfalls war sie dazu nicht verpflichtet, da das Fehlverhalten der Klägerin nicht arbeitsplatzbezogen ist. Auch nach einer Umsetzung der Klägerin musste die Beklagte befürchten, dass es zu Spannungen mit den Arbeitskollegen und verbalen Entgleisungen der Klägerin kommt.

b) Die Kündigung ist nicht unwirksam gemäß § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG.

aa) Hinsichtlich der Frage, ob der Arbeitgeber den Betriebsrat vor dem Ausspruch einer Kündigung ordnungsgemäß nach § 102 BetrVG angehört hat, gelten folgende Grundsätze:

Eine Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG nicht nur dann unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat überhaupt zu beteiligen. Sie ist es auch dann, wenn er ihn nicht ordnungsgemäß beteiligt hat, vor allem seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nicht ausreichend nachgekommen ist (z.B. BAG, Urteil vom 17.03.2016 – 2 AZR 182/15). Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates setzt voraus, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Gründe für die beabsichtigte Kündigung mitteilt (§ 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG) und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG).

An die Mitteilungspflicht im Anhörungsverfahren sind allerdings nicht dieselben Anforderungen zu stellen wie an die Darlegungen des Arbeitgebers im Prozess. Es gilt der Grundsatz der „subjektiven Determinierung“. Der Betriebsrat ist immer dann ordnungsgemäß angehört worden, wenn ihn der Arbeitgeber die aus seiner Sicht tragenden Umstände unterbreitet hat. Der für die Kündigung maßgebende Sachverhalt muss so genau und umfassend beschrieben werden, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen in der Lage ist, selbst die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe zu prüfen und sich ein Bild zu machen (z.B. BAG, Urteil vom 05.11.2009 – 2 AZR 676/08, Urteil vom 22.04.2010 – 2 AZR 991/08). Dabei muss der Arbeitgeber seinen Wissensstand richtig an den Betriebsrat weitergeben. Eine aus Sicht des Arbeitgebers bewusst unrichtige oder unvollständige und damit irreführende Darstellung ist keine ordnungsgemäße Anhörung (BAG, Urteil vom 22.09.1994 – 2 AZR 31/94, Urteil vom 31.01.1996 – 2 AZR 181/95, Urteil vom 05.11.2009 – 2 AZR 676/08). Zu einer vollständigen und wahrheitsgemäßen Information gehört darüber hinaus die Unterrichtung über Tatsachen, die ihm – dem Arbeitgeber – bekannt und für eine Stellungnahme des Betriebsrats möglicherweise bedeutsam sind, weil sie den Arbeitnehmer entlasten und deshalb gegen eine Kündigung sprechen können (BAG, Urteil vom 06.02.1997 – 2 AZR 265/96, Urteil vom 03.11. 2011 – 2 AZR 748/10, Urteil vom 23.10.2014 – 2 AZR 736/13).

Der Arbeitgeber muss darüber hinaus den Betriebsrat vor jeder Kündigung anhören (§ 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Der Betriebsrat muss im Falle einer außerordentlichen Kündigung Gelegenheit haben, innerhalb einer Frist von drei Tagen zur Kündigung Stellung zu nehmen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 BetrVG); bei einer ordentlichen Kündigung beträgt die Frist eine Woche (§ 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Spricht der Arbeitgeber die Kündigung vor Ablauf dieser Frist aus, so ist die Kündigung unwirksam. Äußert der Betriebsrat sich vor Ablauf dieser Frist abschließend zur Kündigung, darf der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen.

Hinsichtlich der Darlegungslast für die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates gilt Folgendes (BAG, Urteil vom 23.06.2005 – 2 AZR 193/04, Urteil vom 16.03.2000 – 2 AZR 75/99): Im Prozess hat der Arbeitnehmer zunächst vorzutragen, dass ein Betriebsrat besteht und deshalb nach § 102 BetrVG vor Ausspruch einer Kündigung dessen Anhörung erforderlich war. Auf einen entsprechenden Sachvortrag des Arbeitnehmers hin obliegt es dem Arbeitgeber, darzulegen, dass der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden ist. Auf einen entsprechenden Prozessvortrag des Arbeitgebers hin darf sich der Arbeitnehmer dann allerdings nicht mehr darauf beschränken, die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung pauschal mit Nichtwissen zu bestreiten. Er hat sich vielmehr nach § 138 Abs. 1 und 3 ZPO vollständig über den vom Arbeitgeber vorgetragenen Sachverhalt zu erklären und im Einzelnen zu bezeichnen, ob er rügen will, der Betriebsrat sei entgegen der Behauptung des Arbeitgebers überhaupt nicht angehört worden, oder in welchen einzelnen Punkten er die tatsächlichen Erklärungen des Arbeitgebers über die Betriebsratsanhörung für falsch oder die dem Betriebsrat mitgeteilten Tatsachen für unvollständig hält. Dies erfordert gegebenenfalls einen ergänzenden Sachvortrag des Arbeitgebers und ermöglicht eine Beweiserhebung durch das Gericht über die tatsächlich streitigen Tatsachen.

bb) Legt man dies zugrunde, so erweist sich die Anhörung des Betriebsrats im Streitfall als ordnungsgemäß.

(1) Die Beklagte informierte den Betriebsrat hinreichend über den kündigungsrelevanten Vorfall vom 14.12.2019.

Im Anhörungsschreiben vom 06.01.2020 schilderte die Beklagte das Geschehen im Pausenraum hinreichend detailliert. Sie führt aus, die Klägerin habe den Zeugen einen „Bastard“ genannt. Soweit die Beklagte im Anhörungsschreiben auch Kassendifferenzen anspricht, handelt es sich um Umstände, die einem anderen Kündigungsgrund (personenbedingte Kündigung) zuzuordnen sind. Anhaltspunkte für eine bewusste Falschinformation des Betriebsrats liegen insofern nicht vor. Soweit die Beklagte im Anhörungsschreiben auch das Geschehen anspricht, das sich zuvor im Verkaufsraum ereignete, nämlich die Kollision von Klägerin und dem Zeugen B., kann offen bleiben, ob die Darstellung dieser Begebenheit im Anhörungsschreiben in allen Einzelheiten zutreffend ist, insbesondere im Hinblick darauf, ob die Klägerin sich sogleich lautstark beschwerte. Es liegen jedenfalls keine Hinweise darauf vor, dass die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat insoweit bewusst unwahre Angaben machte.

Dem Anhörungsschreiben waren auch die Abmahnungen, die gegenüber der Klägerin ausgesprochen worden waren, insbesondere die Abmahnung vom 16.05.2019, beigefügt. Das muss zwischen den Parteien als unstreitig gelten. Dass die Abmahnungen dem Anhörungsschreiben beigefügt waren, ergibt sich aus einem entsprechenden Hinweis im letzten Absatz des Anhörungsschreibens. Die Klägerin hat nicht konkret in Abrede gestellt, dass das Schreiben vom 06.01.2020 nebst Abmahnungen dem Betriebsrat zugeleitet wurde.

(2) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte dem Betriebsrat im Hinblick auf die Unterhaltspflichten, die die Klägerin treffen, im Anhörungsschreiben vom 06.01.2020 mitteilte, die Klägerin habe „nach den uns vorliegenden Informationen ein unterhaltspflichtiges Kind laut Lohnsteuerkarte“.

(a) Die Beklagte ist damit ihrer Pflicht nachgekommen, die Sozialdaten des zu kündigenden Arbeitnehmers mitzuteilen.

Die Pflicht zur Mitteilung der Sozialdaten des Arbeitnehmers, insbesondere auch der Unterhaltspflichten, ergibt sich daraus, dass der Arbeitgeber dem Betriebsrat keine persönlichen Umstände vorenthalten darf, die sich im Rahmen der Interessenabwägung zu seinen Gunsten auswirken können (BAG, Urteil vom 26.09.2002 – 2 AZR 424/01), wobei eine nähere Begründung für die in Ansehung der Sozialdaten zu treffenden Interessenabwägung vom Arbeitgeber nicht zu verlangen ist (BAG, Urteil vom 23.12.2014 – 2 AZR 736/13). Die Beklagte unterrichtete den Betriebsrat über das Alter, die Dauer der Betriebszugehörigkeit und den Familienstand der Klägerin. Zwischen den Parteien besteht kein Streit, dass diese Informationen zutreffend waren. Wahrheitswidrig unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat auch nicht im Hinblick auf die Unterhaltspflichten der Klägerin. Zwar wurde der Betriebsrat nicht darüber informiert, dass die Klägerin, was im Ergebnis zwischen den Parteien unstreitig ist, Unterhaltspflichten gegenüber zwei Kindern treffen. Jedoch ist die Mitteilung der Beklagten im Anhörungsschreiben vom 06.01.2020, aus der Lohnsteuerkarte der Klägerin ergebe sich, dass sie einem Kind gegenüber unterhaltspflichtig ist, nicht unwahr. Die Klägerin hat nicht in Abrede gestellt, dass auf ihrer Lohnsteuerkarte nur ein Kind eingetragen ist.

(b) Es stellt die Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung nicht in Frage, dass der Betriebsrat nicht über die Unterhaltspflichten informiert wurde, die die Klägerin tatsächlich treffen.

Freilich spricht viel dafür, einem Arbeitgeber, der konkrete Kenntnisse darüber besitzt, dass die Angaben auf der Lohnsteuerkarte nicht die tatsächlichen Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers widerspiegeln, abzuverlangen, seinen diesbezüglichen Kenntnisstand an den Betriebsrat weiterzugeben und sich nicht auf die Inbezugnahme der Angaben gemäß Lohnsteuerkarte zu begnügen. Der Beklagten ist allerdings insoweit kein Vorwurf zu machen, da nicht ersichtlich ist, dass sie über die Angaben auf der Lohnsteuerkarte hinausgehend wusste, dass die Klägerin zwei Kindern gegenüber unterhaltspflichtig ist. Dem Parteivorbringen lässt sich nicht entnehmen, dass die Beklagte solche Kenntnisse besaß und wodurch sie sie erlangte.

In Ermangelung konkreter Kenntnisse über die Unterhaltspflichten, die die Klägerin treffen, wäre die Beklagte nur imstande gewesen, den Betriebsrat über die tatsächliche Zahl der Unterhaltspflichten zu informieren, wenn sie entsprechende Ermittlungen angestellt hätte. Hierzu war sie jedoch nicht verpflichtet.

(aa) Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 24.11.2005 – 2 AZR 514/04 m.w.N.) ist die Bezugnahme auf die Angaben, die sich aus der Steuerkarte des Arbeitnehmers ergeben, im Rahmen der Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht zu beanstanden.

Der Arbeitgeber ist nicht gehalten, die Richtigkeit dokumentierter Angaben zu überprüfen. Überreicht der Arbeitnehmer die Lohnsteuerkarte, ohne den Arbeitgeber hinsichtlich darüber hinausgehender Daten aufzuklären, muss er davon ausgehen, dass der Arbeitgeber sich auf die dokumentierten Daten verlässt.

(bb) Eine andere Konkretisierung der Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung zu stellen sind, ist nicht erforderlich, um Frauen vor Diskriminierung zu schützen.

Auch dann, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, einer Frau gegenüber eine Kündigung auszusprechen, ist er nicht verpflichtet, Nachforschungen über deren tatsächliche Kinderzahl bzw. sie tatsächlich treffender Unterhaltspflichten anzustellen. Es ist weder eine richtlinienkonforme Auslegung des § 102 Abs. 1 BetrVG im Hinblick auf die Richtlinien 2002/73/EG, 2004/113/EG zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen noch eine systematisch-teleologische Auslegung des § 102 Abs. 1 BetrVG im Lichte des AGG geboten, die den Arbeitgebern Ermittlungspflichten im Hinblick auf die Unterhaltspflichten zu kündigender Frauen auferlegen könnte.

Dabei kann zu Gunsten der Klägerin angenommen werden, dass mehr Frauen als Männer die Steuerklasse 5 wählen (mit der Folge, dass Kinderfreibeträge als Lohnsteuerabzugsmerkmale nicht berücksichtigt werden, §§ 38b Abs. 2 S. 1, 39 Abs. 4, 39e Abs. 1 EStG). Ebenso kann angenommen werden, dass mehr verheiratete Frauen als verheiratete Männer teilzeitbeschäftigt sind (mit der Folge, dass Kinderfreibeträge als Lohnsteuerabzugsmerkmale bei dem besserverdienenden Ehemann berücksichtigt werden). Dies zugrunde gelegt ist konsequenterweise auch davon auszugehen, dass die Angaben im Hinblick auf die Kinderzahl nach Maßgabe der Lohnsteuerkarte bzw. ElStam bei Frauen häufiger unzutreffend niedriger sind als bei Männern. Frauen werden gleichwohl durch die Praxis, dem Arbeitgeber bei der Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG die Bezugnahme auf die sich aus der Lohnsteuerkarte ergebenden Unterhaltspflichten zu gestatten, weder unmittelbar noch mittelbar benachteiligt.

(aaa) Eine unmittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 1 AGG) von Frauen liegt nicht vor.

Legt man § 102 Abs. 1 BetrVG dahin aus, dass der Arbeitgeber im Hinblick auf die Unterhaltspflichten die Angaben in Bezug nehmen darf, die sich aus der Lohnsteuerkarte (bzw. aus ELStAM) ergeben, so wird nicht an das Geschlecht als in § 1 AGG genanntes Merkmal angeknüpft. Dem Arbeitgeber ist es gleichermaßen bei Männern wie Frauen gestattet, sich auf die dokumentierten Angaben zu den Lohnsteuerabzugsmerkmalen gegenüber dem Betriebsrat zu beziehen.

(bbb) Auch die Voraussetzungen für eine mittelbare Benachteiligung (§ 3 Abs. 2 AGG) sind nicht erfüllt.

(i) Es fehlt schon an einer Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG.

Erforderlich für eine mittelbare Benachteiligung ist, dass die die betroffene Beschäftigtengruppe ungünstiger behandelt wird (Hey/Forst, 2. Aufl. 2015, § 3 AGG Rdnr. 52). Das setzt voraus, dass eine Schlechterstellung tatsächlich eintritt; die bloße Gefahr reicht grundsätzlich nicht aus (vgl. zum Begriffsverständnis in § 1 Abs. 1 AGG Rupp, in: Henssler/Willemsen/Kalb, 9. Auflage 2020, § 3 AGG Rdnr. 2 m.w.N.). Jedenfalls ist erforderlich, dass nicht nur eine abstrakte Gefährdungslage, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr besteht (so unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung Broy, in: jurisPK-BGB, 9. Auflage 2020, § 3 AGG Rdnr. 32; Schrader/Schubert, in: Däubler, 5. Aufl. 2021, § 3 AGG Rdnr. 67; Bauer/Krieger, 4. Aufl. 2015, § 3 AGG Rdnr. 26 m.w.N.). Eine solche hinreichend konkrete Gefahr für Frauen ist nicht erkennbar, wenn sich der Arbeitgeber im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG zwecks Mitteilung der Unterhaltspflichten auf die dokumentierten Angaben in der Lohnsteuerkarte (bzw. in ELStAM) bezieht.

Informiert der Arbeitgeber den Betriebsrat über den Kündigungsgrund und über die Sozialdaten des zu kündigenden Arbeitnehmers, berührt dies die Rechtstellung des zu kündigenden Arbeitnehmers nicht direkt. Erst die Reaktion des Betriebsrats auf die mitgeteilten Umstände kann – mittelbare – Auswirkungen auf die Rechtstellung des Arbeitnehmers im Sinne einer Besser- oder Schlechterstellung hervorrufen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Widerspruch des Betriebsrats im Sinne des § 102 Abs. 3 BetrVG bei verhaltensbedingten Kündigungen mit der Begründung, der Arbeitnehmer sei aufgrund der ihn treffenden Sozialdaten, insbesondere der Unterhaltspflichten, besonders schutzwürdig, nicht möglich ist. Die Berücksichtigung von Unterhaltspflichten ist nur im Rahmen des Widerspruchsgrundes aus § 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG vorgesehen; dieser Widerspruchsgrund setzt allerdings eine zu treffende Sozialauswahl und damit eine betriebsbedingte Kündigung voraus. Im Rahmen der hier in Rede stehenden verhaltensbedingten Kündigung kommt für den Betriebsrat nicht der Widerspruch nach § 102 Abs. 3 BetrVG in Betracht, der einen Weiterbeschäftigungsanspruch gemäß § 102 Abs. 5 S. 1 BetrVG zur Folge haben kann, sondern lediglich die Äußerung von Bedenken (§ 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG), die keine unmittelbaren Rechtsfolgen auslöst. Nur dann, wenn der Arbeitgeber aufgrund dieser Bedenken des Betriebsrats veranlasst wird, von der Kündigung abzusehen, ist überhaupt die Rechtsstellung des Arbeitnehmers betroffen. Damit besteht keine konkrete Gefahr, sondern nur die vage Möglichkeit, dass (erstens) der Betriebsrat umfangreichere Unterhaltspflichten des zu kündigenden Arbeitnehmers eher zum Anlass nehmen wird, Bedenken zu äußern, und dass (zweitens) der Arbeitgeber aufgrund dieser Bedenken sich umstimmen lässt und darauf verzichtet, die Kündigung zu erklären.

Hinzu kommt, dass in den Fällen, in denen der Arbeitgeber zu den Unterhaltspflichten, die den für eine Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer treffen, Angaben unter Bezugnahme auf die Lohnsteuerkarte (bzw. ELStAM) oder andere Dokumente macht, der Betriebsrat Veranlassung hat, die genauen Daten zu erfragen, falls es ihm entscheidend für das Geltendmachen von Bedenken darauf ankommt. Denn der Betriebsrat erfährt ja durch die Inbezugnahme, dass sich der Arbeitgeber einer Informationsquelle bedient hat, die – je nach Steuerklasse und Absprache zwischen Eheleuten – von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen kann. § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG sieht vor, dass der Betriebsrat, soweit dies erforderlich erscheint, vor seiner Stellungnahme zur Kündigung den betroffenen Arbeitnehmer hören soll. Verzichtet der Betriebsrat auf diese Möglichkeit und auf die Äußerung von Bedenken, so erscheint es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass er in Kenntnis umfangreicherer Unterhaltspflichten Bedenken erhoben hätte.

Jedenfalls dann, wenn – wie im Streitfall – der Betriebsrat der Kündigung sogar ausdrücklich zustimmt, muss die Möglichkeit, dass durch Mitteilung der tatsächlich bestehenden, von den Angaben der Lohnsteuerkarte (bzw. ELStAM) abweichenden Unterhaltspflichten, als praktisch nahezu ausgeschlossen angesehen werden, so dass eine Benachteiligung i.S. einer Schlechterstellung zu verneinen ist. Es bestehen überdies auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte nach der Äußerung von Bedenken seitens des Betriebsrats vom Ausspruch der Kündigung abgesehen hätte.

(ii) Wollte man gleichwohl annehmen, weibliche Arbeitnehmer erführen eine Schlechterstellung, wenn es dem Arbeitgeber gestattet ist, im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG die Angaben zu den Unterhaltspflichten gemäß der Lohnsteuerkarte( bzw. ELStAM) mitzuteilen, so wäre diese Schlechterstellung, worauf die Kammer ergänzend hinweist, im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, angemessen und erforderlich.

Das sachliche Ziel besteht in der besonderen Zwecksetzung des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG. Das Verfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG verfolgt nicht den Zweck, dass der Arbeitgeber die beabsichtigte Kündigung vor dem Betriebsrat – wie in einem Gerichtsverfahren – objektiv rechtfertigt. Während es im Rechtsstreit über die Wirksamkeit der Kündigung auf die objektiven Umstände ankommt, die bei Ausspruch der Kündigung vorlagen (gleichviel, ob sie dem Arbeitgeber bekannt waren oder nicht), zielt das Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG darauf ab, dass der Arbeitgeber die für ihn im Hinblick auf die beabsichtigte Kündigung maßgebenden subjektiven Überlegungen auf Basis seiner aktuellen Kenntnisse mitteilt (Grundsatz der „subjektiven Determinierung“, vgl. etwa BAG, Urteil vom 23.10.2014 – 2 AZR 736/13, Urteil vom 16.07.2015 – 2 AZR 15/15), um dem Betriebsrat Gelegenheit zu geben, den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers zu beeinflussen. Vor diesem Hintergrund ist es zweckwidrig, dem Arbeitgeber eine Ermittlungspflicht im Hinblick auf objektive Umstände aufzuerlegen, die die Kündigung aus Sicht des Arbeitgebers nicht tragen sollen, sondern sich lediglich im Rahmen der Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirken könnten. Eine solche Ermittlungspflicht stünde auch nicht im Einklang mit dem Charakter des möglichst formlos (§ 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG sieht keine besonderen Formerfordernisse für die Unterrichtung des Betriebsrats vor) und zügig (der Betriebsrat hat für die Stellungnahme zur Kündigung maximal eine Woche Zeit, § 102 Abs. 2, Abs. 3 BetrVG) durchzuführenden Anhörungsverfahrens. Der Gesetzgeber hat das Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG bewusst nicht als antizipierten Kündigungsschutzprozess ausgestaltet. Dem liefe es zuwider, wenn die Wirksamkeit der Kündigung daran scheitern kön nte, dass der Arbeitgeber im Rahmen des Anhörungsverfahrens keine Ermittlungen hinsichtlich solcher Umstände angestellt hat, die aus seiner Sicht die Kündigung nicht rechtfertigen.

Die besondere Zwecksetzung des Anhörungsverfahrens ist nicht zu beanstanden und stellt ein rechtmäßiges Ziel im Sinne des § 3 Abs. 2 AGG dar. Der Grundsatz der subjektiven Determinierung vermeidet eine Überforderung des Arbeitgebers insbesondere in kleineren Betrieben. Die Belange betroffener Frauen werden dadurch nicht unangemessen beeinträchtigt, da der Arbeitgeber, wenn er sich zur Mitteilung von Unterhaltspflichten auf dokumentierte Angaben beziehen will, dies deutlich gegenüber dem Betriebsrat zum Ausdruck bringen muss; das wird den Betriebsrat, sofern es ihm darauf ankommt, veranlassen, seinerseits – etwa im Rahmen der vorgesehen Anhörung des Arbeitnehmers gemäß § 102 Abs. 2 S. 4 BetrVG – die tatsächlichen Daten zu erfragen. Zudem haben betroffene Arbeitnehmerinnen während der gesamten Dauer des Arbeitsverhältnisses jederzeit die Möglichkeit, den Arbeitgeber über tatsächlich bestehende, von dokumentierten Unterlagen abweichende Unterhaltpflichten oder andere Sozialdaten in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen bleibt es ihnen unbenommen, im Kündigungsschutzprozess zu den tatsächlich bestehenden Unterhaltspflichten vorzutragen.

(cc) Aus den gleichen Erwägungen heraus kollidiert die Auslegung des § 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG in dem Sinne, dass der Arbeitgeber sich zur Mitteilung von Unterhaltspflichten auf dokumentierte Angaben beziehen darf, nicht mit den Wertungen des § 75 Abs. 1 BetrVG und von Art. 6 Abs. 1 GG.

(3) Die Beklagte gab dem Betriebsrat vor dem Ausspruch der Kündigung hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Beklagte sprach die Kündigung erst aus, nachdem der Betriebsrat die Zustimmung zur Kündigung erteilte. Der Betriebsrat stimmte am 07.01.2020 der Kündigung zu. Dies ist im Ergebnis zwischen den Parteien unstreitig. Die Zustimmungserklärung ergibt sich aus dem handschriftlichen Vermerk, der sich auf dem Anhörungsschreiben vom 06.01.2020 befindet. Dass es sich so verhielt, hat die Klägerin nicht konkret in Abrede gestellt.

c) Sonstige Unwirksamkeitsgründe für die Kündigung bestehen nicht. Insbesondere erheben sich gegen die gewählte Kündigungsfrist keine rechtlichen Bedenken.

2. Da die Kündigung vom 08.01.2020 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien beendete, kommt ein Weiterbeschäftigungsanspruch der Klägerin nicht in Betracht.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin unterlag im Rechtsstreit und hat die Kosten zu tragen.

IV. Es besteht keine Veranlassung, die Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen. Insbesondere wirft der Rechtsstreit keine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf. Die Frage, ob der Arbeitgeber sich im Rahmen des Anhörungsverfahrens gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG auf dokumentierte Angaben beziehen darf, ist vom BAG bejaht worden (Urteil vom 24.11.2005 – 2 AZR 514/04). Das Berufungsgericht ist dem gefolgt.

 

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Arbeitsrecht

Wir sind Ihr Ansprechpartner in Sachen Arbeitsrecht. Vom Arbeitsvertrag bis zur Kündigung. Nehmen Sie noch heute Kontakt zu uns auf.

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Wissenswertes aus dem Arbeitsrecht einfach erklärt

Weitere interessante arbeitsrechtliche Urteile

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!