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Betriebsbedingte Kündigung – Form der Kündigungserklärung – gerichtliche Hinweispflicht

Landesarbeitsgericht Hamburg – Az.: 8 Sa 52/10 – Urteil vom 06.10.2011

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13.04.2010 (19 Ca 433/09) abgeändert.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24.08.2009 nicht beendet worden ist.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die … 1958 geborene, ledige Klägerin ist ausgebildete Datenverarbeitungskauffrau. Seit dem 20.10.1998 ist sie bei der Beklagten als Schiffsmelderin / Kommunikationssachbearbeiterin im Umfang von 173 Stunden monatlich gegen ein Bruttomonatsgehalt von zuletzt € 2.740 beschäftigt. Grundlage der Vertragsbeziehung der Parteien ist der von der Beklagten vorformulierte Anstellungsvertrag vom 20.12.1998 (Anl. K1, Bl. 99 – 101 d.A.), dessen § 6 wie folgt lautet:

„§ 6 Beendigung des Anstellungsverhältnisses

1) Für die Kündigung des Anstellungsvertrages gelten die gesetzlichen bzw. tarifvertraglich vereinbarten Fristen. Nach Beendigung der Probezeit beträgt die Kündigungsfrist 6 Wochen zum Ende eines Kalendervierteljahres.

2) Die Kündigung bedarf der Schriftform. Spricht die Firma die Kündigung aus, so ist der Kündigungsgrund anzugeben.

3) Ohne Kündigung endet das Anstellungsverhältnis mit Ablauf des Monats, in dem Frau G… das gesetzliche Rentenalter erreicht.“

Die Beklagte betreibt einen Schiffsmeldedienst für die maritime Wirtschaft, der u.a. Makler, Reeder, Terminals, Behörden und Zulieferbetriebe mit Informationen über Schiffe, insb. deren Positionen und voraussichtliche Ankunftszeiten versorgt. Der Schiffsmeldedienst arbeitet 24 Stunden an sieben Wochentagen. Außerdem bietet die Beklagte die elektronische Datenerfassung für Ausfuhrgüter beim Zoll (ZAPP) und die Gefahrgutanmeldung in der Schifffahrt (GEGIS) als Dienstleistungen an. Bei der Beklagten sind vierzehn Arbeitnehmer beschäftigt, davon waren sieben – unter ihnen die Klägerin – im Schiffsmeldedienst tätig. Es besteht ein Betriebsrat, dessen Mitglied die Klägerin bis zum 31.05.2008 war.

Bis zum 31.12.2008 war der Schiffsmeldedienst im Drei-Schicht-Betrieb (Früh- Spät und Nachtschicht) organisiert. Mit Wirkung vom 01.01.2009 führte die Beklagte zusätzlich eine Mittelschicht von 8:00 bis 16:00 Uhr ein. Seit diesem Zeitpunkt waren sieben Vollzeitkräfte für den Wachdienst tätig.

Am 19.08.2009 entschied sich die Beklagte, mit Wirkung zum 01.01.2010 zum Drei-Schicht-System zurückzukehren, da aus ihrer Sicht der Mitteldienst nicht hinreichend ausgelastet war. Zur Umsetzung dieses Vorhabens schloss die Beklagte am 21.08.2009 mit ihrem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung über die Einführung des neuen Schicht-Systems (Anl. B 2, Bl. 62 d.A.), einen freiwilligen Interessenausgleich (Anl. B 6, Bl. 71 ff d.A.), der eine „Namensliste“ mit dem Namen der Klägerin enthält, sowie einen freiwilligen Sozialplan (Anl. B 7, Bl. 75 ff d.A,), der für die Klägerin eine Abfindung vorsieht.

Mit Schreiben vom 21.08.2009 (Anl. B 5, Bl. 65 ff d.A.) unterrichtete die Beklagte den Betriebsrat über die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin. Nachdem der Betriebsrat der Kündigung zugestimmt hatte, erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 24.08.2009, welches der Klägerin am selben Tag zuging, die Kündigung zum 31.12.2009. Das Schreiben, auf dessen Inhalt (nicht nummerierte Anlage zur Klageschrift, Bl. 5 d.A.) Bezug genommen wird, nennt keinen Kündigungsgrund.

Nach Ausspruch der Kündigung beschloss die Beklagte, die Rückkehr zum Drei-Schicht-System um einen Monat, auf den 01.12.2009 vorzuverlegen. Hierüber schloss sie am 19.11.2009 eine Betriebsvereinbarung (Anl. B 3, Bl. 63 d.A.). Seit dem 01.12.2009 arbeitet der Schiffsmeldedienst im Drei-Schicht-Modell.

Mit der am 31.08.2009 bei Gericht eingegangenen Klage macht die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigung geltend. Sie hat insbesondere die Sozialauswahl beanstandet und behauptet, die Tätigkeiten im Bereich Zollanmeldung und Gefahrgutinformation nach kurzer Einarbeitungszeit ausüben zu können.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24.08.2009 nicht beendet wird;

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Anschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Schiffsmelderin weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Der Beschäftigungsbedarf für eine Vollzeitstelle sei bereits mit Ablauf des 30.11.2009 entfallen. Die durchgängige Verfügbarkeit des jeweils mit einem Mitarbeiter besetzten Dienstes sei mit 6 Vollzeitkräften zu gewährleisten. Die Sozialauswahl sei nicht zu beanstanden. Von den Mitarbeitern im Meldedienst sei die Klägerin die am wenigsten sozial schutzwürdige. Die in den Bereichen Zollanmeldung und Gefahrgutinformation eingesetzten Mitarbeiter seien nicht vergleichbar, da es sich in beiden Fällen um qualifizierte Tätigkeiten handele, welche die Klägerin nicht innerhalb einer vertretbaren Einarbeitungszeit übernehmen könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands wird gemäß § 69 II ArbGG auf die Feststellungen des Arbeitsgerichts (Bl. 127 – 131 d. A.)

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 131 – 141 d.A.) wird Bezug genommen.

Gegen das am 13.04.2010 verkündete und der Klägerin am 25.05.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24.06.2010 Berufung eingelegt und diese – nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 31.08.2010 – an diesem Tag begründet.

Die Klägerin meint, das Arbeitsgericht habe das ultima-ratio-Prinzip und die Grundsätze der Sozialauswahl nicht hinreichend beachtet. Das Zwischenzeugnis vom 25.11.2009 belege, dass die Klägerin bereits in der Vergangenheit Daten in die Systeme GEGIS und ZAPP eingegeben habe. Die Beklagte habe eingeräumt, dass die Klägerin kleine Anfragen in GEGIS bearbeitet habe. Die Beschränkung der Sozialauswahl auf die Mitarbeiter des Wachdienstes sei daher zu Unrecht erfolgt. Alle dort tätigen Mitarbeiter/innen hätten eine Einarbeitungszeit benötigt. Angesichts der Vorkenntnisse der Klägerin wäre der Zeitraum der Kündigungsfrist ausreichend gewesen, um sie in die Tätigkeiten der Sachbearbeiter einzuweisen. Wegen der weiteren Angriffe der Klägerin auf das erstinstanzliche Urteil wird auf die Berufungsbegründung (Bl. 158 – 162 d.A.) Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 13.04.2010 (19 Ca 433/09) aufzuheben und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24.08.2009 nicht beendet worden ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Auf die Berufungserwiderung (Bl. 183 – 192 d.A.) wird Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung vom 25.11.2010 hat die Berufungskammer die Beklagte darauf hingewiesen, dass die Kündigung wegen der Verletzung des in § 6 II des Arbeitsvertrags vereinbaren Schriftformerfordernisses unwirksam sein dürfte.

Die Klägerin hat sich daraufhin im Schriftsatz vom 10.12.2010 (Bl. 198 d.A.) ausdrücklich auf diesen Unwirksamkeitsgrund berufen.

Die Beklagte hat eingewandt, der Hinweis der Kammer auf den möglichen Formmangel sei unzulässig gewesen. Nach § 6 S. 1 KSchG könne sich ein Arbeitnehmer nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz auf innerhalb der Klagefrist nicht geltend gemachte Unwirksamkeitsgründe berufen. Die in § 6 S. 2 KSchG geregelte Hinweispflicht sei auf diese Geltendmachung bezogen, gelte also ebenfalls nur für die erste Instanz. Ein Unwirksamkeitsgrund, auf den sich der Arbeitnehmer wie im vorliegenden Verfahren nicht berufen habe, dürfe nicht von Amts wegen berücksichtigt werden. Dass das Arbeitsgericht auf eine mögliche Formnichtigkeit der Kündigung nach § 6 des Arbeitsvertrags nicht ausdrücklich hingewiesen habe, ändere daran nichts. Zum einen habe es der Klägerin mit Beschluss vom 13.10.2009 aufgegeben, zu dem zu erwartenden Schriftsatz der Beklagten abschließend Stellung zu nehmen. Innerhalb der bis zum 29.01.2010 gesetzten Frist habe die Klägerin die mögliche Formnichtigkeit aber nicht angesprochen. Unabhängig davon müsse das Arbeitsgericht nicht quasi vorsorglich auf alle in Betracht kommenden Unwirksamkeitsgründe hinweisen.

Selbst wenn man im vorliegenden Fall von der Verletzung einer Hinweispflicht gemäß § 6 S. 2 KSchG durch das Arbeitsgericht ausgehe, führe keine der zu den Rechtsfolgen eines solchen Verfahrensfehlers vertretenen Auffassungen zu einem für die Klägerin günstigen Prozessausgang. Sofern der Verfahrensfehler für beachtlich und das Berufungsgericht als zu einer eigenen Sachentscheidung befugt gehalten werde, seien jedenfalls die Fristen des Berufungsverfahrens zu beachten, innerhalb derer die Klägerin den Formmangel nicht geltend gemacht habe. Unabhängig davon beziehe sich das vertraglich vereinbarte Schriftformerfordernis nur auf die Kündigungserklärung selbst. Das vertraglich vereinbarte Begründungserfordernis habe die Beklagte beachtet, indem ihr damaliger Geschäftsführer der Klägerin unmittelbar vor Übergabe des Kündigungsschreibens die Gründe mündlich erläutert habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das erstinstanzliche Urteil sowie die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

I. Die Kündigung der Beklagten vom 24.08.2009 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet, denn die Kündigung ist gemäß § 125 S. 2 BGB unwirksam.

1. Die Kündigungserklärung der Beklagte vom 24.08.2009 hat die vertraglich vereinbarte Schriftform nicht gewahrt, denn sie enthält keine Angabe zu den Gründen der Kündigung. § 6 Satz 2 des Arbeitsvertrags beinhaltet ein qualifiziertes Schriftformerfordernis und nicht nur die Verpflichtung, die Kündigungsgründe formlos mitzuteilen.

a) Gemäß § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Stets ist zunächst zu prüfen, ob sich ein übereinstimmender Wille der Parteien feststellen lässt. Wenn feststeht, was die Parteien übereinstimmend gewollt haben, dann ist für eine Auslegung ihrer Erklärungen nach den Maßstäben der §§ 133, 157 BGB kein Raum; ihr übereinstimmender Wille geht dem Wortlaut einer Erklärung vor (BAG v. 06.02.1974 – 3 AZR 232/73 – Tz 18). Bedarf es der Auslegung der Vertragsbestimmungen, ist ausgehend von deren Wortlaut der objektive Bedeutungsgehalt der Erklärung zu ermitteln. Maßgebend ist der allgemeine Sprachgebrauch unter Berücksichtigung des vertraglichen Regelungszusammenhanges. In die Auslegung einzubeziehen sind auch die Begleitumstände der Erklärung, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Die tatsächliche Handhabung des Arbeitsverhältnisses ermöglicht ebenfalls Rückschlüsse auf dessen Inhalt. Von Bedeutung für das Auslegungsergebnis sind auch die Entstehungsgeschichte, der von den Arbeitsvertragsparteien verfolgte Regelungszweck sowie die bei Abschluss der Vereinbarung vorliegende Interessenlage der Beteiligten (BAG v. 15.03.2005 – 9 AZR 97/04 – Tz 23 m. w. N.), wobei der Grundsatz der nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung zu beachten ist (vgl. BAG v. 12.12.2007 – 4 AZR 998/06 – Tz 24; BAG v. 07.11.2007 – 5 AZR 880/06 – Tz 17; BGH v. 07.11.2001 – VIII ZR 213/00 – Tz 12).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich aus § 6 Abs. 2 des Anstellungsvertrag der Parteien ein konstitutives Schriftformerfordernis.

aa) Ein übereinstimmender Wille beider Parteien ist nicht feststellbar.

bb) Der Wortlaut der Regelung ist nicht eindeutig. Abs. 2 Satz 1 kann sowohl auf die gesamte Kündigungserklärung (einschließlich der Gründe) als auch nur auf die Kündigungserklärung im engeren Sinne bezogen verstanden werden. Abs. 2 Satz 2, welcher im Falle der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung ein Begründungserfordernis normiert, wiederholt nicht ausdrücklich das Schriftformerfordernis.

cc) Gegen diese Auslegung sprechen jedoch die Systematik der Regelung und deren Sinn und Zweck.

Der die Beendigung des Anstellungsverhältnisses betreffende § 6 des Vertrags regelt in Absatz 1 die Kündigungsfristen und in Absatz 3 die Beendigung mit Eintritt in das Rentenalter. Der die Kündigung betreffende Absatz 2 ist als einheitliche Regelung zu verstehen. Satz 1 normiert das Schriftformerfordernis für die Kündigung. Dabei handelte es sich im Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 20.10.1998 um eine konstitutive Regelung, da das gesetzliche Schriftformerfordernis für Kündigungen erst zum 01.05.2000 in Kraft getreten ist (Palandt-Weidenkaff § 623 BGB Tz 1). § 6 Abs. 2 Satz 2 des Vertrags erweitert den Inhalt der Kündigungserklärung auf die Gründe, sofern die Kündigung vom Arbeitgeber ausgesprochen wird. Dies bezieht sich auf den Inhalt der Kündigungserklärung, deren Schriftform in Satz 1 vereinbart ist. Für die Vereinbarung eines formlosen Begründungserfordernisses fehlen Anhaltspunkte in der Regelung. Diese wären erforderlich, da eine Aufteilung der Kündigung in die eigentliche Gestaltungserklärung und deren Begründung eher ungewöhnlich wäre. Das Interesse des Arbeitnehmers, die Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage einschätzen zu können, würde durch ein formloses Begründungserfordernis nur eingeschränkt verwirklicht, da im Zweifel Streit über den Inhalt der mündlich mitgeteilten Gründe entsteht.

c) Selbst wenn man der hier vertretenen Auslegung nicht folgen würde, ergäbe sich kein für die Beklagte günstigeres Ergebnis. Bei dem Anstellungsvertrag der Parteien handelt es sich gemäß § 310 III BGB um von der Beklagten gestellte allgemeine Geschäftsbedingungen. Zieht man die von der Beklagten bevorzugte Auslegung als möglich in Betracht, so verbleiben zumindest Zweifel, die gemäß § 305 c II BGB zu Lasten des Verwenders gehen. Die Auslegung im Sinne eines konstitutiven Schriftformerfordernisses, welches die Begründung einschließt, ist für die Klägerin günstiger.

2. Die Kammer kann die Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 125 S. 2. BGB berücksichtigen. § 6 S. 1 KSchG steht dem nicht entgegen, denn die Klägerin hat sich bereits in erster Instanz im Sinne dieser Vorschrift auf die Formnichtigkeit der Kündigung berufen.

Nach § 6 Satz 1 KSchG kann sich ein Arbeitnehmer, der innerhalb von drei Wochen nach Zugang einer schriftlichen Kündigung im Klagewege geltend gemacht hat, dass eine rechtswirksame Kündigung nicht vorliege, in diesem Verfahren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz zur Begründung der Unwirksamkeit der Kündigung auch auf innerhalb der Klagefrist nicht geltend gemachte Gründe berufen.

a) Fraglich ist, ob es für ein „Berufen“ im Sinne dieser Vorschrift ausreicht, dass der Arbeitnehmer die Tatsachen, aus denen sich die Unwirksamkeit der Kündigung ergibt, in erster Instanz vorträgt oder ob eine ausdrückliche Erklärung des Klägers erforderlich ist, die Unwirksamkeit aus diesem Grunde geltend machen zu wollen. Die Frage ist im vorliegenden Fall relevant, weil die Klägerin zwar den Arbeitsvertrag mit der qualifizierten Schriftformklausel in erster Instanz zur Akte gereicht, ihre Klage jedoch nicht mit dem Formmangel begründet hat.

aa) Das Bundesarbeitsgericht hat im Urteil vom 08.11.2007 (2 AZR 314/06 – Tz 19) eine ausdrückliche Bezeichnung des Unwirksamkeitsgrundes durch den Arbeitnehmer verlangt. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass die Berufung auf die tarifvertragliche Unkündbarkeit in erster Instanz verneint wurde, obwohl die Geltung des BAT für das dortige Rechtsverhältnis festgestellt war (BAG, a.a.O. Tz 2). Im Urteil vom 04.05.2011 (7 AZR 252/10 – Tz 21) hat der siebte Senat das Bundesarbeitsgerichts offen gelassen, ob an diesen strengen Anforderungen an die Geltendmachung festzuhalten sei.

bb) In der Literatur wird – soweit ersichtlich – die Frage nicht ausdrücklich angesprochen. Die Formulierungen geben überwiegend jedoch mehr oder weniger deutlich zu erkennen, dass ein ausdrückliches Benennen des (neuen) Unwirksamkeitsgrundes erwartet wird (vgl. KR-Friedrich § 6 KSchG Tz 28; ErfK-Kiel § 6 KSchG Tz 5). Kerner (in BOK Stand 01.06.2011 § 6 Tz 19) lässt hingegen „entsprechenden Sachvortrag“ genügen.

cc) Die Kammer hält es für ein Berufen im Sinne von § 6 S. 1 KSchG für ausreichend, dass der Arbeitnehmer die Tatsachen vorträgt, aus denen sich die Unwirksamkeit der Kündigung ergibt. Dafür sprechen folgende Erwägungen:

Der Wortlaut der Norm lässt beide Auslegungen zu. Sich auf etwas zu berufen bedeutet, es geltend zu machen. Der Hinweis auf Rechtsfolgen ist mit dem Begriff der Geltendmachung nicht zwangsläufig verbunden.

Nach allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen sind die Parteien außer dem Stellen eines Antrags lediglich verpflichtet, dem Gericht die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen vorzutragen. Die Mitteilung von Rechtsansichten ist weder erforderlich noch für das Gericht bindend. Eine Ausnahme gilt lediglich für Einreden, d. h. Gestaltungsrechte, mit denen eine Partei einen Anspruch entstehen, untergehen lassen oder hemmen kann. Die Formnichtigkeit einer Kündigungserklärung ist keine Einrede, sondern eine Einwendung, die das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen von Amts wegen zu beachten hat.

Die Auslegung entspricht Sinn und Zweck von § 6 KSchG. Dieser besteht darin, im Zusammenspiel mit § 4 KSchG frühzeitig Rechtsklarheit und -Sicherheit zu schaffen. § 6 KSchG will den – häufig rechtsunkundigen – Arbeitnehmer vor einem unnötigen Verlust seines Kündigungsschutzes auf formalen Gründen schützen (BAG v. 23.04.2008 – 2 AZR 699/06 – Tz 24). Dieser Zweck würde vereitelt, wenn von dem in erster Instanz nicht notwendig durch einen Rechtsbeistand vertretenen Arbeitnehmer verlangt würde, die sich aus seinem Tatsachenvortrag ergebenden Rechtsfolgen zu benennen.

Die hier vertretene Auslegung von § 6 KSchG wird auch durch eine historische Betrachtung gestützt. Nach der bis Ende 2003 geltenden Fassung von § 4 KSchG musste nur die fehlende soziale Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung innerhalb von drei Wochen geltend gemacht werden. Auf die Unwirksamkeit einer Kündigung aus sonstigen Gründen konnte sich der Arbeitnehmer hingegen gemäß § 13 III KSchG a.F. auch nach Ablauf der 3-Wochen-Frist berufen. § 6 KSchG a.F. regelte, dass dann, wenn der Arbeitnehmer innerhalb der Frist des § 4 KSchG die Kündigung nur aus anderen Gründen angegriffen hatte, die fehlende soziale Rechtfertigung in diesem Rechtsstreit bis zum Ende der ersten Instanz nachgeschoben werden konnte. Dass die fehlende soziale Rechtfertigung ausdrücklich geltend gemacht werden muss, ergab sich bereits aus § 4 KSchG a.F.. Das Erfordernis der ausdrücklichen Geltendmachung ist daher nicht als Anforderung für alle Unwirksamkeitsgründe zu verstehen.

3. Die Kammer kann die Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 125 S. 2. BGB allerdings auch dann berücksichtigen, wenn die Klägerin diese in erster Instanz nicht geltend gemacht hätte. Die Berufungskammer war nämlich befugt, den vom Arbeitsgericht unterlassenen Hinweis gemäß § 6 Satz 2 KSchG nachzuholen und danach selbst in der Sache zu entscheiden.

a) Das Arbeitsgericht hat die sich aus § 6 Satz 2 KSchG ergebende Verpflichtung verletzt, die Klägerin auf sonstige Unwirksamkeitsgründe hinzuweisen.

aa) § 6 Satz 2 KSchG beinhaltet trotz der Formulierung „soll“ eine zwingende Verfahrensvorschrift (KR-Friedrich 9. Aufl. 2009 § 6 KSchG Tz 31 m.w.N.). Wie die Beklagte in der Berufungsinstanz zutreffend ausgeführt hat, bedeutet die Hinweispflicht nicht, dass das Gericht vorsorglich alle in Betracht kommenden Gründe für die Unwirksamkeit einer Kündigung abfragen muss. Die Hinweispflicht besteht vielmehr nur dann, wenn der Sachvortrag der Parteien Anhaltspunkte für das Vorliegen einzelner Unwirksamkeitsgründe erkennen lässt (KR-Friedrich, a.a.O.; ErfK-Kiel 11. Aufl. 2011 § 6 KSchG Tz 6).

bb) Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt. Den Anstellungsvertrag, aus dessen § 6 sich der Formmangel der Kündigung ergibt, war von der Klägerin als Anlage 1 vorgelegt worden. Das Arbeitsgericht hatte deshalb Anlass, auf die Formnichtigkeit der Kündigung hinzuweisen.

b) Da die Klägerin den Formmangel auch in ihrer Berufung nicht angesprochen hat, war die Kammer verpflichtet, den unterbliebenen Hinweis nachzuholen und auf der Grundlage des ergänzten Parteivorbringens selbst zu entscheiden.

aa) Die Berufungskammer war befugt und verpflichtet, den fehlenden Hinweis im Berufungsverfahren nachzuholen. § 6 Satz 2 KSchG beinhaltet eine gesetzliche Konkretisierung von § 139 ZPO (KR-Friedrich, a.a.O.), welcher wiederum den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 I GG im Zivilverfahren gewährleistet. Etwaige Verstöße gegen die gerichtliche Hinweispflicht sind in der zweiten Tatsacheninstanz durch eine Nachholung des Hinweises zu korrigieren (vgl. auch BAG v. 04.05.2011 – 7 AZR 252/10 – Tz 28).

bb) Die Klägerin hat sich nach dem Hinweis der Berufungskammer in der Verhandlung vom 25.11.2010 im Schriftsatz vom 12.12.2010 ausdrücklich auf den Formmangel der Kündigung berufen. Der Auffassung der Beklagten, das Berufungsgericht dürfte diesen neuen Sachvortrag nicht berücksichtigen, weil er nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erfolgt sei, vermag die Kammer nicht zu folgen. Neuer Sachvortrag, der durch einen zulässigen Hinweis des Gerichts erfolgt ist, kann grundsätzlich nicht gemäß § 67 IV ArbGG zurückgewiesen werden, weil das Unterlassen des Hinweises die Partei in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 I GG verletzen würde.

cc) Die Berufungskammer war auch befugt, selbst in der Sache zu entscheiden.

Welche Rechtsfolge ein Verstoß gegen die Hinweispflicht gemäß § 6 S. 2 KSchG hat, ist umstritten:

Teilweise wird eine Zurückverweisung an das Arbeitsgericht für erforderlich gehalten, damit dieses den unterlassenen Hinweis nachholen kann (BAG v. 30.11.1961 – 2 AZR 295/61 – BAGE 12, 75; ErfK-Kiel § 6 KSchG Tz 7, APS/Ascheid/Hesse § 6 KSchG Tz 28; offen gelassen in BAG v. 16.04.2003 – 7 AZR 119/02 – Tz 27). § 68 ArbGG stehe dem nicht entgegen.

Nach anderer Auffassung kann das Berufungsgericht in der Sache selbst entscheiden (KR-Friedrich § 6 KSchG Tz 28; Bader NZA 06, 65, 69; Bayreuther ZfA 05, 391, 401 f; tendenziell bereits BAG v. 08.11.2007 – 2 AZR 314/06 – Tz 21). Dieser Auffassung hat sich nunmehr das BAG im Urteil vom 04.05.2011 (7 AZR 252/10 – Tz 27 – 30) angeschlossen.

Die Kammer folgt der neuen Rechtsprechung des BAG. Während § 6 Satz 2 KSchG keine Vorgabe enthält, wie nach einer Verletzung der Hinweispflicht durch das Arbeitsgericht zu verfahren ist, schließt § 68 ArbGG eine Zurückweisung wegen eines Mangels im Verfahren generell aus (vgl. BAG v. 04.05.2011, a.a.O. Tz 29). Zudem hat der im Beendigungsrechtsstreit durch §§ 61a und 64 VIII ArbGG besonders hervorgehobene Beschleunigungsgrundsatz Vorrang vor einer Erteilung des Hinweises gemäß § 6 Satz 2 KSchG durch die erste Instanz. Von einem Verlust einer Tatsacheninstanz kann ohnehin keine Rede sein, da durch einen weiteren Unwirksamkeitsgrund kein Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt wird, über den das Arbeitsgericht nicht bereits entschieden hat. Auch in anderen Fällen, in denen vom Arbeitsgericht ein rechtlicher Aspekt übersehen worden ist, wird eine Zurückverweisung nicht in Erwägung gezogen. In tatsächlicher Hinsicht erlaubt § 67 IV ArbGG den Parteien im Berufungsverfahren in erheblichem Umfang neuen Tatsachenvortrag. Gemäß §§ 64 VI ArbGG i.V.m. 533 ZPO sind sogar Klageänderungen im Berufungsverfahren grundsätzlich zulässig, wenn über sie auf der Grundlage der ohnehin zu treffenden Feststellungen entschieden werden kann.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 VI ArbGG i. V. m. § 91 ZPO.

III. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 II Nr. 1 ArbGG.

 

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