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Betriebsbedingte Kündigung und unterlassene Sozialauswahl

Betriebsbedingte Entlassung: Streitfall einer unterlassenen Sozialauswahl

In einem komplexen Streitfall, der in die grundlegenden Mechanismen der Arbeitswelt eingreift, ging es um die Gültigkeit einer betriebsbedingten Kündigung sowie den Anspruch auf eine vorläufige Weiterbeschäftigung. Der entscheidende Konfliktpunkt liegt in der Frage der Sozialauswahl, die, so die Vorwürfe, bei der Entlassungsentscheidung des betroffenen Arbeitnehmers unterlassen wurde. Das Landesarbeitsgericht Hamm verhandelte diesen Fall, bei dem sowohl Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberseite ihre jeweiligen Ansprüche und Argumente geltend machten.

Direkt zum Urteil Az: 16 Sa 374/21 springen.

Hintergrund: Der Arbeitnehmer und seine Rolle

Im Zentrum des Streitfalls steht ein seit dem Jahr 1992 bei der Ar Profile GmbH beschäftigter Armaturenschlosser. Der Arbeitnehmer, der schwerbehindertengleichgestellt ist, hatte sich durch viele Jahre des Engagements und der harten Arbeit eine ansehnliche berufliche Stellung erarbeitet. Er stand außerdem in der Verpflichtung, für seine zwei Kinder Unterhalt zu leisten. Eine unterlassene Sozialauswahl könnte daher bedeutende Auswirkungen auf seine persönliche und finanzielle Situation haben.

Das Unternehmen in der Krise

Die Ar Profile GmbH, ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung und den Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen spezialisiert hat, geriet in finanzielle Schwierigkeiten. Ein Insolvenzverfahren wurde eröffnet und ein Insolvenzverwalter ernannt. Die Folge waren Entlassungswellen, die auch den Kläger betrafen.

Die unterlassene Sozialauswahl

Im Zuge der Insolvenz wurden Verhandlungen über einen Personalabbau eingeleitet. Die Position des Klägers war dabei besonders bedroht. Den Vorwürfen zufolge wurde jedoch bei der Kündigungsentscheidung eine Sozialauswahl unterlassen, was den Kern dieses Streitfalls bildet. Die Auswirkungen einer solchen Unterlassung können weitreichend sein und reichen von finanziellen Nachteilen für den Arbeitnehmer bis hin zu möglichen rechtlichen Konsequenzen für den Arbeitgeber.

Das Gerichtsverfahren und sein Ergebnis

Der Streit über die Gültigkeit der betriebsbedingten Kündigung sowie den Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung landete vor dem Landesarbeitsgericht Hamm. Nach eingehender Prüfung der Sachlage und der jeweiligen Argumente von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite kam das Gericht zu einem Urteil: Beide Berufungen wurden zurückgewiesen, die Kosten des Verfahrens wurden auf beide Parteien verteilt und die Revision wurde zugelassen.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Hamm – Az.: 16 Sa 374/21 – Urteil vom 08.10.2021

1. Dem Beklagten wird wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 10 Ca 3370/21 – Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.

2. Die Berufungen des Klägers und des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 10 Ca 3370/21 – werden zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen zu 25% der Kläger und zu 75% der Beklagte.

4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung sowie über einen Anspruch des Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung.

Der am 27. Dezember „0000“ geborene, verheiratete und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 17. August 1992 bei der Ar Profile GmbH (nachfolgend: Insolvenzschuldnerin) als Armaturenschlosser beschäftigt. Er ist mit einem GdB von 40 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 4.364,93 EUR.

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei der ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt waren, das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser schloss unter dem 27. März 2020 mit dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah. Im Rahmen dieser ersten „Kündigungswelle“ baute der Beklagte in der Gruppe der „Armaturenfertiger“, welcher auch der Kläger angehörte, zwei von 12 Arbeitsplätzen ab.

Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. In der Mail wies er darauf hin, dass mit den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs auch das Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG wie auch das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zur Massenentlassung verbunden werden und demgemäß Informationen, die im Rahmen der Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan erteilt werden, auch förmliche Informationen im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG und des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG sind. Dieser E-Mail war auch eine Excel-Liste beigefügt, die sämtliche Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin nebst deren Sozialdaten enthielt.

In der Folgezeit fanden am 06., 14., 18. und 26. Mai 2020 Verhandlungen statt. Mit E-Mail vom 28. Mai 2020 überreichte der Beklagte dem Betriebsrat die Endfassungen des Interessenausgleichs und Sozialplans. Diese wurden zunächst nicht unterzeichnet, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung vom 28. Mai 2020 den Beschluss fasste, die Kaufverhandlungen mit den Kaufinteressenten für den Geschäftsbetrieb der Insolvenzschuldnerin zunächst fortzuführen.

Am 29. Juni 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat schließlich den Interessenausgleich, in dem u. a. folgendes festgehalten ist:

„Vorbemerkungen

Der Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24.06.2020 entschieden, das Kaufangebot eines Kaufinteressenten wegen fehlender Nachhaltigkeit nicht anzunehmen. Ein zusätzlicher Interessent hatte lediglich ein indikatives Angebot abgegeben und dieses nicht konkretisiert. Des Weiteren wurde durch den Gläubigerausschuss beschlossen, dass der Betrieb der Insolvenzschuldnerin geordnet geschlossen wird. Die Schließung erfolgt nach einer Phase der Ausproduktion.

II. Betriebsänderung

Betriebsbedingte Kündigung und unterlassene Sozialauswahl
(Symbolfoto: Who is Danny/Shutterstock.com)

Der Insolvenzverwalter schließt mit ausgewählten Kunden der Insolvenzschuldnerin Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin im Rahmen einer Ausproduktion, da einige Kunden, insbesondere des Walzwerkes, auf die Produkte der Insolvenzschuldnerin derzeit noch angewiesen sind und sie diese Produkte nicht kurzfristig und/oder nicht in der notwendigen Qualität von anderen Lieferanten beziehen können. Die Kunden müssen erhebliche Preissteigerungen hinnehmen und erhalten für elf Monate und somit bis zum 31.05.2021 die Möglichkeit noch im Vorhinein festgelegte Produkte von der Insolvenzschuldnerin zu beziehen.

Für das Walzwerk ist für den Zeitraum von elf Monaten eine Produktion von 35.000 t bis 40.000 t geplant.

Im Ziehwerk liegt noch ein Auftragsbestand vor, der eine Auslastung bis zum 31.12.2020 sichert. Über einen Vertriebsmitarbeiter sollen weitere Aufträge generiert werden, die einen Weiterbetrieb des Ziehwerks bis zum Ende der Ausproduktion im Walzwerk am 31.05.2021 ermöglicht. Spätestens am 31.05.2021 wird der Betrieb im Ziehwerk eingestellt und die Ausproduktion beendet.

Für die Phase der Ausproduktion wird kein Personal im bisherigen Umfang benötigt. Das Personal wird daher auf ein Minimum reduziert.

III. Kündigungen

Der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat sind sich darüber einig, dass im Rahmen der Betriebsschließung sämtliche Arbeitsverhältnisse zu kündigen sind.

Die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die zur Durchführung der Ausproduktion nicht benötigt werden, sind aus betriebsbedingten Gründen zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 zu kündigen.

Die Arbeitnehmer, die für die Durchführung der Ausproduktion benötigt werden, erhalten ebenso nach Abschluss des Interessenausgleichs und Vorliegen einer evtl. erforderlichen behördlichen Zustimmung (z. B. Schwerbehinderung oder Mutterschutz/Elternzeit) eine Kündigung. Diese wird jedoch nicht zum frühesten Termin, sondern zum geplanten Auslauf der Ausproduktion zum 31.05.2021 ausgesprochen. Hiervon ausgenommen ist das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, der den Vertrieb für das Ziehwerk übernimmt. Dieser wird nicht bis zum Auslauf der Ausproduktion benötigt, sondern nur bis zum 31.12.2021.

IV. Sozialauswahl

Die Betriebsparteien stimmen überein, dass aufgrund der Schließung des Betriebes und der damit verbundenen Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse, eine Sozialauswahl nicht durchzuführen ist.

…“.

Der Interessenausgleich enthält insgesamt 3 Namenslisten. In der ersten Liste werden 107 Arbeitnehmer namentlich aufgeführt, deren Arbeitsverhältnis zum nächst zulässigen Termin i. S. v. § 113 InsO gekündigt werden sollte. In der zweiten Liste werden 190 Arbeitnehmer genannt, die für die Durchführung der Ausproduktion vorgesehen waren und daher eine Kündigung zum 31. Mai 2021 erhalten sollten. In der dritten Liste werden schließlich 40 Arbeitnehmer aufgeführt, denen bereits auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 gekündigt worden war und die entweder gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten, weil die Klagefrist noch nicht abgelaufen war. Diesen sollte vorsorglich erneut gekündigt werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Interessenausgleich vom 29. Juni 2020 (Bl. 113 – 135 d. A.) ergänzend Bezug genommen.

Unmittelbar nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs erstatte der Beklagte am 29. Juni 2020 eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit B und sprach sodann – soweit keine behördlichen Zustimmungen erforderlich waren – gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern Kündigungen aus. Hinsichtlich des Klägers beantragte er mit einem am 06. Juli 2020 beim Inklusionsamt eingegangenen Antrag die Zustimmung zu beabsichtigten Kündigung. Mit Bescheid vom 10. August 2020 teilte das Inklusionsamt mit, dass die Zustimmung nach Ablauf der Monatsfrist gem. § 171 Abs. 5 SGB IX als erteilt gelte. Nach Zugang des Bescheides kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 11. August 2020 zum 30. November 2020.

Im Oktober 2020 wurde dem Beklagten von einem Interessenten ein indikatives Angebot zum Erwerb des Walzwerkes unterbreitet. Ein entsprechender Kaufvertrag wurde am 22. Februar 2021 geschlossen und nach dem Eintritt diverser aufschiebender Bedingungen zum 01. Juli 2021 vollzogen. Zu diesem Zeitpunkt sind das Walzwerk, die Instandhaltung und die Verwaltung auf einen neuen Betriebsinhaber übertragen worden. Das Ziehwerk und das Technikum wurden wie geplant zum 31. Mai 2021 stillgelegt.

Mit seiner am 25. August 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Der Beklagte lasse nicht nur Abwicklungsarbeiten durchführen, sondern nehme auch neue Aufträge an. Im Laufe der Zeit seien auch immer wieder potentielle Übernehmer aufgetaucht. Der Beklagte habe auch zu Unrecht keine Sozialauswahl durchgeführt. Die Auswahlentscheidung erweise sich schon deshalb als grob fehlerhaft. Abgesehen davon weise der vergleichbare Mitarbeiter C deutlich günstigere Sozialdaten auf. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß nach § 102 BetrVG angehört worden. Die Anhörung sei bereits mit Schreiben vom 18. Juni 2020 eingeleitet worden, obwohl der Gläubigerausschuss erst am 24. Juni 2020 die Stilllegung beschlossen habe. Eine Anhörung auf „Vorrat“ sei indes unzulässig.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 11.08.2020 nicht aufgelöst worden ist;

2. den Beklagten zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Armaturenschlosser weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Dies werde vorliegend nach § 125 InsO vermutet. Einer Sozialauswahl habe es aufgrund der Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse nicht bedurft. Eine Sozialauswahl sei nach § 1 Abs. 3 KSchG nur für den Fall vorgesehen, dass der Arbeitgeber eine Auswahl treffe, welchen Mitarbeitern betriebsbedingt gekündigt wird. Eine solche Auswahl komme bei einer Betriebsstilllegung – ungeachtet unterschiedlicher Beendigungszeitpunkte der Arbeitsverhältnisse – nicht in Betracht, da sämtliche Arbeitsverhältnisse aufgelöst würden. Dies gelte auch für den Fall einer Betriebsstilllegung mit Ausproduktion. Entscheidend sei allein, dass nach Durchführung der Betriebsschließung kein Arbeitsplatz mehr verbleibe. Selbst wenn eine Sozialauswahl erforderlich gewesen sein sollte, liege im Ergebnis keine grob fehlerhafte Auswahlentscheidung vor. Im ersten Interessenausgleich vom 27. März 2020 habe man eine Vergleichsgruppenbildung vorgenommen und innerhalb dieser Vergleichsgruppen eine Sozialauswahl durchgeführt. Dabei habe er sich für die Bewertung der Sozialkriterien an einem Punkteschema orientiert. Wende man diese Kriterien im Rahmen einer hypothetischen Sozialauswahl an, sei der Kläger der Vergleichsgruppe „19. Armaturenfertigung“ zuzuordnen. Auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 sei dort bereits ein Abbau von 2 Arbeitsplätzen erfolgt. Von den verbliebenen 10 Arbeitsplätzen sollten ausweislich des im Interessenausgleich vom 29. Juni 2020 festgelegten Personalbedarfs weitere 5 Arbeitsplätze entfallen und nur 5 Arbeitnehmer im Rahmen der Ausproduktion beschäftigt werden. Bei einer hypothetischen Sozialauswahl käme der Kläger auf 96 Punkte und ohne Berücksichtigung seiner Gleichstellung auf 91 Punkte. Demgegenüber komme der Mitarbeiter D auf 93 Punkte und sei daher alsfünfter Arbeitnehmer anstelle des Mitarbeiters B weiter zu beschäftigen gewesen. Das Auswahlergebnis sei daher nicht grob fehlerhaft. Dem Betriebsrat seien im Übrigen sämtliche Sozialdaten mitgeteilt worden. Eine Beschäftigungsmöglichkeit für den Kläger bestehe im Betrieb der Insolvenzschuldnerin nicht.

Mit Urteil vom 10. März 2021 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 11. August 2020 nicht aufgelöst worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, da nicht alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt weggefallen seien, sei eine Sozialauswahl erforderlich gewesen. Sei eine Sozialauswahl überhaupt nicht oder methodisch fehlerhaft durchgeführt worden, sei die Kündigung aus diesem Grunde gleichwohl nicht unwirksam, wenn mit der tatsächlich getroffenen Auswahl des Gekündigten eine – sei es auch zufällig – objektiv vertretbare Auswahl getroffen wurde. Entsprechenden Vortrag habe der Beklagte zwar geleistet. Gleichwohl sei fraglich, ob die hypothetisch vorgenommene Sozialauswahl nicht bereits grob fehlerhaft sei. Wenn der Beklagte das Punktesystem aus der ersten Kündigungswelle im März 2020 anwende, komme der Kläger auf 96 Punkte und damit auf mehr Punkte als der Mitarbeiter D mit 93 Punkten. Dem Beklagten sei es verwehrt, sich bei der hypothetischen Sozialauswahl zusätzlich noch hypothetisch darauf zu berufen, die Schwerbehinderung des Klägers sei nicht zu berücksichtigten, um so auf nur 91 Punkte zu kommen. Im Übrigen sei der Vortrag des Beklagten zur hypothetischen Sozialauswahl nicht berücksichtigungsfähig. Im Streit um die soziale Rechtfertigung der Kündigung könnten Kündigungsgründe, zu denen der Betriebsrat nicht angehört wurde, nicht berücksichtigt werden. Dabei sei aufgrund der abgestuften Darlegungslast bei der Sozialauswahl zu differenzieren. Da der Arbeitgeber im Prozess erst auf eine entsprechende Rüge des Arbeitnehmers zur Sozialauswahl vortragen müsse, liege kein gegen § 102 BetrVG verstoßendes Nachschieben von Kündigungsgründen vor, wenn der Arbeitgeber den bisherigen Kündigungssachverhalt, er habe mangels Vergleichbarkeit keine Sozialauswahl durchführen müssen, lediglich konkretisiere und der Kern des Kündigungsgrundes sich dadurch nicht verändere. Entsprechendes gelte, wenn der Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen davon ausgegangen sei, eine Sozialauswahl sei insgesamt entbehrlich. Ein Vortrag zur (fehlenden) Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern sei demnach zulässig, ohne durch die Betriebsratsanhörung präkludiert zu sein. Anders sei es bei der Sozialauswahl im engeren Sinne, d. h. innerhalb der Vergleichsgruppe. Habe sich ein vergleichbarer Arbeitsplatz gefunden, könne der Arbeitgeber nicht mehr darlegen, dass die Sozialauswahl wegen schwächerer Sozialkriterien dennoch ausreichend gewesen sei, da insoweit der Betriebsrat nicht angehört worden sei. Vorliegend nehme der Beklagte auf die Sozialauswahl im engeren Sinn und damit auf Teile des dem Betriebsrat nicht mitgeteilten Kündigungsgrundes Bezug. Die Kündigung sei daher wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Ein Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung bestehe gleichwohl nicht. Die Beschäftigung sei dem Beklagten unmöglich.

Gegen das den Parteien am 17. März 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. April 2021 Berufung eingelegt und diese mit einem am 12. Mai 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Der Beklagte hat mit einem am 13. April 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz beantragt, ihm für die beabsichtigte Berufung gegen das Urteil Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Nachdem ihm mit Beschluss vom 19. Mai 2021 Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, hat er mit einem am 20. Mai 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung gegen das Urteil eingelegt, diese zugleich begründet und Wiedereinsetzung in der vorherigen Stand wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Der Beklagte ist der Ansicht, eine Sozialauswahl sei vorliegend nicht erforderlich gewesen. In § 1 Abs. 3 KSchG sei geregelt, dass der Arbeitgeber bei der Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer die Sozialkriterien des Arbeitnehmers ausreichend zu berücksichtigen habe. Das Gesetz bestimme also, dass eine Sozialauswahl dann durchzuführen sei, wenn der Arbeitgeber eine Auswahlentscheidung hinsichtlich der zu kündigenden Arbeitnehmer treffen könne. Fallen aber wie vorliegend sämtliche Arbeitsplätze weg, könne eine Sozialauswahl ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Das gelte auch bei einer Betriebsstilllegung mit Ausproduktion. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei die Auswahlentscheidung im Ergebnis auch nicht grob fehlerhaft. Das mitgeteilte Punkteschema sei auch bei der Personalmaßnahme vom 27. März 2020 nur zur Orientierung und zu einer ersten groben Einschätzung der sozialen Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer herangezogen worden. Vorliegend sei der Kläger nicht sozial schutzbedürftiger als die Mitarbeiter D und E. Er sei mit dem entsprechenden Vortrag auch nicht präkludiert. Weil sich die „Präklusion“ und die Berücksichtigung von Vortrag nur auf Tatsachen beziehe, müsste er es versäumt haben, dem Betriebsrat im Anhörungsverfahren die Tatsachen in Bezug auf die hypothetische Sozialauswahl mitzuteilen. Das sei aber nicht der Fall gewesen. Dem Betriebsrat seien sämtliche Sozialdaten, Tätigkeiten, Kündigungsfristen und -termine mitgeteilt worden.

Der Beklagte beantragt,

1. ihm wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 10 Ca 3370/21 – Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren;

2. das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 10 Ca 3370/21 – teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

1. die Berufung des Beklagten zurückzuweisen;

2. Das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 10 Ca 3370/21 – teilweise abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Armaturenschlosser weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, er sei zumindest bis zum mutmaßlichen Schließungszeitpunkt am 31. Mai 2021 weiter zu beschäftigen. Gerade in dem Bereich, in dem er eingesetzt war, bestehe ein erheblicher Beschäftigungsbedarf. Seit Herbst 2020 würden hier erhebliche Überstunden gefahren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die Sitzungsprotokolle ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A) Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Ihm war wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne sein Verschulden daran gehindert war, die Frist zur Einlegung und Begründung der Berufung einzuhalten (§ 233 ZPO)

I. Der Beklagte hat die Berufungsfrist und die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Das Urteil des Arbeitsgerichts ist ihm am 17. März 2021 zugestellt worden; seine Berufung und die Berufungsbegründung sind erst am 20. Mai 2021 und daher nach Ablauf der Fristen für die Einlegung und Begründung der Berufung (§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die dem Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe vom 13. April 2021 als Entwurf beigefügte Berufungsschrift mit Berufungsbegründung erfüllte nicht die Anforderungen an eine wirksame Berufungseinlegung und -begründung, da sie nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen war. Sie war auch nicht als solche gedacht (vgl. hierzu Bundesgerichtshof, Beschluss vom 6. Mai 2008 – VI ZB 16/07 -).

II. Der Beklagte war infolge der Mittellosigkeit der Insolvenzmasse schuldlos daran gehindert, die Fristen zur Einlegung und Begründung der Berufung zu wahren.

Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Antrag als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Ihm ist nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe regelmäßig wegen der Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 21/11 -, m. w. N.) Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Denn wenn dem Rechtsmittelkläger – wie hier – bereits für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann er bei im Wesentlichen gleichen Angaben zu den Vermögensverhältnissen erwarten, dass auch das Gericht des zweiten Rechtszugs ihn als bedürftig ansieht. Insbesondere braucht er nicht damit zu rechnen, dass das Rechtsmittelgericht strengere Anforderungen an den Nachweis der Bedürftigkeit stellt als das Erstgericht (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. November 2011 – VI ZB 33/10 -; Beschluss vom 8. Februar 2012 – XII ZB 462/11 -).

III. Der Beklagte hat rechtzeitig innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung und Begründung der Berufung beantragt und durch gleichzeitige Einlegung und Begründung der Berufung die versäumten Prozesshandlungen innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO nachgeholt (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Der Prozesskostenhilfebewilligungsbeschluss vom 19. Mai 2021 wurde dem Beklagten am 20. Mai 2021 zugestellt. Der Wiedereinsetzungsantrag nebst Berufung und Berufungsbegründung sind am 20. Mai 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

B) Die Berufung des Beklagten ist indes unbegründet. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass das zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 11. August 2020 nicht aufgelöst worden ist. Die Kündigung ist zwar durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Sie ist aber nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam, weil bei der Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO.

I. Der Beklagte war aufgrund seines Stilllegungskonzeptes gehalten, bei der Auswahlentscheidung, welchen Arbeitnehmern zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 InsO, d. h. mit einer maximalen Frist von 3 Monaten gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

1. Dem Arbeitgeber und auch dem Insolvenzverwalter steht im Rahmen eines weiten unternehmerischen Ermessens frei, wie er den Stilllegungsplan ausgestaltet. So kann der Stilllegungsplan vorsehen, dass alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen. In diesem Fall kann der Arbeitgeber alle Kündigungen so aussprechen, dass sie zu einem einheitlichen Zeitpunkt wirksam werden und bis dahin alle Restarbeiten durchführen. Eine Sozialauswahl ist in dieser Fallkonstellation nicht erforderlich. Denn die Verpflichtung des Arbeitgebers zur sozialen Auswahl dient dem Zweck, bei unvermeidbaren Kündigungen aus dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer den sozial stärksten Arbeitnehmer ausfindig zu machen; dies ist grundsätzlich derjenige Arbeitnehmer, der aufgrund seiner Sozialdaten am wenigsten auf seinen Arbeitsplatz angewiesen ist. Diese Frage wird jedoch dann nicht relevant, wenn alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Oktober 1996 – 2 AZR 651/95 -).

Einer Sozialauswahl bedarf es auch nicht, wenn der Arbeitgeber entsprechend seinem Stilllegungskonzept die werbende Tätigkeit mit sofortiger Wirkung einstellt, allen Arbeitnehmern wegen der Betriebsstilllegung gleichzeitig mit den jeweils für sie geltenden Kündigungsfristen kündigt und zur Abarbeitung vorhandener Aufträge einige Arbeitnehmer nur noch während der Kündigungsfrist einsetzt bzw. den Arbeitnehmern mit den längsten Kündigungsfristen die Durchführung der Restarbeiten überträgt. Hier enden die Arbeitsverhältnisse aufgrund der unterschiedlichen Kündigungsfristen zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine etappenweise Betriebsstilllegung, bei der die Kündigungen dem zeit- und abschnittsweisen Abbau der Arbeitsplätze angepasst werden. Vielmehr beabsichtigt der Arbeitgeber die schnellstmögliche Stilllegung und kann diesen Entschluss nur auf diese Weise vertragsgerecht umsetzen.

Entschließt sich der Arbeitgeber dagegen für eine etappenweise Betriebsstilllegung, steht ihm hinsichtlich der bei den einzelnen Etappen zu kündigenden Arbeitnehmer keine freie Auswahlbefugnis zu. Vielmehr hat er bei jeder Etappe, mit Ausnahme der letzten, eine Sozialauswahl vorzunehmen, auch wenn nur noch befristete Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des Kündigungsschutzgesetzes, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten, auch wenn es sich möglicherweise nur um eine befristete Arbeitsmöglichkeit handelt (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. September 1982 – 2 AZR 271/80 -). Die Arbeitnehmer mit den schwächsten Sozialdaten sind daher grundsätzlich, sofern nicht § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG eine abweichende Entscheidung des Arbeitgebers rechtfertigt, mit den Restarbeiten zu beschäftigen und scheiden demgemäß zuletzt aus dem Betrieb aus (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Januar 1994 – 2 AZR 50/92 -).

2. Hiervon ausgehend musste der Beklagte bei seiner Entscheidung, welchen Arbeitnehmern zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 InsO, d. h. mit einer maximalen Frist von 3 Monaten gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden, die Grundsätze der Sozialauswahl beachten. Das Stilllegungskonzept des Beklagten sah gerade nicht vor, dass sämtliche Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen. Nach dem Konzept des Beklagten sollten vielmehr 107 Arbeitsplätze möglichst umgehend entfallen, während 190 Arbeitsplätze über einen Zeitraum von 11 Monaten bis zum 31. Mai 2021 erhalten bleiben sollten. Ebenso wenig sah das Konzept des Beklagten die schnellstmögliche Stilllegung des Betriebes vor. Das Konzept des Beklagten sah vielmehr eine Stilllegung des Betriebes in 2 Etappen vor. In einem ersten Schritt sollte eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG in Form einer wesentlichen Einschränkung des Betriebes durchgeführt werden. Eine solche kann auch in einem reinen Personalabbau bestehen, wenn – wie vorliegend – die Zahlenwerte des § 17 KSchG überschritten werden. Der so eingeschränkte Betrieb sollte sodann über mehrere Monate hinweg fortgeführt und erst in einem zweiten Schritt zum 31. Mai 2021 stillgelegt werden. Bei dieser Konstellation ist aber nicht ersichtlich, warum dem Beklagten abweichend von § 1 Abs. 3 KSchG eine freie Auswahlbefugnis zustehen soll.

Allein der Umstand, dass der Beklagte sämtliche Kündigungen unmittelbar nach Abschluss des Interessenausgleichs und dem Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur ausgesprochen hat, vermag ein solches Ergebnis jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Hier übersieht der Beklagte, dass er die Kündigungen gerade nicht mit der jeweils maßgeblichen Kündigungsfrist ausgesprochen hat. Diese betrug vorliegend nach § 113 InsO für sämtliche Arbeitnehmer maximal 3 Monate zum Monatsende. Demgegenüber hat der Beklagte gegenüber einem Großteil der Arbeitnehmer die Kündigungen „vorzeitig“ erklärt und diesen dabei eine Kündigungsfrist von 11 Monaten eingeräumt. Damit hat er aber zwischen den Arbeitnehmern differenziert und eine Auswahl getroffen. Wollte man ausschließlich auf den gleichzeitigen Ausspruch der Kündigungen abstellen, hätte es der Arbeitgeber in der Hand, durch den Ausspruch „vorzeitiger Kündigungen“ den in § 1 Abs. 3 KSchG verankerten Schutz der sozial schwächeren Arbeitnehmer zu unterlaufen.

Der Beklagte kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass nach seinem Konzept sämtliche Arbeitsplätze entfallen sollten und es daher ohnehin nur um eine befristete Weiterbeschäftigung gegangen sei. Wie oben dargelegt, entspricht es dem Sinn und Zweck des Kündigungsschutzgesetzes, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten, auch wenn es sich möglicherweise nur um eine befristete Arbeitsmöglichkeit handelt (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. September 1982 – 2 AZR 271/80 -). Bei einer Zeitspanne von 11 Monaten zwischen dem Zugang der Kündigung und dem beabsichtigten Stilllegungstermin lässt sich zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs auch kaum mit hundertprozentiger Sicherheit prognostizieren, dass es nur um eine befristete Weiterbeschäftigungsmöglichkeit geht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich der Insolvenzverwalter trotz der getroffenen Stilllegungsentscheidung vorbehalten hat, den Betrieb doch noch zu veräußern, falls wider Erwarten ein Käufer gefunden wird. Hier kommt es für etwaige Fortsetzungs- oder Wiedereinstellungsansprüche aber entscheidend darauf an, zu welchem Termin das Arbeitsverhältnis gekündigt worden war und zu welchem Zeitpunkt sich ein Betriebsübergang abzeichnete bzw. im Fall der Insolvenz vollzogen wurde.

Der Beklagte war danach gehalten, bei der Auswahl der Arbeitnehmer, denen zum nächst zulässigen Termin i. S. v. § 113 InsO gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiter beschäftigt werden, die Grundsätze der Sozialauswahl zu beachten.

II. Vorliegend haben die Betriebsparteien nach dem unstreitigen Sachverhalt bei der Auswahl, welche Arbeitnehmer eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden, keine sozialen Gesichtspunkte i. S. v. § 1 Abs. 3 KSchG berücksichtigt. Es mag zwar sein, dass dem Betriebsrat bei den Verhandlungen über den Interessenausgleich und der Erstellung der Namenslisten die Sozialdaten sämtlicher Arbeitnehmer vorlagen. Gleichwohl haben diese bei der getroffenen Auswahlentscheidung keine Rolle gespielt. Vielmehr haben die Betriebsparteien in Ziffer IV. des Interessenausgleichs übereinstimmend erklärt, dass aufgrund der Schließung des Betriebes und der damit verbundenen Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse eine Sozialauswahl nicht durchzuführen sei. Bereits hieraus ergibt sich, dass die Betriebsparteien von einer freien Auswahlbefugnis, bei der die in § 1 Abs. 3 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden mussten, ausgegangen sind. Auf Nachfrage des Gerichtes hat der Beklagtenvertreter zudem erklärt, er könne nicht sicher sagen, nach welchen Kriterien innerhalb der einzelnen Auswahlgruppen ausgewählt worden sei, jedenfalls seien es keine sozialen Gesichtspunkte gewesen.

III. Auch wenn die Betriebsparteien bei ihrer Auswahlentscheidung die in § 1 Abs. 3 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte nicht berücksichtigt haben, führt dies allein noch nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

1. Hat der Arbeitgeber eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl unterlassen, so ist die Kündigung des klagenden Arbeitnehmers nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes zumindest dann nicht sozial ungerechtfertigt, wenn mit ihr – zufällig – eine im Ergebnis vertretbare Auswahlentscheidung getroffen wurde. Es kommt also nicht darauf an, ob das Auswahlverfahren fehlerhaft war, sondern darauf, ob das Auswahlergebnis fehlerhaft ist. Der Arbeitgeber ist daher im Prozess berechtigt, näher darzulegen, dass und aus welchen Gründen soziale Gesichtspunkte gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn der gerügte Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre (vgl. nur Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. Juli 2017 – 2 AZR 476/16 -, Rn. 40, juris; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21. Mai 2015 – 8 AZR 409/13 -, Rn. 60 – 62, juris). Dabei ist der dem Arbeitgeber zustehende Wertungsspielraum auch dann zu beachten, wenn er eine Sozialauswahl zunächst für entbehrlich gehalten hat (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07. Juli 2011 – 2 AZR 476/10 -, Rn. 48 juris).

2. Wendet man diese Rechtsprechung auf den vorliegenden Streitfall an, stellt sich für die Kammer allerdings die Frage, ob dem Beklagten bei der vorzunehmenden Prüfung das Prüfungsprivileg des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO zu Gute kommt.

a) Ist – wie vorliegend – eine Betriebsänderung geplant und kommt zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande, in dem die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet, kann die soziale Auswahl nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden. Die Einschränkung des Prüfungsmaßstabs ist dabei umfassend. Sie bezieht sich nicht nur auf die Abwägung der sozialen Gesichtspunkte, sondern auf den gesamten Sozialauswahlprozess einschließlich der Bestimmung des auswahlrelevanten Personenkreises und der Einbeziehung von entgegenstehenden betrieblichen Interessen nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG (ErfK/Gallner, 22. Aufl. 2022, InsO § 125 Rn. 9).

b) Die Regelungen des § 125 InsO wollen eine erfolgreiche Sanierung insolventer Unternehmen fördern und im Insolvenzfall zusätzliche Kündigungserleichterungen schaffen. Im Insolvenzfall wird der individuelle Kündigungsschutz nach § 1 KSchG zugunsten einer kollektivrechtlichen Regelungsbefugnis der Betriebsparteien eingeschränkt. Der Insolvenzverwalter soll nicht einer Fülle von langwierigen und schwer kalkulierbaren Kündigungsschutzprozessen ausgesetzt werden. Der Gesetzgeber hat deshalb u. a. durch die Schaffung des § 125 InsO versucht, unter Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen diesem Sanierungsbedürfnis durch eine Kollektivierung des Kündigungsschutzes Rechnung zu tragen. Er hat für den Regelfall angenommen, der Betriebsrat werde seine Verantwortung gegenüber den von ihm repräsentierten Arbeitnehmern wahrnehmen, deshalb nur unvermeidbaren Entlassungen zustimmen und darauf achten, dass bei der Auswahl der ausscheidenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt werden (vgl. RegBegr. BT-Drucks. 12/2443 S. 149; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. August 2003 – 2 AZR 368/02 -, Rn. 23, juris).

c) Steht aber – wie vorliegend – fest, dass die Betriebsparteien bei ihrer Auswahlentscheidung soziale Gesichtspunkte nicht berücksichtigt haben, weil sie dies für nicht erforderlich gehalten haben, ist für die Annahme des Gesetzgebers, bei der Auswahl der ausscheidenden Arbeitnehmer seien soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt worden, kein Raum. Versucht nunmehr der Insolvenzverwalter im Prozess allein und nicht wie bei der Aufstellung der Namensliste im Zusammenwirken mit dem Betriebsrat die getroffene Auswahlentscheidung unter sozialen Gesichtspunkten zu rechtfertigen, kann die vom Gesetzgeber unterstellte „Richtigkeitsgewähr“ daher nicht greifen. Dann besteht aber auch kein Anlass, den Prüfungsmaßstab entsprechend § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO abzusenken (vgl. hierzu auch Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 17. Januar 2008 – 7 Sa 730/06 -).

IV. Letztlich kann diese Frage aber dahingestellt bleiben. Denn die Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers erweist sich vorliegend selbst nach dem Prüfungsmaßstab des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO als grob fehlerhaft.

1. Der Beklagte hat zur Rechtfertigung der Auswahlentscheidung vorgetragen, der Kläger sei der Vergleichsgruppe „Armaturenfertigung“ zuzuordnen. In dieser Vergleichsgruppe seien zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens 12 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 seien in dieser Vergleichsgruppe 2 Arbeitsplätze abgebaut worden. Von den verbliebenen 10 Arbeitnehmern hätten nach dem Interessenausgleich vom 29. Juni 2020 insgesamt 5 Arbeitnehmer eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten, 5 Arbeitnehmer seien weiter beschäftigt worden. Zu den Arbeitnehmern, die weiter beschäftigt wurden, gehörte nach dem Vortrag des Beklagten u. a. der Arbeitnehmer C. Dieser war zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs 29 Jahre alt, verheiratet, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und hatte eine Betriebszugehörigkeit von knapp 8 Jahren aufzuweisen. Demgegenüber war der Kläger 44 Jahre alt, verheiratet, zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet und hatte eine Betriebszugehörigkeit von knapp 20 Jahren aufzuweisen. Der Kläger war danach im Hinblick auf alle Sozialkriterien deutlich schutzwürdiger als der Mitarbeiter C. Er war 15 Jahre älter, 12 Jahre länger beschäftigt und gegenüber mehr Personen zum Unterhalt verpflichtet als der Arbeitnehmer C.

2. Bei den vorstehend aufgezeigten, deutlichen Unterschieden in den sozialen Auswahlkriterien handelt es sich auch um einen offenbaren und evidenten Auswahlfehler, der bei der Gewichtung der Auswahlkriterien jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Deutlich wird dies auch, wenn man zur Kontrolle das vom Beklagten einseitig in den Prozess eingeführte Punkteschema heranzieht. Danach weist der Arbeitnehmer C innerhalb der gesamten Vergleichsgruppe mit 48 Punkten die niedrigste Punktzahl auf. Demgegenüber kommt der Kläger auf 91 Punkte und bei Berücksichtigung seiner Gleichstellung mit einem Schwerbehinderten sogar auf 96 Punkte und damit auf doppelt so viele Punkte wie der Arbeitnehmer C.

3. Dem Kläger ist es auch nicht verwehrt, sich auf den Mitarbeiter C zu berufen. Diesem Ergebnis steht insbesondere die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 09. November 2006 – 2 AZR 812/05 – nicht entgegen. Das Bundesarbeitsgericht hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass jedenfalls in Fällen, in denen der Arbeitgeber die Sozialauswahl lediglich noch durch den korrekten Vollzug eines zulässigen Punkteschemas vornehme, ihm der Einwand gestattet sein müsse, ein Auswahlfehler habe sich auf die Kündigungsentscheidung nicht ausgewirkt. Ein Arbeitnehmer könne sich zwar auf jeden Auswahlfehler berufen, dies sei ihm also nicht etwa von vornherein aus Gründen der Treuwidrigkeit versagt. Allerdings sei der Arbeitgeber seinerseits berechtigt, aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn der gerügte Auswahlfehler nicht aufgetreten sei, gekündigt worden wäre. Damit hat das Bundesarbeitsgericht die sog. „Dominotheorie“ für den Fall einer Sozialauswahl durch den strikten und korrekten Vollzug einer Punktetabelle aufgegeben. Offen ist dagegen bis heute, ob die Aufgabe der sog. „Dominotheorie“ auch für Fälle gilt, in denen der Arbeitgeber die Auswahl ohne ein solches Punkteschema vorgenommen hat, oder aber – wie vorliegend – eine Sozialauswahl i. S. v. § 1 Abs. 3 KSchG ganz unterblieben ist.

In diesem Zusammenhang erscheinen die Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 27. Juli 2017 (- 2 AZR 476/16 -, Rn. 40, juris) nicht eindeutig. Dort heißt es zunächst: „Hat der Arbeitgeber eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl unterlassen, so ist die Kündigung des klagenden Arbeitnehmers zumindest dann nicht sozial ungerechtfertigt, wenn mit ihr – zufällig – eine im Ergebnis vertretbare Auswahlentscheidung getroffen wurde.“ Zwei Sätze weiter wird dann ausgeführt, der Arbeitgeber könne in solchen Fällen im Prozess darlegen, dass dem klagenden Arbeitnehmer „selbst dann, wenn ein seitens des Arbeitnehmers gerügter Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre“ und das o. g. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 09. November 2006 zitiert. Damit hat das Bundesarbeitsgericht aus Sicht der Kammer aber innerhalb desselben Absatzes zwei unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe angeführt, wie der vorliegende Sachverhalt zeigt. Denn dem Beklagten ist zuzugestehen, dass die Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers im Ergebnis selbst dann vertretbar wäre, wenn der Auswahlfehler hinsichtlich des Arbeitnehmers C unterblieben wäre. Dies ergibt sich daraus, dass neben dem Kläger weitere Arbeitnehmer, deren Schutzwürdigkeit der des Klägers entspricht, eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten haben. Dies gilt z. B. hinsichtlich des vom Beklagten angeführten Arbeitnehmers D, aber auch hinsichtlich des Arbeitnehmers E. Der Arbeitnehmer e ist zwar 5 Jahre älter als der Kläger und 1 Jahr länger beschäftigt. Im Gegensatz zum Kläger ist er aber nur gegenüber 2 und nicht gegenüber 3 Personen zum Unterhalt verpflichtet. Nach der vom Beklagten selbst in den Prozess eingeführten Punktetabelle käme der Arbeitnehmer E auf 90 Punkte, während der Kläger auf 91 Punkte käme. Der Arbeitnehmer D wiederum ist zwar 7 Jahre älter als der Kläger und auch 7 Jahre länger beschäftigt. Allerdings ist er nicht verheiratet und nur gegenüber einem Kind zum Unterhalt verpflichtet, während beim Kläger 3 Unterhaltspflichten bestehen. Er käme nach der Punktetabelle auf 93 Punkte. Angesichts dieser marginalen Unterschiede und unter Berücksichtigung des den Betriebsparteien zustehenden Wertungsspielraums wäre eine Auswahlentscheidung zu Lasten des Klägers trotz des groben Auswahlfehlers in Bezug auf den Arbeitnehmer C daher durchaus vertretbar. Andererseits lässt sich aufgrund des Wertungsspielraums, der den Betriebsparteien zusteht, nicht feststellen, dass dem Kläger ohne den gerügten Auswahlfehler auf jeden Fall gekündigt worden wäre. Denn vom Wertungsspielraum der Betriebsparteien wäre auch die Entscheidung gedeckt, neben dem Arbeitnehmer C den Arbeitnehmern E und D zu kündigen und den Kläger weiter zu beschäftigen.

4. Der vom Bundesarbeitsgericht genannte Prüfungsmaßstab einer „im Ergebnis vertretbaren Auswahlentscheidung“ kann aus Sicht der Kammer nur bei einer – wenn auch zufällig – insgesamt richtigen Sozialauswahl maßgebend sein. Liegt dagegen ein (grober) Auswahlfehler vor, muss der Arbeitgeber die fehlende Kausalität dieses Auswahlfehlers nachweisen und darlegen, dass auch jede andere Entscheidung den klagenden Arbeitnehmer mit Sicherheit genauso getroffen hätte und jedes zulässige Abwägungsergebnis zu keiner anderen Konsequenz als der Kündigung geführt hätte. Ansonsten könnte der Beklagte vorliegend sowohl gegenüber dem Kläger als auch gegenüber den Arbeitnehmern E und D jeweils geltend machen, die Auswahlentscheidung zu ihren Lasten sei im Ergebnis zumindest vertretbar. Damit bliebe der grobe Auswahlfehler in Bezug auf den Arbeitnehmer C aber folgenlos (vgl. zur Problematik APS/Kiel, 6. Aufl. 2021, KSchG § 1 Rn. 702; KR/Rachor, § 1 KSchG Rn. 711; NK-ArbR/Christoph Weber, § 1 KSchG Rn. 1397, 1398; MüKoBGB/Hergenröder, § 1 KSchG Rn. 464; Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 21. Januar 2009 – 2 Sa 1351/08 -; Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 04. Mai 2010 – 6 Sa 239/09 -; Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 05. Oktober 2011 – 7 Sa 1677/10 -).

5. Vorliegend lässt sich nicht feststellen, dass dem Kläger auch ohne den gerügten, groben Auswahlfehler gekündigt worden wäre. Welchen Inhalt die Namensliste gehabt hätte, wenn die Betriebsparteien bei ihrer Auswahlentscheidung soziale Gesichtspunkte berücksichtigt hätten, lässt sich im Nachhinein nicht objektiv feststellen. Den Betriebsparteien steht bei der Aufstellung der Namensliste ein Wertungsspielraum zu. Es ist aber nicht Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen, an Stelle der Betriebsparteien hypothetisch diese Wertung vorzunehmen. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Betriebsparteien ihrer Auswahlentscheidung eine Punktesystem zu Grunde gelegt und dieses strikt angewendet hätten. Beides ist nicht der Fall. Zum einen hatten die Betriebsparteien ihrer Auswahlentscheidung überhaupt keine sozialen Gesichtspunkte und daher auch kein Punktesystem zu Grunde gelegt. Zum anderen diente das vom Beklagten angeführte Punktesystem auch beim Interessenausgleich vom 27. März 2020 nur einer ersten Orientierung und wurde auch dort nicht strikt umgesetzt. Abgesehen davon hätte der Kläger auch bei einer strikten Anwendung der Punktetabelle nicht zur Kündigung angestanden. Mit 91 Punkten, also ohne Berücksichtigung der Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen, hätte der Kläger an fünfter Stelle der Vergleichsgruppe gestanden. Soweit der Beklagte meint, der Mitarbeiter D habe mit 93 Punkten an der fünften Stelle gestanden, beruht dies allein darauf, dass der Beklagte den Mitarbeiter F in der Rangfolge berücksichtigt. Dieser war aber bereits auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 aus dem Betrieb ausgeschieden und hat eine vorgezogene Altersrente in Anspruch genommen. Er war daher bei der vorzunehmenden Sozialauswahl nicht mehr zu berücksichtigen. Ohne den Mitarbeiter F standen aber der Mitarbeiter D an vierter und der Kläger an fünfter Stelle. Beide hätten daher bei einer strikten Anwendung der Punktetabelle nicht zur Kündigung angestanden.

Da sich nicht feststellen lässt, dass dem Kläger auch ohne den gerügten, groben Auswahlfehler gekündigt worden wäre, ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam.

V. Schließlich teilt die Kammer zumindest im Ergebnis die Ansicht des Arbeitsgerichts, dass in den im Prozess nachgeholten Erwägungen zur sozialen Auswahl ein nach § 102 BetrVG unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen zu sehen ist. Danach kann sich der Arbeitgeber im Prozess grundsätzlich nicht auf Kündigungsgründe oder für einen Kündigungssachverhalt wesentliche Umstände berufen, auf die er die Kündigung nicht stützen wollte und zu denen er den Betriebsrat nicht angehört hat.

Das Bundesarbeitsgericht hat zwar in mehreren Urteilen den Standpunkt vertreten, dass das im Prozess nachgeholte Vorbringen des Arbeitgebers zur sozialen Auswahl kein nach § 102 BetrVG unzulässiges Nachschieben eines neuen Kündigungssachverhaltes, sondern nur eine Konkretisierung bzw. Ergänzung des bisherigen Kündigungssachverhaltes darstelle. Den Entscheidungen lagen aber regelmäßig Sachverhalte zu Grunde, in denen der Arbeitgeber keine Auswahlentscheidung getroffen hatte, weil er zum Beispiel bestimmte Arbeitnehmer übersehen oder nicht für vergleichbar gehalten hat, oder weil er der Ansicht war, bei der Kündigung eines Arbeitnehmers, der einem Betriebsübergang widersprochen hat, sei kein Raum für eine Sozialauswahl, oder weil er unter Verkennung des Betriebsbegriffes von einer Betriebsstilllegung ausgegangen war (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Februar 2000 – 8 AZR 167/99 -; Urteil vom 09. September 2010 – 2 AZR 936/08 -; Urteil vom 07. November 1996 – 2 AZR 720/95 -; Urteil vom 26. März 2009 – 2 AZR 296/07 -; Urteil vom 24. Februar 2000 – 8 AZR 145/99 -). Mangels einer Auswahlentscheidung hatte der Arbeitgeber dem Betriebsrat in den genannten Fällen entsprechend dem Grundsatz der subjektiven Determination auch keine Auswahlgründe mitgeteilt. Macht der Arbeitnehmer im Prozess sodann geltend, dass eine Auswahlentscheidung unter ausreichender Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte erforderlich gewesen sei, mag in dem entsprechenden Vortrag des Arbeitgebers eine bloße Ergänzung des Kündigungssachverhaltes liegen.

Vorliegend haben die Betriebsparteien demgegenüber zahlreiche Auswahlentscheidungen getroffen. Sie haben im Einzelnen ausgewählt, welche Arbeitnehmer eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden. Auch im Fall des Klägers haben sei ausgewählt, welche Armaturenfertiger eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten sollen, und welche Armaturenfertiger bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden. Dieser Auswahlentscheidung haben sie allerdings keine sozialen Gesichtspunkte i. S. v. § 1 Abs. 3 KSchG zu Grunde gelegt, sondern andere, vorliegend nicht näher benannte Kriterien, wie möglicherweise Leistungsgesichtspunkte, erhöhte Arbeitsunfähigkeitszeiten oder sonstige betriebliche Belange. Wenn dann aber der Beklagte im Prozess die unterbliebene Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten nachträglich vornimmt und zur ausreichenden Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte vorträgt, liegt hierin nicht nur eine Ergänzung oder Konkretisierung der mit dem Betriebsrat erörterten Auswahlkriterien. Vielmehr werden die Gründe für die getroffene Auswahlentscheidung ausgetauscht und nunmehr Umstände angeführt, auf welche die Auswahlentscheidung und die Kündigung nicht gestützt werden sollten und zu denen der Betriebsrat nicht angehört wurde. Hierin liegt ein unzulässiges Nachschieben von Kündigungsgründen.

Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte dem Betriebsrat bei den Verhandlungen über den Interessenausgleich und der Aufstellung der Namenslisten die Sozialdaten sämtlicher Arbeitnehmer mitgeteilt hat. Denn es macht keinen Sinn, dem Betriebsrat die Sozialdaten der Arbeitnehmer mitzuteilen und gleichzeitig zu erklären, dass eine Sozialauswahl nicht erforderlich sei, die Sozialdaten bei der zu treffenden Auswahlentscheidung daher keine Rolle spielen und der Betriebsrat diese Ansicht ausweislich der in Ziffer IV des Interessenausgleichs getroffenen Regelung teilt. Dann handelt es sich bei den Sozialdaten der Arbeitnehmer aber um Umstände, auf welche die Auswahlentscheidung und Kündigung gerade nicht gestützt werden sollten.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Beklagte den Betriebsrat nachträglich zu seinen im Prozess nachgeholten Erwägungen zur ausreichenden Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte angehört hätte. Insofern kommt es nicht darauf an, ob es sich um Kündigungstatsachen handelt, die erst nach Ausspruch der Kündigung relevant geworden sind und deren Nachschieben daher zulässig wäre, wenn der Betriebsrat insoweit nachträglich angehört wurde (so Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07. November 1996 – 2 AZR 720/95 -).

C) Die zulässige Berufung des Klägers ist ebenfalls unbegründet.

Nach dem insoweit unstreitigen Sachverhalt sind das Walzwerk, die Instandhaltung und die Verwaltung mit Wirkung zum 01. Juli 2021 auf einen neuen Betriebsinhaber übertragen worden. Das Ziehwerk und das Technikum wurden wie geplant zum 31. Mai 2021 stillgelegt. Damit verfügt der Beklagte aber über keinerlei Arbeitsplätze, auf denen der Kläger als Armaturenschlosser weiter beschäftigt werden könnte, so dass ihm die Beschäftigung unmöglich ist.

D) Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Danach haben die Parteien jeweils die Kosten des von ihnen ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen.

Die Kammer hat gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zugelassen.

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