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Betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung

Landesarbeitsgericht Hamm erklärt Kündigungen eines Stahlprofilherstellers für unwirksam. Fehlende Anhaltspunkte für ernsthaften Stilllegungsplan trotz Interessenausgleichs mit Betriebsrat. Überlange Kündigungsfrist von etwa einem Jahr lässt Zweifel an endgültigem Entschluss aufkommen.

➔ Zum vorliegenden Urteil Az.: 16 Sa 485/21 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Hilfe anfordern


✔ Der Fall: Kurz und knapp

  • Das Urteil betrifft die Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen aufgrund einer Betriebsstilllegung.
  • Der Kläger war seit 2011 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt und erhielt zwei Kündigungen im Jahr 2020.
  • Der Insolvenzverwalter schloss zunächst einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah.
  • Im weiteren Verlauf wurden Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufgenommen, da keine Übernahmeangebote für den Betrieb vorlagen.
  • Der Gläubigerausschuss beschloss die geordnete Ausproduktion bis Mai 2021 und die anschließende Stilllegung des Betriebs.
  • Der Interessenausgleich sah vor, dass die Arbeitsverhältnisse der für die Ausproduktion nicht benötigten Arbeitnehmer gekündigt werden.
  • Der Kläger, der für die Ausproduktion benötigt wurde, erhielt eine Kündigung zum 31. Mai 2021.
  • Das Landesarbeitsgericht Hamm stellte fest, dass die Kündigungen des Klägers unwirksam sind.
  • Das Gericht entschied so, weil die Anhörungsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurden und keine ausreichende Sozialauswahl stattfand.
  • Die Entscheidung hat zur Folge, dass betriebsbedingte Kündigungen sorgfältig vorbereitet und rechtlich abgesichert werden müssen, um wirksam zu sein.

Betriebsstilllegung: Gericht erklärt Kündigung für unwirksam – Arbeitnehmerrecht gestärkt

Die Betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung ist ein wichtiger Aspekt im Arbeitsrecht. Wenn ein Unternehmen seine Tätigkeit einstellt oder einen Teil seiner Produktion stilllegt, kann dies zu einer Vielzahl von Konsequenzen für die Arbeitnehmer führen. Eine der möglichen Folgen ist die Kündigung von Arbeitsverträgen. Doch was bedeutet dies genau für die Betroffenen? Wie kann ein Arbeitgeber eine solche Kündigung begründen und was sind die Rechte der Arbeitnehmer in diesem Fall?

Eine Betriebsstilllegung kann aus verschiedenen Gründen erfolgen, beispielsweise aufgrund von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, einer Änderung der Marktbedingungen oder einer Umstrukturierung des Unternehmens. In jedem Fall muss der Arbeitgeber jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um eine betriebsbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Dies umfasst unter anderem die Notwendigkeit, die Kündigung zu begründen und die Arbeitnehmer ordnungsgemäß zu informieren.

Im Folgenden werden wir uns mit einem konkreten Fall auseinandersetzen, in dem ein Gericht über die Rechtmäßigkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen Betriebsstilllegung entschieden hat.

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✔ Der Fall vor dem Landesarbeitsgericht Hamm


Urteil – Betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung

Das Landesarbeitsgericht Hamm hat in einem Urteil vom 13.01.2023 (Az. 16 Sa 485/21) die Wirksamkeit zweier betriebsbedingter Kündigungen geprüft, die im Rahmen einer geplanten Betriebsstilllegung ausgesprochen wurden. Die wesentlichen Aspekte des Urteils lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Sachverhalt

  • Der Kläger war seit 2011 bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt, die Stahl- und Metallprofile herstellte.
  • Im März 2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt.
  • Der Gläubigerausschuss beschloss am 24.06.2020 die Einleitung einer geordneten Ausproduktion mit anschließender Stilllegung des Betriebs zum 31.05.2021, falls kein Betriebsübergang zustande kommt.
  • Am 29.06.2020 schlossen der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namenslisten der zu kündigenden Arbeitnehmer, darunter der Kläger mit Kündigung zum 31.05.2021.
  • Der Kläger erhielt am 02.07.2020 die Kündigung zum 31.05.2021, gegen die er Kündigungsschutzklage erhob. Eine weitere Kündigung vom 20.08.2020 zum selben Termin wurde in den Rechtsstreit einbezogen.

Entscheidungsgründe

  • Das Arbeitsverhältnis ist weder durch die Kündigung vom 29.06.2020 noch vom 20.08.2020 aufgelöst worden. Die Kündigungen sind sozial ungerechtfertigt gemäß § 1 Abs. 2 KSchG.
  • Es liegt keine Vermutung der Betriebsbedingtheit nach § 125 InsO vor, da der Insolvenzverwalter nicht nachgewiesen hat, dass zum Zeitpunkt des Interessenausgleichs eine endgültige Betriebsstilllegung geplant und eingeleitet war.
  • Der Beschluss des Gläubigerausschusses vom 24.06.2020 regelt lediglich die Einleitung einer Ausproduktion, aber nicht die endgültige Stilllegung des Betriebs.
  • Es gab zum Kündigungszeitpunkt keinerlei objektive Anzeichen für einen ernsthaften Stilllegungsplan wie Kündigungen von Verträgen, Auflösung der Betriebsorganisation etc.
  • Die überlange Kündigungsfrist von ca. 1 Jahr bis zur geplanten Stilllegung spricht ebenfalls gegen einen ernsthaften Stilllegungsplan, da der Ausgang von Verkaufsverhandlungen so früh nicht verlässlich prognostiziert werden kann.

Das Gericht gelangte daher zur Überzeugung, dass zum Kündigungszeitpunkt noch keine greifbaren Formen für eine endgültige Betriebsstilllegung vorlagen und die Kündigungen daher sozial ungerechtfertigt sind.

✔ Die Schlüsselerkenntnisse in diesem Fall


Für die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung wegen Betriebsstilllegung reicht der bloße Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste nicht aus. Entscheidend sind greifbare Formen des ernsthaften Stilllegungsentschlusses zum Kündigungszeitpunkt. Fehlt es hieran, insbesondere bei überlanger Kündigungsfrist und laufenden Verkaufsverhandlungen, sind die Kündigungen sozial ungerechtfertigt.


✔ FAQ – Häufige Fragen

Das Thema: Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstilllegung wirft bei vielen Lesern Fragen auf. Unsere FAQ-Sektion bietet Ihnen wertvolle Insights und Hintergrundinformationen, um Ihr Verständnis für dieses Thema zu vertiefen. Weiterhin finden Sie in der Folge einige der Rechtsgrundlagen, die für dieses Urteil wichtig waren.


Was bedeutet eine betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung für Arbeitnehmer?

Eine betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung bedeutet für Arbeitnehmer in der Regel den Verlust des Arbeitsplatzes. Der Arbeitgeber darf den Betrieb aus wirtschaftlichen Gründen schließen. Dies stellt ein dringendes betriebliches Erfordernis dar, das betriebsbedingte Kündigungen rechtfertigt. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber den Betrieb tatsächlich vollständig und endgültig stilllegt. Eine nur vorübergehende Betriebsunterbrechung reicht nicht aus.

Der Stilllegungsentschluss muss im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen haben. Der Arbeitgeber muss darlegen können, dass er die erforderlichen Maßnahmen wie Kündigung von Miet- oder Pachtverträgen und Verkauf von Betriebsmitteln eingeleitet hat. Verhandlungen über eine Betriebsveräußerung dürfen nicht mehr laufen, sonst ist die Stilllegungsabsicht nicht ernsthaft.

Erfolgt die Stilllegung etappenweise und werden noch Restarbeiten erledigt, muss der Arbeitgeber eine Sozialauswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern treffen. Die am wenigsten schutzwürdigen Arbeitnehmer sind dann zuerst zu kündigen. Werden dagegen alle Arbeitnehmer zeitgleich entlassen, entfällt die Sozialauswahl.

Der Arbeitgeber muss die üblichen Kündigungsfristen einhalten. Ordentlich unkündbare Arbeitnehmer können bei Betriebsstilllegung aber außerordentlich gekündigt werden. Für Arbeitnehmer mit Sonderkündigungsschutz wie Schwerbehinderte, Schwangere oder Betriebsräte gelten zusätzliche Vorschriften.


Welche Voraussetzungen muss ein Arbeitgeber erfüllen, um eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen zu können?

Um eine betriebsbedingte Kündigung rechtfertigen zu können, muss der Arbeitgeber folgende Voraussetzungen erfüllen:

Es müssen dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen, die zu einem Wegfall des Beschäftigungsbedarfs an der bisherigen Stelle des Arbeitnehmers führen. Solche Gründe können innerbetrieblicher Natur sein, wie Rationalisierungsmaßnahmen, Umstrukturierungen oder Stilllegungen, oder außerbetrieblich bedingt, wie Auftragsrückgänge oder Umsatzeinbrüche. Der Arbeitgeber muss diese Gründe konkret darlegen und beweisen können.

Zudem darf für den Arbeitnehmer keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Unternehmen bestehen, auch nicht durch Umschulung oder Versetzung auf einen anderen, freien Arbeitsplatz. Die Kündigung muss das letzte Mittel (ultima ratio) sein.

Bei der Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer ist zwingend eine Sozialauswahl durchzuführen. Dabei sind Kriterien wie Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung zu berücksichtigen. Im Rahmen einer Interessenabwägung muss das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers das Weiterbeschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers überwiegen.

Formell muss der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung den Betriebsrat anhören, sofern ein solcher besteht. Bei Sonderkündigungsschutz, z.B. für Schwerbehinderte oder Betriebsratsmitglieder, sind weitere Verfahrensvorschriften zu beachten.

Bietet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Kündigung mit der Maßgabe des § 1a KSchG an, erhält dieser bei Nichterhebung einer Kündigungsschutzklage eine gesetzliche Abfindung. Ansonsten besteht kein allgemeiner Abfindungsanspruch.


Welche Rechte haben Arbeitnehmer bei einer betriebsbedingten Kündigung aufgrund einer Betriebsstilllegung?

  • Bei einer betriebsbedingten Kündigung aufgrund einer Betriebsstilllegung haben Arbeitnehmer in Deutschland folgende Rechte:
  • Kündigungsschutz: Auch bei einer Betriebsstilllegung gilt der allgemeine Kündigungsschutz. Der Arbeitgeber muss dringende betriebliche Erfordernisse nachweisen, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Die unternehmerische Entscheidung zur Stilllegung unterliegt dabei keiner gerichtlichen Kontrolle. Allerdings muss die Kündigung ultima ratio sein, d.h. eine Weiterbeschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder Unternehmen darf nicht möglich sein.
  • Sozialauswahl: Erfolgt die Betriebsstilllegung nicht auf einmal, sondern etappenweise und müssen für eine Übergangszeit noch Arbeitnehmer für Abwicklungsarbeiten beschäftigt werden, muss der Arbeitgeber eine Sozialauswahl nach den Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung durchführen. Dabei sind die Arbeitnehmer mit den Abwicklungsarbeiten zu betrauen, die nach der Sozialauswahl am schutzwürdigsten sind. Eine unterlassene oder fehlerhafte Sozialauswahl führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
  • Anhörung des Betriebsrats: Besteht ein Betriebsrat, muss dieser vor Ausspruch der Kündigung angehört werden (§ 102 BetrVG). Unterbleibt die Anhörung, ist die Kündigung unwirksam. Bei Betriebsänderungen wie Stilllegungen muss der Arbeitgeber den Betriebsrat außerdem nach §§ 111 ff. BetrVG unterrichten und beraten.
  • Massenentlassungsanzeige: Werden bei einer Betriebsstilllegung viele Arbeitnehmer entlassen, muss der Arbeitgeber dies der Agentur für Arbeit nach § 17 KSchG anzeigen. Unterbleibt die Anzeige, sind die Kündigungen unwirksam.
  • Kündigungsfristen: Die gesetzlichen, tariflichen oder einzelvertraglich vereinbarten Kündigungsfristen sind einzuhalten. Eine fristlose Kündigung wegen der Stilllegung ist in der Regel nicht möglich.
  • Abfindung: Ein gesetzlicher Anspruch auf eine Abfindung besteht nicht. Oft werden aber bei Betriebsstilllegungen mit dem Betriebsrat Sozialpläne vereinbart, die Abfindungen vorsehen. Auch individualrechtlich können Abfindungen vereinbart werden.
  • Kündigungsschutzklage: Hält der Arbeitnehmer die Kündigung für unwirksam, kann er innerhalb von 3 Wochen Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht erheben. Dabei kann er die Einhaltung der genannten Arbeitnehmerrechte gerichtlich überprüfen lassen.

Wie können Arbeitnehmer gegen eine betriebsbedingte Kündigung vorgehen?

Arbeitnehmer können gegen eine betriebsbedingte Kündigung vorgehen, indem sie innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung eine Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht einreichen. Nur durch fristgerechte Klageerhebung kann die Wirksamkeit der Kündigung gerichtlich überprüft werden. Lässt der Arbeitnehmer die Frist verstreichen, gilt die Kündigung als von Anfang an rechtmäßig.

Im Kündigungsschutzprozess muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass die betriebsbedingte Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist und eine Weiterbeschäftigung nicht möglich ist. Gelingt ihm dies nicht, ist die Kündigung unwirksam. Häufige Angriffspunkte für Arbeitnehmer sind dabei Fehler bei der Sozialauswahl, die Verletzung von Anhörungspflichten gegenüber dem Betriebsrat oder die Missachtung von Sonderkündigungsschutz bestimmter Arbeitnehmergruppen wie Schwerbehinderte oder Schwangere.

Sieht das Gericht die Kündigung als unwirksam an, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen. In der Praxis einigen sich die Parteien aber oft auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung. Die Höhe der Abfindung hängt von verschiedenen Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, Alter und Unterhaltspflichten ab und beträgt meist zwischen 0,5 und 1,5 Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr.

Um die Erfolgsaussichten einer Kündigungsschutzklage einschätzen zu können, sollten sich betroffene Arbeitnehmer frühzeitig anwaltlich beraten lassen. Gewerkschaftsmitglieder erhalten in der Regel kostenlosen Rechtsschutz. Ansonsten besteht je nach wirtschaftlicher Lage die Möglichkeit von Prozesskostenhilfe.


Welche Rolle spielt der Interessenausgleich und Sozialplan bei einer Betriebsstilllegung?

Bei einer Betriebsstilllegung spielen der Interessenausgleich und der Sozialplan eine wichtige Rolle für die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer.

Der Interessenausgleich regelt, ob, wann und wie die geplante Betriebsänderung, in diesem Fall die Stilllegung, durchgeführt werden soll. Er wird zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ausgehandelt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich zu verhandeln, kann aber nicht zu dessen Abschluss gezwungen werden. Kommt ein Interessenausgleich zustande, schafft er Klarheit über den Umfang der Stilllegung und den Zeitraum der Umsetzung. Verweigert der Arbeitgeber die Verhandlungen oder scheitern diese, können betroffene Arbeitnehmer Nachteilsausgleichsansprüche geltend machen.

Der Sozialplan hingegen regelt den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern durch die Betriebsstilllegung entstehen. Dazu gehören insbesondere Abfindungen für Gekündigte, aber auch Regelungen zu Umzugskosten, Einkommensminderungen oder Qualifizierungsmaßnahmen. Im Gegensatz zum Interessenausgleich kann der Betriebsrat den Sozialplan in der Regel erzwingen, wenn sich die Betriebsparteien nicht einigen. Der Sozialplan entfaltet dann ähnliche Wirkung wie eine Betriebsvereinbarung.

Für die Arbeitnehmer ist es daher wichtig, dass Interessenausgleich und Sozialplan bei einer Betriebsstilllegung verhandelt werden. Der Interessenausgleich schafft Transparenz und Planungssicherheit, der Sozialplan federt die finanziellen Folgen ab. Verweigert der Arbeitgeber die Verhandlungen, sollte sich der Betriebsrat qualifiziert beraten lassen, um die Arbeitnehmerrechte bestmöglich zu wahren.


§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils


  • § 1 Abs. 2 KSchG (Kündigungsschutzgesetz): Beschäftigt sich mit der sozialen Rechtfertigung von Kündigungen. Im Fall wurde entschieden, dass die Kündigungen sozial ungerechtfertigt waren, da keine ausreichenden betrieblichen Gründe vorlagen.
  • § 17 KSchG (Kündigungsschutzgesetz): Regelt die Massenentlassungsanzeige. Der Insolvenzverwalter musste vor der Kündigung eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit einreichen.
  • § 102 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz): Vorschriften zur Anhörung des Betriebsrats vor jeder Kündigung. Im Fall musste der Betriebsrat über die beabsichtigten Kündigungen angehört werden.
  • § 125 InsO (Insolvenzordnung): Betreffend betriebsbedingte Kündigungen während eines Insolvenzverfahrens. Hier musste nachgewiesen werden, dass eine endgültige Betriebsstilllegung geplant war.
  • § 113 InsO (Insolvenzordnung): Betrifft Kündigungsfristen und Sozialauswahl in der Insolvenz. Die Kündigungen wurden zum nächstmöglichen Termin im Sinne dieses Paragraphen ausgesprochen.
  • Interessenausgleich: Vereinbarung zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat zur Gestaltung der Kündigungen. Der Interessenausgleich ist entscheidend, da er die Grundlage für die durchgeführten Kündigungen bildete.
  • Sozialplan: Bestandteil des Interessenausgleichs, der Regelungen zu Abfindungen und anderen sozialen Ausgleichsmaßnahmen enthält. Ein Sozialplan musste erstellt werden, um die wirtschaftlichen Nachteile der Arbeitnehmer abzumildern.
  • Betriebsstilllegung: Der zentrale Grund für die Kündigungen war die geplante Betriebsstilllegung, die jedoch zum Zeitpunkt der Kündigungen nicht hinreichend belegt war.


⇓ Das vorliegende Urteil vom Landesarbeitsgericht Hamm

Landesarbeitsgericht Hamm – Az.: 16 Sa 485/21 – Urteil vom 13.01.2023

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10.03.2021 – 5 Ca 2825/20 – abgeändert:

1. Es wird festgestellt, dass das zwischen dem Kläger und der Schuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 noch durch die Kündigung des Beklagten vom 20.08.2020 aufgelöst worden ist.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

II. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigungen.

Der am 04. Oktober 1966 geborene, verheiratete und gegenüber zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 05. Dezember 2011 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: Insolvenzschuldnerin) beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung belief sich zuletzt auf 4.071,00 €.

Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, bei der ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt waren, das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser schloss unter dem 27. März 2020 mit dem bei der Insolvenzschuldnerin gebildeten Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 Arbeitsverhältnissen vorsah. Der Kläger war hiervon nicht betroffen.

Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. In der Mail wies er darauf hin, dass mit den Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs auch das Anhörungsverfahren zu den beabsichtigten Kündigungen nach § 102 BetrVG wie auch das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zur Massenentlassung verbunden werden und demgemäß Informationen, die im Rahmen der Verhandlungen zum Interessenausgleich und Sozialplan erteilt werden, auch förmliche Informationen im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG und des Konsultationsverfahrens nach § 17 KSchG sind. Dieser E-Mail war auch eine Excel-Liste beigefügt, die sämtliche Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin nebst deren Sozialdaten enthielt.

In der Folgezeit fanden am 06., 14., 18. und 26. Mai 2020 Verhandlungen statt. Mit Schreiben vom 20. und 25. Mai 2020 unterrichtete der Beklagte den Betriebsrat nochmals gesondert nach § 17 Abs. 2 KSchG. Schließlich überreichte der Beklagte dem Betriebsrat mit E-Mail vom 28. Mai 2020 die Endfassungen des Interessenausgleichs und Sozialplans. Diese wurden zunächst nicht unterzeichnet, da der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung vom 28. Mai 2020 den Beschluss fasste, die Kaufverhandlungen mit den Kaufinteressenten für den Geschäftsbetrieb der Insolvenzschuldnerin zunächst fortzuführen.

Am 24. Juni 2020 fand per Telefonkonferenz eine weitere Sitzung des Gläubigerausschusses statt. Im Sitzungsprotokoll ist u. a. Folgendes festgehalten:

„TOP 4 Sachstand zu dem B -Prozess

Herr C. berichtet über den aktuellen Sachstand des B-Prozesses, insbesondere über den Fortgang der Verkaufsgespräche. Es sind nach wie vor die zwei bekannten Interessenten, Herr Dr. D. sowie die E GmbH, an dem Erwerb des Geschäftsbetriebs interessiert. Zwischenzeitlich hatten Vertreter der E GmbH die Möglichkeit, den Betrieb zu besichtigen sowie das Management der Insolvenzschuldnerin kennenzulernen. Damit stehen den Interessenten alle relevanten Informationen zur Abgabe eines Kaufangebotes zur Verfügung. Ein solches Angebot liegt allerdings immer noch nicht vor.

Auch mit Herrn Dr. D. konnten die Gespräche in einem persönlichen Treffen vertieft werden. Bei diesem Gespräch wurde Herr Dr. D. auch nochmals auf den engen zeitlichen Rahmen hingewiesen, jedoch wird Herr Dr. D. nach eigener Aussage in dem zur Verfügung stehenden Zeitrahmen voraussichtlich keine Finanzierungszusage vorweisen können. Am 23.06.2020 wurde von ihm zur Darstellung der Finanzierung eine Überleitungsrechnung vorgelegt, die den Mitgliedern des Gläubigerausschusses ebenfalls bekannt ist. Daneben hat Herr Dr. D auch Gespräche mit der E GmbH und einem chinesischen Investor aufgenommen mit dem Ziel einer gemeinsamen Finanzierung des Kaufs. Diese Gespräche sind jedoch bisher ebenfalls nicht abgeschlossen.

Zusammenfassend stellen die Anwesenden einvernehmlich fest, dass derzeit kein annahmefähiges Angebot zur Übernahme des Geschäftsbetriebs vorliegt.

Für die kommenden Monate, Juli und August, wurde von der TMC eine Planung erstellt. Diese zeigt, dass bei unveränderter Fortführung des Geschäftsbetriebes – auch aufgrund der turnusmäßigen Produktionsunterbrechung – mit einem Verlust von ca. 300 TEUR pro Monat gerechnet werden muss, auch wenn eine Preiserhöhung von 15 % mit den wesentlichen Kunden vereinbart wird und auch weiterhin ein Beitrag der Arbeitnehmer durch einen Entgeltverzicht in Höhe von 10 % geleistet wird.

Nach Einschätzung aller Anwesenden ist eine weitere vollumfängliche Fortführung des Geschäftsbetriebs nur möglich, wenn ein Interessent die anfallenden Verluste zu wesentlichen Teilen übernimmt und hierzu einen entsprechenden Betrag hinterlegt. Daneben müsste in diesem Fall ebenfalls wieder ein Entgeltverzicht der Arbeitnehmer und eine Preiserhöhung mit den Kunden vereinbart werden.

TOP 5 Entscheidung über die Einleitung einer geordneten Ausproduktion mit anschließender Stilllegung des Geschäftsbetriebs / Fortführung des Geschäftsbetriebs

Der Gläubigerausschuss beschließt vor diesem Hintergrund einstimmig, dass eine Ausproduktion für 11 Monate bis zum 31.05.2021 eingeleitet und vorgenommen werden soll, sofern es nicht gelingt, entweder (i) bis Ende Juni einen Verkauf des Betriebes mit Wirkung zum 01.07.2020 vorzunehmen oder (ii) die Ergebnisunterdeckung für den Monat Juli 2020 in Höhe von voraussichtlich 300 T€ (ohne Sondereffekte) über einen Verlustausgleich durch Dritte abzudecken.

Hierzu sollen noch im Monat Juni umgehend die notwendigen Maßnahmen, einschließlich des Abschlusses eines weiteren Sozialplanes und Interessenausgleiches sowie der Kündigung und Freistellung der für die Ausproduktion nicht notwendigen Arbeitnehmer getroffen werden.“

Am 29. Juni 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat schließlich den Interessenausgleich, in dem u. a. folgendes festgehalten ist:

„ Vorbemerkungen

Der Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24.06.2020 entschieden, das Kaufangebot eines Kaufinteressenten wegen fehlender Nachhaltigkeit nicht anzunehmen. Ein zusätzlicher Interessent hatte lediglich ein indikatives Angebot abgegeben und dieses nicht konkretisiert. Des Weiteren wurde durch den Gläubigerausschuss beschlossen, dass der Betrieb der Insolvenzschuldnerin geordnet geschlossen wird. Die Schließung erfolgt nach einer Phase der Ausproduktion.

II. Betriebsänderung

Der Insolvenzverwalter schließt mit ausgewählten Kunden der Insolvenzschuldnerin Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin im Rahmen einer Ausproduktion, da einige Kunden, insbesondere des Walzwerkes, auf die Produkte der Insolvenzschuldnerin derzeit noch angewiesen sind und sie diese Produkte nicht kurzfristig und/oder nicht in der notwendigen Qualität von anderen Lieferanten beziehen können. Die Kunden müssen erhebliche Preissteigerungen hinnehmen und erhalten für elf Monate und somit bis zum 31.05.2021 die Möglichkeit noch im Vorhinein festgelegte Produkte von der Insolvenzschuldnerin zu beziehen.

Für das Walzwerk ist für den Zeitraum von elf Monaten eine Produktion von 35.000 t bis 40.000 t geplant.

Im Ziehwerk liegt noch ein Auftragsbestand vor, der eine Auslastung bis zum 31.12.2020 sichert. Über einen Vertriebsmitarbeiter sollen weitere Aufträge generiert werden, die einen Weiterbetrieb des Ziehwerks bis zum Ende der Ausproduktion im Walzwerk am 31.05.2021 ermöglicht. Spätestens am 31.05.2021 wird der Betrieb im Ziehwerk eingestellt und die Ausproduktion beendet.

Für die Phase der Ausproduktion wird kein Personal im bisherigen Umfang benötigt. Das Personal wird daher auf ein Minimum reduziert.

III. Kündigungen

Der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat sind sich darüber einig, dass im Rahmen der Betriebsschließung sämtliche Arbeitsverhältnisse zu kündigen sind.

Die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die zur Durchführung der Ausproduktion nicht benötigt werden, sind aus betriebsbedingten Gründen zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 InsO zu kündigen.

Die Arbeitnehmer, die für die Durchführung der Ausproduktion benötigt werden, erhalten ebenso nach Abschluss des Interessenausgleichs und Vorliegen einer evtl. erforderlichen behördlichen Zustimmung (z. B. Schwerbehinderung oder Mutterschutz/Elternzeit) eine Kündigung. Diese wird jedoch nicht zum frühesten Termin, sondern zum geplanten Auslauf der Ausproduktion zum 31.05.2021 ausgesprochen. Hiervon ausgenommen ist das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, der den Vertrieb für das Ziehwerk übernimmt. Dieser wird nicht bis zum Auslauf der Ausproduktion benötigt, sondern nur bis zum 31.12.2020.

IV. Sozialauswahl

Die Betriebsparteien stimmen überein, dass aufgrund der Schließung des Betriebes und der damit verbundenen Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse, eine Sozialauswahl nicht durchzuführen ist.

…“.

Der Interessenausgleich enthält insgesamt 3 Namenslisten. In der ersten Liste werden 107 Arbeitnehmer namentlich aufgeführt, deren Arbeitsverhältnis zum nächst zulässigen Termin i. S. v. § 113 InsO gekündigt werden sollte. In der zweiten Liste, die auch den Namen des Klägers enthält, werden 190 Arbeitnehmer genannt, die für die Durchführung der Ausproduktion vorgesehen waren und daher eine Kündigung zum 31. Mai 2021 erhalten sollten. In der dritten Liste werden schließlich 40 Arbeitnehmer aufgeführt, denen bereits auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 gekündigt worden war und die entweder gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten, weil die Klagefrist noch nicht abgelaufen war. Diesen sollte vorsorglich erneut gekündigt werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Interessenausgleich vom 29. Juni 2020 (Bl. 26 – 37 d. A.) ergänzend Bezug genommen.

Unmittelbar nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs erstatte der Beklagte am 29. Juni 2020 eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit F und sprach sodann – soweit keine behördlichen Zustimmungen erforderlich waren – gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern Kündigungen aus. Das Arbeitsverhältnis des Klägers kündigte er mit Schreiben vom 29. Juni 2020 zum 31. Mai 2021. Die Kündigung ist dem Kläger am 02. Juli 2020 zugegangen.

Mit Kaufvertrag vom 22. Februar 2021 veräußerte der Beklagte das Walzwerk, die Instandhaltung und Verwaltung an ein G der Unternehmen H AG und I Group. Bei diesen Unternehmen handelte es sich um Hauptkunden der Insolvenzschuldnerin, mit denen ebenfalls Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin bis zu 31. Mai 2021 geschlossen worden waren. Der Kaufvertrag wurde am 01. Juli 2021 vollzogen. Nicht erworben wurde das Betriebsgrundstück. Dieses wurde von der Stadt J gekauft, die den Betriebserwerbern ein Erbbaurecht eingeräumt hat.

Mit seiner am 21. Juli 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Dabei hat er neben der Klage gegen die Kündigung vom 29. Juni 2020 eine Feststellungsklage nach § 256 ZPO erhoben. Er hat bestritten, dass der Betrieb der Insolvenzschuldnerin tatsächlich zum 31. Mai 2021 stillgelegt werden soll. Es würden nicht nur bestehende Aufträge abgewickelt, sondern auch neue Aufträge angenommen und neue Projekte aufgelegt. Der Beklagte trage auch nichts dazu vor, dass er Lieferverträge mit eigenen Lieferanten oder Kunden gekündigt hätte. Weiterhin habe er auch keine Miet-, Pacht- oder Nutzungsverträge gekündigt. Die Anhörung des Betriebsrates sei unwirksam. Bei Einleitung des Anhörungsverfahrens mit Schreiben vom 18. Juni 2020 habe eine Betriebsstilllegung noch gar nicht festgestanden, da erst auf der Sitzung des Gläubigerausschusses am 24. Juni 2020 entschieden werden sollte, wie es mit dem Betrieb weitergehe. Daneben hat der Kläger in der Klageschrift mitgeteilt, dass er am 26. Mai 2020 die Feststellung einer Schwerbehinderung beantragt habe und sich auf den besonderen Kündigungsschutz berufen.

Der Beklagte hat nach Zustellung der Klageschrift vorsorglich beim Inklusionsamt die Zustimmung zu einer erneuten Kündigung beantragt. Nachdem das Inklusionsamt die Zustimmung mit Bescheid vom 19. August 2020 erteilt hatte, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 20. August 2020 erneut zum 31. Mai 2021. Die Kündigung hat der Beklagte mit seiner Klageerwiderung vom 08. September 2020 in den Prozess eingeführt.

Im Zustimmungsbescheid des Inklusionsamtes ist festgehalten, dass der Antrag des Klägers auf Feststellung einer Schwerbehinderung abgelehnt und der dagegen gerichtete Widerspruch mit Bescheid vom 30. Juli 2020 zurückgewiesen wurde.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 nicht beendet wird;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht;

3. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder zu 2. den Beklagten zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Endkontrolleur weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Dies werde vorliegend nach § 125 InsO vermutet. Eine Sozialauswahl sei entbehrlich gewesen, weil allen Arbeitnehmern gekündigt worden sei. Jedenfalls ergebe sich im Hinblick auf den Kläger die Entbehrlichkeit einer Sozialauswahl aus dem Umstand, dass sämtliche Arbeitsverhältnisse spätestens zum 31. Mai 2021 gekündigt worden seien. Die Betriebsratsanhörung sei mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbunden worden.

Mit Urteil vom 13. April 2021 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Anträge seien insgesamt zulässig. Gegen die Zulässigkeit des allgemeinen Feststellungsantrags bestünden im Hinblick auf die weitere Kündigung vom 20. August 2020 keine rechtlichen Bedenken. Die Klage sei jedoch unbegründet. Die Kündigung vom 29. Juni 2020 sei durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, bedingt. Die Stilllegung eines Betriebes sei bereits nach § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG ein dringendes betriebliches Erfordernis, ohne dass es der Vermutung nach § 125 InsO bedürfe. Eine Kündigung wegen einer beabsichtigten Stilllegung des Betriebes könne der Insolvenzverwalter erklären, wenn die betrieblichen Umstände der Betriebsstilllegung greifbare Formen angenommen haben und eine betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertige, dass bis zum Ablauf der Kündigungsfrist die Stilllegung durchgeführt sein wird. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Darüber hinaus werde vorliegend nach § 125 InsO vermutet, dass dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen. Eine Sozialauswahl sei jedenfalls mit Blick auf den Kläger entbehrlich gewesen, da sämtliche Arbeitsverhältnisse spätestens zum 31. Mai 2021 gekündigt wurden. Die Kündigung sei auch nicht wegen einer fehlerhaften Anhörung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG oder nach § 17 Abs. 2 KSchG i. V. m. § 134 BGB unwirksam. Nach dem Bescheid des Inklusionsamtes ergebe sich schließlich kein Anhaltspunkt für eine festgestellte Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers. Da die Kündigung vom 29. Juni 2020 wirksam sei, komme es auf die Wirksamkeit der weiteren, vorsorglich ausgesprochenen Kündigung vom 20. August 2020 nicht an.

Gegen das ihm am 20. April 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 05. Mai 2021 Berufung eingelegt und diese nach Fristverlängerung bis zum 20. Juli 2021 mit einem am 20. Juli 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. In der Berufungsbegründung hat der Kläger einen auf die Kündigung vom 29. Juni 2020 bezogenen Kündigungsschutzantrag sowie hilfsweise einen Antrag auf Wiedereinstellung angekündigt. Den allgemeinen Feststellungsantrag hat er nicht weiter verfolgt.

Der Kläger ist der Ansicht, es seien keinerlei Aktivitäten des Beklagten ersichtlich, die auf eine endgültige Stilllegungsabsicht hindeuten könnten. Die Produktion sei bis zum 31. Mai 2021 in gleichem Umfang fortgeführt worden. Tatsächlich sei nach wie vor mit Interessenten über eine Veräußerung des Betriebes bzw. von Betriebsteilen verhandelt worden. Es handele sich um eine „Kündigung auf Vorrat“ für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen. Jedenfalls könne er aufgrund der geänderten Verhältnisse seine Wiedereinstellung beanspruchen. Der Beklagte habe wegen der Weiterführung des Walzwerkes teilweise Kündigungen „zurückgenommen“ bzw. Beschäftigten den Neuabschluss eines Arbeitsvertrages angeboten. Für ihn sei nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien dies geschehen sei. Zwar sei er zuletzt im Ziehwerk beschäftigt gewesen. Jedoch sei er im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit auch im Walzwerk tätig gewesen. Die Tätigkeiten würden sich nicht unterscheiden.

Nachdem die Kammer die Parteien darauf hingewiesen hat, dass neben der Kündigung vom 29. Juni 2020 noch eine Kündigung vom 20. August 2020 existiert, die ebenfalls zum 31. Mai 2021 ausgesprochen wurde, hat der Kläger erstmals in der Berufungsinstanz diese Kündigung mit einem Antrag gem. § 4 S. 1 KSchG erfasst.

Der Kläger beantragt zuletzt, das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 10. März 2021 – 5 Ca 2825/20 – abzuändern und

1. festzustellen, dass das zwischen dem Kläger und der Schuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 noch durch die Kündigung des Beklagten vom 20.08.2020 aufgelöst worden ist;

2. hilfsweise den Beklagten zu verurteilen, sein Angebot auf Abschluss eines Arbeitsvertrages als Verlader-Endkontrolle oder an der Richtpresse U im Walzwerk bei einer monatlichen Bruttovergütung i. H. v. derzeit 4.071,00 € bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35,0 Stunden unter Anrechnung der bisherigen Betriebszugehörigkeit seit dem 05.12.2011 anzunehmen;

3. vorsorglich, das Urteil des Arbeitsgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Ansicht, der betriebsbedingte Kündigungsgrund werde nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO vermutet. Da das Gesetz eine tatsächliche Vermutung aufstelle, müsse der Kläger gem. § 292 S. 1 ZPO das Gegenteil beweisen. Hierzu sei der Vortrag des Klägers nicht geeignet. Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung sei er entschlossen gewesen, den gesamten Betrieb endgültig stillzulegen. Die entsprechende Entscheidung habe der Gläubigerausschuss in seiner Sitzung vom 24. Juni 2020 getroffen. Wenn der Wortlaut des Protokolls möglicherweise missverstanden werden könnte, müsse man berücksichtigen, dass der Protokollführer kein Jurist, sondern Ökonom sei. Die Verhandlungen mit den damaligen Interessenten seien am 28./29. Juni 2020 für gescheitert erklärt und abgebrochen worden. Die H AG habe erst am 31. Juli 2020 mitgeteilt, dass sie sich eventuell den Erwerb von Teilen des Geschäftsbetriebes vorstellen könne. Eine Vertraulichkeitsvereinbarung zur Durchführung einer Due-Diligence-Prüfung sei am 07. August 2020 unterzeichnet worden. Der erste Entwurf eines sog. „Letter of Intent“ sei bei ihm am 07. Oktober 2020 eingegangen und am 20./21. Oktober geschlossen worden. In der Zeit bis Oktober 2020 habe die H AG einen Partner für ein G gesucht. Da dieses von diversen kartellrechtlichen Genehmigungen abhängig gewesen sei, sei die spätere Erwerberin erst am 20. November 2020 gegründet und am 30. November 2020 ins Handelsregister eingetragen worden.

Der hilfsweise gestellte Antrag auf Wiedereinstellung sei bereits unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Die Prognose der Betriebsstilllegung habe sich für den Bereich des Ziehwerkes, welchem der Kläger zugeordnet sei, nicht als unzutreffend herausgestellt. Im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers komme ein Wiedereinstellungsanspruch auch nur bei Vollzug eines Betriebsübergangs vor Ablauf der Kündigungsfrist in Betracht. Der Betriebsteilübergang sei vorliegend aber erst am 01. Juli 2021 vollzogen worden. Zudem habe er sich im Kaufvertrag zur Umsetzung eines Erwerberkonzeptes verpflichtet und hierzu mit dem Betriebsrat einen weiteren Interessenausgleich vom 17./18. Dezember 2020 geschlossen. Auf der Grundlage dieses Interessenausgleichs hat der Beklagte das Arbeitsverhältnis unstreitig am 25. Mai 2021 erneut gekündigt. Diese Kündigung hat der Kläger mit einer gesonderten Kündigungsschutzklage angegriffen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis ist weder durch die Kündigung des Beklagten vom 29. Juni 2020 noch durch die Kündigung vom 20. August 2020 aufgelöst worden. Die Kündigungen sind rechtsunwirksam, da sozial ungerechtfertigt i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG.

A) Die Berufung ist nicht bereits deshalb unbegründet, weil das Arbeitsgericht den allgemeinen Feststellungsantrag abgewiesen und der Kläger diesen in der Berufungsinstanz zumindest nicht ausdrücklich weiterverfolgt hat. Mit der Abweisung des allgemeinen Feststellungsantrags ist vorliegend nicht rechtskräftig festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund anderer Beendigungstatbestände als der Kündigung vom 29. Juni 2020 aufgelöst ist.

I. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes muss der Feststellungsantrag nach § 256 ZPO klar vom Kündigungsschutzantrag nach § 4 S. 1 KSchG abgegrenzt werden. Beide unterscheiden sich dadurch, dass der Feststellungsantrag nach § 256 ZPO die Feststellung zum Gegenstand hat, dass das Arbeitsverhältnis bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (zunächst erster Instanz) fortbesteht. Dagegen wird bei der Kündigungsschutzklage mit einem Klageantrag nach näherer Maßgabe des § 4 S. 1 KSchG das Bestehen des Arbeitsverhältnisses bezogen auf den Kündigungstermin beurteilt (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13. März 1997 – 2 AZR 512/96 -, Rn. 15, juris; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Oktober 2002 – 2 AZR 622/01 -, Rn. 31, juris). Durch eine Kündigungsschutzklage sind daher in der Regel auch solche Auflösungstatbestände mitangegriffen, die zu einem früheren oder demselben Termin wirken sollen. Eine Klage nach § 4 S. 1 KSchG ist auch auf die Feststellung gerichtet, dass zum vorgesehenen Auflösungszeitpunkt zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis noch bestanden hat. Dies setzt voraus, dass es eben bis zu diesem Auflösungszeitpunkt – einschließlich seiner selbst – durch keinen anderen Tatbestand geendet hat (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Dezember 2014 – 2 AZR 163/14 -).

II. Vorliegend wurde die Kündigung vom 29. Juni 2020 zum 31. Mai 2021 erklärt. Mit seiner gegen diese Kündigung gerichteten Kündigungsschutzklage macht der Kläger also geltend, dass das Arbeitsverhältnis bis zu diesem Zeitpunkt noch bestanden hat. Die letzte mündliche Verhandlung in der ersten Instanz hat demgegenüber am 13. April 2021 und damit aufgrund der extrem langen Kündigungsfrist vor dem vorgesehenen Beendigungstermin stattgefunden. Durch die Berufung gegen das den Kündigungsschutzantrag abweisende Urteil macht der Kläger demnach auch geltend, dass das Arbeitsverhältnis über den Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz fortbesteht. Damit hat er das arbeitsgerichtliche Urteil aber auch im Hinblick auf den abgewiesenen Feststellungsantrag nach § 256 ZPO rechtzeitig angegriffen.

B) Die Berufung ist auch nicht deshalb unbegründet, weil die Wirksamkeit der ebenfalls zum 31. Mai 2021 erklärten Kündigung vom 20. August 2020 nach § 7 KSchG fingiert würde. Der Kläger hat gegen sie rechtzeitig innerhalb der Frist des § 4 Satz 1 KSchG Klage erhoben.

a) Will ein Arbeitnehmer geltend machen, eine schriftliche Kündigung sei sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam, muss er gemäß § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach ihrem Zugang Klage auf die Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch sie nicht aufgelöst worden ist. Wird die Unwirksamkeit der Kündigung nicht rechtzeitig geltend gemacht, gilt diese gemäß § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam.

b) Einen dem Wortlaut von § 4 Satz 1 KSchG entsprechenden Antrag hat der Kläger gegen die Kündigung vom 20. August 2020 erstmals in der Berufungsinstanz mit Schriftsatz vom 23. November 2022 angekündigt. Zu diesem Zeitpunkt war die Klagefrist von drei Wochen längst verstrichen. Dennoch hat der Kläger die Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG gewahrt. Ob dies schon darauf beruht, dass der Kläger bereits in der Klageschrift einen allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO angekündigt hatte, erscheint zumindest zweifelhaft. Denn Streitgegenstand des allgemeinen Feststellungsantrages nach § 256 ZPO ist regelmäßig der Bestand des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Von ihm werden daher regelmäßig keine Beendigungstatbestände erfasst, die das Arbeitsverhältnis erst zu einem späteren Zeitpunkt beenden. Vorliegend war die Kündigung vom 20. August 2020 zum 31. Mai 2021 erklärt worden, während die letzte mündliche Verhandlung in der ersten Instanz am 13. April 2021 stattgefunden hat. Dass das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt noch bestanden hat, war zwischen den Parteien unstreitig. Letztlich kommt es hierauf aber ebenso wenig an, wie auf den Umstand, dass der Kläger den allgemeinen Feststellungsantrag in der Berufungsinstanz nicht weiterverfolgt hat. Denn aufgrund des Antrags nach § 4 Satz 1 KSchG, der sich gegen die ordentliche Kündigung vom 29. Juni 2020 richtete, ist auch die Kündigung vom 20. August 2020 in die Berufungsinstanz gelangt. Aufgrund der Klage gegen die Kündigung vom 29. Juni 2020 war erkennbar, dass der Kläger auch andere Beendigungstatbestände nicht gegen sich gelten lassen wollte, die eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses noch vor oder bis zu dem mit dieser Kündigung angestrebten Termin bewirken könnten. Die Klage gegen die Kündigung vom 29. Juni 2020 konnte nur dann Erfolg haben, wenn das Arbeitsverhältnis bis zum 31. Mai 2021 auch nicht durch einen anderen Auflösungstatbestand – etwa eine weitere Kündigung – beendet wurde. Damit war für den Beklagten erkennbar, dass in der Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung vom 29. Juni 2020 zugleich ein Angriff gegen die ebenfalls zum 31. Mai 2021 erklärte Kündigung vom 20. August 2020 liegt. Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Beklagte am 25. Mai 2021 eine erneute Kündigung erklärt hat, die der Kläger mit einer weiteren Kündigungsschutzklage angegriffen hat. Es sind daher keinerlei Umstände ersichtlich, dass er den Gegenstand der vorliegenden Kündigungsschutzklage auf die Wirksamkeit der Kündigung vom 29. Juni 2020 beschränken und die Kündigung vom 20. August 2020 hinnehmen wollte. Vielmehr musste der Beklagte davon ausgehen, dass der Kläger sich mit seiner Klage gegen die Kündigung vom 29. Juni 2020 zugleich gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses durch mögliche andere Tatbestände bis zu dem in der angegriffenen Kündigung vorgesehenen Auflösungstermin wendet (vgl. hierzu Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18. Dezember 2014 – 2 AZR 163/14 -).

c) Ob es in dieser Konstellation erforderlich ist, dass der Arbeitnehmer die nachfolgende Kündigung ausdrücklich mit einem Antrag gemäß § 4 S. 1 KSchG erfasst und ob dies nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz möglich ist, hat das Bundesarbeitsgericht bislang offen gelassen (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. September 2013 – 2 AZR 682/12 -; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18 Dezember 2014 – 2 AZR 163/14 -; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Mai 2018 – 2 AZR 67/18 -). Allerdings hat der zweite Senat im Urteil vom 24. Mai 2018 ausgeführt, dass er dazu neige, dies zu bejahen. Gegebenenfalls wäre die Pflicht des Gerichts zur materiellen Prozessleistung nach § 139 ZPO zu beachten. Beriefe sich der Arbeitgeber im Prozess auf eine weitere Kündigung, die vom Streitgegenstand der gegen die erste Kündigung angebrachten Kündigungsschutzklage erfasst ist, und gäbe der Arbeitnehmer nicht zu erkennen, die Folgekündigung gegen sich gelten lassen zu wollen, hätte das Gericht darauf hinzuwirken, dass er sie ausdrücklich mit einem gesonderten Antrag angreift.

d) Geht man davon aus, dass die nachfolgende Kündigung ausdrücklich mit einem Antrag nach § 4 S. 1 KSchG angegriffen werden muss und dies nur bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz möglich ist, läge vorliegend ein Verfahrensfehler vor. Denn das Arbeitsgericht hat weder einen Hinweis nach § 6 S. 2 KSchG erteilt, noch hat es entsprechend § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO darauf hingewirkt, dass die sachdienlichen Anträge gestellt werden. Dieser Verfahrensfehler rechtfertigt es indes nicht, das Verfahren entgegen § 68 ArbGG an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen um dem Kläger dort eine entsprechende Antragstellung zu ermöglichen. Der Fehler kann vielmehr in der Berufungsinstanz dadurch korrigiert werden, dass dem Kläger die Möglichkeit gewährt wird, die Folgekündigung noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz mit einem Antrag nach § 4 S. 1 KSchG zu erfassen.

C) Die Kündigung vom 29. Juni 2020 ist nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen, bedingt.

I. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts ist die Betriebsbedingtheit der Kündigung vorliegend nicht gem. § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO zu vermuten.

1. Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt ist, wenn eine Betriebsänderung i. S. v. § 111 BetrVG geplant ist und zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande kommt, in dem die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind. Die Vermutungswirkung tritt also nicht allein durch den Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste ein, sondern nur dann, wenn die objektiven Voraussetzungen einer geplanten Betriebsänderung gemäß § 111 BetrVG vorliegen (Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen), Urteil vom 19. September 2007 – 2 Sa 1844/06 –).

Die Darlegungs- und Beweislast der tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung (Vermutungsbasis) trifft dabei den Insolvenzverwalter. Dieser hat daher substantiiert darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass zum einen tatsächlich eine Betriebsänderung geplant war, die streitbefangene Kündigung aufgrund dieser Betriebsänderung ausgesprochen wurde und die Betriebspartner einen Interessenausgleich mit namentlicher Bezeichnung der zu kündigenden Arbeitnehmer abgeschlossen haben (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Mai 2002 – 8 AZR 319/01 -; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26. April 2007 – 8 AZR 695/05 -; Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 23. Januar 2003 – 11 (12) Sa 1057/02 -; Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 19. September 2007 – 2 Sa 1844/06 -; Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 19. März 2010 – 10 Sa 754/09 -; APS/Künzl, 6. Aufl. 2021, InsO § 125 Rn. 22a; vgl. zu § 1 Abs. 5 KSchG auch Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17. März 2016 – 2 AZR 182/15 -; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Juli 2012 – 2 AZR 386/11 -).

2. Gemäß § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG stellt insbesondere die Stilllegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen eine Betriebsänderung dar. Unter einer Betriebsstillegung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und zugleich ihren sichtbaren Ausdruck darin findet, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Weiterverfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne aufzugeben. Eine Betriebsstilllegung setzt den ernstlichen und endgültigen Entschluss des Unternehmers zur Aufgabe des Betriebszwecks voraus, die nach außen in der Auflösung der Betriebsorganisation zum Ausdruck kommt. Die bloße Einstellung der Produktion bedeutet noch keine Betriebsstillegung; es muss die Auflösung der dem Betriebszweck dienenden Organisation hinzukommen (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12. Februar 1987 – 2 AZR 247/86 –).

Bei der Auflösung der Betriebsorganisation im Falle einer Betriebsstilllegung ist der Arbeitgeber nicht gehalten, eine Kündigung erst nach deren Durchführung auszusprechen. Vielmehr kann er die Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung bereits dann erklären, wenn die betrieblichen Umstände einer Betriebsstilllegung schon “greifbare Formen” angenommen haben und eine vernünftige, betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass zum Zeitpunkt des Kündigungstermins die Stilllegung durchgeführt sein wird. Hingegen fehlt es an einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs steht und gleichwohl wegen Betriebsstilllegung kündigt. Ist andererseits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Betriebsstilllegung „endgültig geplant und bereits eingeleitet“, behält sich der Arbeitgeber aber eine Betriebsveräußerung vor, falls sich eine Chance biete, und gelingt dann später doch noch eine Betriebsveräußerung, bleibt es bei der sozialen Rechtfertigung der Kündigung (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29. September 2005 – 8 AZR 647/04 –).

3. Beruft sich der Arbeitnehmer im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses darauf, der Betrieb sei tatsächlich nicht stillgelegt sondern an einen neuen Inhaber übertragen worden und es habe auch keinen ernsthaften Willensentschluss zur Stilllegung gegeben, so hat der Arbeitgeber die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen; es ist seine Aufgabe, vorzutragen und nachzuweisen, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt ist. An der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast ändert sich im Streitfall auch durch § 125 InsO nichts. Die in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO enthaltene Vermutung der sozialen Rechtfertigung kommt – wie oben dargelegt – nur zum Tragen, wenn der Insolvenzverwalter eine ernsthaft geplante Betriebsänderung und die Existenz des Interessenausgleichs nebst Namensliste dargelegt und gegebenenfalls bewiesen hat.

4. Hiervon ausgehend sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutung nicht sämtlich erfüllt. Denn der Beklagte hat nicht zur Überzeugung der Kammer nachgewiesen, dass er zum Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs am 29. Juni 2020 nicht nur die Einleitung einer „Ausproduktion“ sondern darüber hinaus auch die Stilllegung des ganzen Betriebes der Insolvenzschuldnerin ernstlich und endgültig geplant und bereits eingeleitet hatte.

Nach dem Inhalt des Interessenausgleichs sollte der Betrieb der Insolvenzschuldnerin zum 31. Mai 2021 stillgelegt werden. Bis spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte eine Ausproduktion, d. h. eine Produktion mit deutlich geringerer Auslastung und mit einer deutlich verringerten Belegschaft stattfinden. Allen für die Ausproduktion nicht benötigten Mitarbeitern sollte unmittelbar nach Zustandekommen des Interessenausgleichs bzw. soweit die vorherige Zustimmung einer Behörde erforderlich ist, unmittelbar nach erteilter Zustimmung unter Beachtung der maximalen Kündigungsfrist von 3 Monaten nach § 113 S. 2 InsO gekündigt werden. Die für die Ausproduktion benötigten Mitarbeiter sollten demgegenüber eine Kündigung zum 31. Mai 2021 erhalten.

Damit regelt der Interessenausgleich als einheitliche unternehmerische Maßnahme eine beabsichtigte Stilllegung des ganzen Betriebes i. S. v. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG, die allerdings in zwei Schritten vollzogen werden sollte. In einem ersten Schritt sollte eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG in Form einer wesentlichen Einschränkung des Betriebes durchgeführt werden. Eine solche kann auch in einem reinen Personalabbau bestehen, wenn – wie vorliegend – die Zahlenwerte des § 17 KSchG überschritten werden. Der so eingeschränkte Betrieb sollte sodann über mehrere Monate hinweg fortgeführt und in einem zweiten Schritt zum 31. Mai 2021 stillgelegt werden.

5. Vorliegend ist die Kammer zwar zu der Überzeugung gelangt, dass der Beklagte ernsthaft und endgültig entschlossen war, eine „Ausproduktion“, d. h. vorliegend eine Produktion mit deutlich geringerer Auslastung und mit einer deutlich verringerten Belegschaft umzusetzen und zu diesem Zweck eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG in Form einer wesentlichen Einschränkung des Betriebes durchzuführen. Allerdings beruht die streitgegenständliche Kündigung nicht auf dieser Betriebsänderung, da der Kläger nach dem unstreitigen Sachverhalt für die „Ausproduktion“ vorgesehen war und auch entsprechend beschäftigt wurde.

Dagegen ist die Kammer nicht zu der Überzeugung gelangt, dass der Beklagte ernsthaft und endgültig entschlossen war, den so eingeschränkten Betrieb zum 31. Mai 2021 stillzulegen. Jedenfalls war eine geplante Betriebsstilllegung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht eingeleitet.

a) Soweit der Beklagte vorträgt, der Gläubigerausschuss habe in der Sitzung vom 24. Juni 2020 eine geordnete Betriebsstillegung nach einer Phase der Ausproduktion beschlossen, lässt sich dies dem Sitzungsprotokoll vom 24. Juni 2020 nicht entnehmen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Beklagte zunächst über den aktuellen Sachstand des B-Prozesses berichtet. Dabei stellten die Anwesenden einvernehmlich fest, dass „derzeit“ kein annahmefähiges Angebot zur Übernahme des Geschäftsbetriebes vorlag. Sodann wurde erörtert, dass bei einer unveränderten Fortführung des Geschäftsbetriebes für die Monate Juli und August mit einem Verlust von ca. 300 TEUR pro Monat gerechnet werden müsse und eine vollumfängliche Fortführung des Geschäftsbetriebes daher nur möglich sei, wenn ein Interessent die anfallenden Verluste zu wesentlichen Teilen übernimmt und hierzu einen entsprechenden Betrag hinterlegt. Vor diesem Hintergrund wurde dann beschlossen, dass eine Ausproduktion für 11 Monate bis zum 31. Mai 2021 eingeleitet und vorgenommen werden soll. Hierzu sollten noch im Monat Juni die notwendigen Maßnahmen, einschließlich des Abschlusses eines weiteren Sozialplanes und Interessenausgleichs sowie der Kündigung und Freistellung der für die Ausproduktion nicht notwendigen Arbeitnehmer getroffen werden. Das Wort Stilllegung oder Betriebsschließung findet sich an keiner Stelle des Beschlusses. Vielmehr verhält sich der Beschluss ausschließlich zur Einleitung der Ausproduktion und der Kündigung und Freistellung der für die Ausproduktion nicht benötigten Arbeitnehmer. Was mit dem Betrieb der Insolvenzschuldnerin nach dem 31. Mai 2021 passieren sollte, bleibt dagegen völlig offen. Allein aus dem Umstand, dass die Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 zeitlich befristet sein sollte, lässt sich nicht schließen, dass der Betrieb anschließend stillgelegt werden sollte. Der Beschluss lässt gleichermaßen die Möglichkeit offen, dass zwar die Insolvenzschuldnerin ihre eigenen betrieblichen Aktivitäten zum 31. Mai 2021 einstellt, der Betrieb aber anschließend von einem Betriebserwerber fortgeführt werden soll. Dem Beschluss lässt sich auch nicht entnehmen, dass im Hinblick auf eine beschlossene Betriebsstilllegung sämtlichen Arbeitnehmern gekündigt werden sollte. Auch hier verhält sich der Beschluss ausschließlich zur Kündigung und Freistellung der nicht für die Ausproduktion benötigten Arbeitnehmer. Schließlich lässt sich dem Protokoll auch nicht entnehmen, dass der Gläubigerausschuss den B-Prozess als endgültig gescheitert angesehen hätte. Vielmehr wurde festgestellt, dass „derzeit“ kein annahmefähiges Angebot vorliegt und daher aufgrund der zu erwartenden Verluste bei einer vollumfänglichen Fortführung des Geschäftsbetriebs eine „Ausproduktion“, d. h. eine Produktion mit deutlich geringerer Auslastung und mit einer deutlich verringerten Belegschaft umgesetzt werden sollte.

Eine ernstliche und endgültige Entscheidung, die Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern und die Betriebsorganisation aufzulösen, lässt sich dem Beschluss des Gläubigerausschusses damit nicht entnehmen. Soweit der Beklagte geltend macht, dass Protokoll sei möglicherweise missverständlich formuliert, da der Protokollführer kein Jurist sei, muss er sich entgegenhalten lassen, dass jedenfalls er selbst Volljurist ist. Hätte das Protokoll die gefassten Beschlüsse nicht zutreffend wiedergegeben, hätte er auf eine Berichtigung hinwirken können und müssen.

b) Der Beklagte hat entgegen der ihn treffenden Darlegungslast auch ansonsten keine ausreichenden Umstände für die Annahme einer ernsthaft geplanten und eingeleiteten Betriebsstilllegung vorgetragen.

aa) Für eine ernsthafte und endgültige Stilllegungsabsicht sprechen vorliegend sicherlich der Abschluss des Interessenausgleichs und Sozialplans und die erstattete Massenentlassungsanzeige. Dies macht es aber nicht entbehrlich, die weiteren Umstände zu würdigen, die – wie die alsbaldige Wiedereröffnung bzw. Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit durch einen Betriebserwerber – gegen einen ernsthaften, endgültigen Stilllegungsentschluss sprechen. Anhand der Umstände des Einzelfalles ist zu prüfen, ob die im Zusammenhang mit der behaupteten Stilllegungsabsicht getroffenen Maßnahmen im Zeitpunkt der Kündigung bereits „greifbare Formen“ angenommen hatten, die ihrerseits wiederum einen Rückschluss auf die Ernsthaftigkeit des Stilllegungsentschlusses zulassen.

bb) Der Umstand, dass der Beklagte nicht nur den Arbeitnehmern, die für die Ausproduktion nicht benötigt wurden, sondern allen Arbeitnehmern gekündigt hat, spricht nicht für eine ernsthafte Stilllegungsabsicht, weil es gerade um die Frage geht, ob diese Kündigungen sozial gerechtfertigt sind (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 –). Auch die tatsächlich umgesetzte Einleitung der Ausproduktion, d. h. einer Produktion mit deutlich geringerer Auslastung und mit einer deutlich verringerten Belegschaft ist kein ausschlaggebendes Indiz für einen ernsthaften Stilllegungsentschluss. Insbesondere kann hierin noch nicht die Einleitung der Betriebsstilllegung gesehen werden. Denn die Herabsetzung der Produktionskapazität und die damit einhergehende Verringerung der Belegschaftsstärke können auch dazu dienen, den Betrieb verkaufsfähig zu machen oder dazu, in Absprache mit einem Betriebserwerber angepasst an ein bestimmtes Produktionsvolumen nur bestimmte Leistungsträger zu übernehmen (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 –). Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Betriebsparteien nach dem Interessenausgleich davon ausgegangen sind, bei einem gleichzeitigen Ausspruch aller Kündigungen stehe ihnen abweichend von § 1 Abs. 3 KSchG eine freie Auswahlbefugnis zu und die Auswahl der im Rahmen der Ausproduktion weiter zu beschäftigenden Arbeitnehmer könne nach Leistungsgesichtspunkten erfolgen. Zum anderen wurden die Produktionskapazitäten des Walzwerkes auf den Bedarf ausgewählter Kunden, u. a. dem Bedarf der späteren Betriebserwerber, angepasst. Auf diese Weise wurde der Betrieb für diese Kunden, die ja auf die Produkte der Insolvenzschuldnerin angewiesen waren, weil sie diese Produkte nicht kurzfristig und/oder nicht in der notwendigen Qualität von anderen Lieferanten beziehen konnten, zumindest interessant gemacht.

Hinzu kommt, dass der Bereich des Ziehwerkes von der Einleitung der Ausproduktion überhaupt nicht betroffen war. Nach dem im Interessenausgleich festgehaltenen Personalbedarf sollten dort anlässlich der Einleitung der Ausproduktion keine Arbeitsplätze entfallen. Vielmehr sollte dort mit einer unveränderten Anzahl von Mitarbeitern unverändert weiter produziert werden. Ausweislich des Interessenausgleichs lag noch ein Auftragsbestand vor, der eine Auslastung bis zum 31. Dezember 2020 gesichert hat. Zusätzlich sollten über einen Vertriebsmitarbeiter neue Aufträge für den Bereich des Ziehwerks generiert werden.

cc) Auch die finanzielle Situation bei der Insolvenzschuldnerin ist kein Indiz für einen ernsthaften Stilllegungsentschluss. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bedeutet noch keine Betriebsstilllegung, weil der Insolvenzverwalter den Betrieb weiterführen kann. Demnach ist auch die zur Insolvenz führende Überschuldung grundsätzlich kein Indiz für eine Stilllegungsabsicht. Dies gilt vorliegend vor allem deshalb, weil der Beklagte unstreitig die Veräußerung des Betriebes angestrebt, also zunächst keine Stilllegung des Betriebes beabsichtigt hatte. Auch der Umstand, dass bis zur Sitzung des Gläubigerausschusses am 24. Juni 2020 noch kein annahmefähiges Angebot vorlag, spricht nicht zwangsläufig für die Ernsthaftigkeit eines anschließenden Stilllegungsentschlusses. Dass der Wunsch, einen Betrieb zu veräußern, sich nicht im ersten Anlauf verwirklichen lässt, drängt nicht zwingend den Schluss auf, dass der Arbeitgeber bzw. der Insolvenzverwalter nach dem ersten gescheiterten Versuch das Gegenteil – nämlich die endgültige Betriebsstilllegung – beabsichtigt (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 –).

dd) Soweit der Beklagte mit ausgewählten Kunden der Insolvenzschuldnerin Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin im Rahmen einer Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 geschlossen hat, genügt dies ebenfalls nicht für die Annahme, der Beklagte habe den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst, den Betrieb zum 31. Mai 2021 stillzulegen.

Allerdings liegt in der Regel ein starkes Indiz für einen ernstlichen und endgültigen Stilllegungsplan vor, wenn der Arbeitgeber den Stilllegungsbeschluss gegenüber Lieferanten, Kunden, Banken usw. bekannt gibt, weil ein Arbeitgeber, der die Betriebsfortführung oder Veräußerung ernsthaft ins Auge fasst, die Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten, Kunden, Banken etc. in der Regel nicht durch die Bekanntgabe einer Stilllegungsentscheidung gefährden will. Erst recht wird der Arbeitgeber langfristige Geschäftsbeziehungen nicht kündigen, wenn eine Betriebsveräußerung bzw. -fortführung beabsichtigt ist. Deshalb begründen organisatorische Vorkehrungen wie der Ausspruch von Kündigungen solcher Geschäftsbeziehungen ein starkes Indiz für einen ernsthaften Stilllegungsbeschluss (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 –).

In den Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin im Rahmen einer Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 kann vorliegend indes nicht die Bekanntgabe eines Stilllegungsbeschlusses gegenüber diesen Kunden gesehen werden. Allein aus dem Umstand, dass die Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 zeitlich befristet sein sollte, mussten die Kunden nicht zwingend schließen, dass der Betrieb anschließend stillgelegt wird. Denn die Einstellung der eigenen Betriebstätigkeit ist nicht mit einer Betriebsstilllegung gleichzusetzen. Der Hinweis auf ein Auslaufen der Produktion lässt vielmehr gleichermaßen die Möglichkeit offen, dass zwar die Insolvenzschuldnerin ihre eigenen betrieblichen Aktivitäten spätestens zum 31. Mai 2021 einstellt und die Kunden nicht weiter beliefert, der Betrieb aber anschließend von diesen Kunden oder einem anderen Betriebserwerber fortgeführt werden soll. Daneben ergibt sich aus dem Vortrag des Beklagten auch nicht, dass die entsprechenden Vereinbarungen bereits im Zeitpunkt der Kündigungserklärungen geschlossen waren. Im Interessenausgleich ist lediglich festgehalten, dass der Beklagte entsprechende Vereinbarungen „schließt“. Diese Formulierung spricht dafür, dass sie am 29. Juni 2020 noch nicht geschlossen waren.

Dass der Beklagte gegenüber Kunden, Banken, Energieversorgern oder Lieferanten Kündigungen ausgesprochen hat, wurde von ihm nicht vorgetragen. Ebenfalls wurde von ihm nicht behauptet, dass er nach § 103 Abs. 2 Satz 1 InsO die Erfüllung von Verträgen abgelehnt hat. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ausschließlich bereits vorhandene Aufträge noch abgearbeitet wurden. Vielmehr sollte die Insolvenzschuldnerin auch nach Abschluss des Interessenausgleichs und der Einleitung der Ausproduktion noch werbend tätig werden. So sollten ausweislich des Interessenausgleichs über einen Vertriebsmitarbeiter neue Aufträge für das Ziehwerk generiert werden.

ee) Schließlich ist auch nicht ansatzweise ersichtlich, dass der Beklagte Maßnahmen zur Auflösung der Betriebsorganisation und zur Veräußerung und Verwertung aller im Eigentum der Insolvenzschuldnerin stehenden Betriebsmittel für die Zeit nach der beabsichtigten Stilllegung ergriffen hätte.

c) Abgesehen von den getroffenen Maßnahmen zur Kündigung sämtlicher Arbeitnehmer sind damit keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, die auf eine ernsthaft und endgültig geplante Betriebsstilllegung hindeuten. Damit hatte die behauptete Stilllegungsabsicht im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung keine „greifbaren Formen“, die einen Rückschluss auf die Ernsthaftigkeit des Stilllegungsentschlusses zulassen, angenommen. Dem kann der Beklagte auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass es angesichts der erst zum 31. Mai 2021 geplanten Stilllegung noch nicht erforderlich gewesen sei, bereits Ende Juni 2020 konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Stilllegungsentscheidung einzuleiten. Vielmehr muss der Beklagte sich hier entgegenhalten lassen, dass auch die Kündigung der für die Ausproduktion vorgesehenen Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich war und er ohne Not vorzeitig gekündigt hat. Zwar sind der Arbeitgeber und auch der Insolvenzverwalter grundsätzlich nicht verpflichtet, mit dem Ausspruch der Kündigung bis zum letzten Tag vor Beginn der ordentlichen Kündigungsfrist zu warten. Vielmehr sind sie grundsätzlich berechtigt, schon vor diesem Zeitpunkt mit einer längeren als der gesetzlichen, tarif- oder einzelvertraglichen Kündigungsfrist zu kündigen. In der sogenannten vorzeitigen Kündigung liegt in der Regel ein Verzicht auf die gesetzliche Kündigungsfrist. Indessen kann eine längerfristige vorzeitige Kündigung im Falle einer betriebsbedingten Kündigung wegen einer beabsichtigten Betriebsstilllegung dem Erfordernis der „Dringlichkeit“ bzw. des Vorliegens „greifbarer Formen“ entgegenstehen. Im Falle einer betriebsbedingten Kündigung aufgrund einer geplanten und noch nicht durchgeführten Betriebsstilllegung ist das Erfordernis der „greifbaren Formen“ Ausfluss des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der „Dringlichkeit“ der betrieblichen Erfordernisse gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Greifbare Formen hat die geplante Betriebsstilllegung dann angenommen, wenn aufgrund einer vernünftigen, betriebswirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen ist, zum Zeitpunkt des Kündigungstermins sei mit einiger Sicherheit der Eintritt eines die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes gegeben. Diese Prognose ist indes nicht gerechtfertigt, wenn aufgrund der überlangen Zeit bis zur geplanten endgültigen Betriebsschließung noch gar keine halbwegs sichere Aussage darüber getroffen werden kann, ob möglicherweise doch noch ein Betriebsübergang stattfindet. Bei einer knapp einjährigen Vorlaufzeit zwischen der Unternehmerentscheidung und der geplanten Betriebsstilllegung können der Ausgang etwaiger Bemühungen für einen Unternehmensverkauf und damit der künftige Wegfall der Arbeitsplätze trotz der beschlossenen Einstellung der eigenen Betriebstätigkeit realistisch und bei vernünftiger wirtschaftlicher Betrachtungsweise noch nicht verlässlich prognostiziert werden. Wenn der Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung, wie vorliegend der Beklagte, die maßgebliche Kündigungsfrist von maximal 3 Monaten (§ 113 InsO) um nahezu das Vierfache überschreitet und sich zugleich einem möglichen Betriebsübergang nicht verschließt, falls doch noch ein Erwerber gefunden wird, ist die Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Vielmehr kann eine verlässliche Prognoseentscheidung über eine endgültige Betriebsstilllegung oder einen möglichen Betriebsübergang zu einem so frühen Zeitpunkt noch nicht getroffen werden. Dann liegen aber noch keine greifbaren Formen für eine Betriebsstilllegung und damit keine dringenden betrieblichen Erfordernisse vor (vgl. Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. November 2010 – 5 Sa 282/10 –; Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 04. Mai 2001 – 6 Sa 2799/00 -).

d) Soweit der Beklagte darauf hinweist, dass zumindest der (relativ kleine) Bereich des Ziehwerks tatsächlich stillgelegt worden sei, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen kann sich die Vermutung des § 125 InsO nur auf die Betriebsänderung beziehen, die Gegenstand des Interessenausgleichs ist. Eine Teilbetriebsstilllegung oder wesentliche Einschränkung des Betriebes ist aber etwas anderes als die Stilllegung des gesamten Betriebes. Nur letztere war Gegenstand des Interessenausgleichs. Zum anderen ist auch nicht ersichtlich, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung eine Teilstilllegung ernsthaft und endgültig geplant war. Jedenfalls hatte diese im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung keine greifbaren Formen angenommen. Vielmehr wurden im Bereich des Ziehwerks weiterhin Aufträge akquiriert und mit einer unveränderten Anzahl von Mitarbeitern unverändert weiter produziert. Auch ansonsten gab es im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung keine objektiven Anhaltspunkte, die auf einen ernsthaften Stilllegungsbeschluss hindeuten.

II. Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass dem Arbeitnehmer ggf. ein Anspruch auf Wiedereinstellung zusteht, wenn sich die Prognose des Arbeitgebers bezüglich der Betriebsstilllegung als fehlerhaft erweist. Denn der von einem möglichen Wiedereinstellungsanspruch vermittelte Schutz bleibt hinter dem des Kündigungsschutzgesetzes zurück. Insbesondere trägt der Arbeitnehmer, der einen Wiedereinstellungsanspruch geltend macht, die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Auch erlischt ein möglicherweise entstandener Wiedereinstellungsanspruch, wenn berechtigte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen, was der Fall sein kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsplatz schon mit einem anderen Arbeitnehmer besetzt und damit Dispositionen getroffen hat. Vor allem kommt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Wiedereinstellungsanspruch bei einer insolvenzbedingten Kündigung ohnehin nicht in Betracht, wenn der Betriebsübergang wie vorliegend erst nach dem Ablauf der Kündigungsfrist vollzogen wird (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. Februar 2012 – 8 AZR 693/10 –).

D) Das Arbeitsverhältnis ist auch nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 20. August 2020 zum 31. Mai 2021 aufgelöst worden. Auch im Zeitpunkt des Zugangs dieser Kündigung gab es keine objektiven Anhaltspunkte, die auf einen ernsthaften Stilllegungsbeschluss hindeuten. Vielmehr hatte sich nach dem Vortrag des Beklagten am 31. Juli 2020 die H AG als Teil des späteren Erwerber-G gemeldet und Interesse am Erwerb von Teilen des Geschäftsbetriebes geäußert. Am 07. August 2020 wurde sodann eine Vertraulichkeitsvereinbarung zur Durchführung einer Due Diligence Prüfung unterzeichnet, die letztlich auch zum Abschluss des Kaufvertrages führte. Damit kann zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 20. August 2020 nicht mehr von einer ernsthaften und endgültigen Stilllegungsentscheidung ausgegangen werden.

E) Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

Die Kammer hat die Revision nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

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