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Betriebsübergang – Berufen auf nicht erfolgten Betriebsübergang – Verwirkung

LAG Berlin-Brandenburg, Az.: 26 Sa 551/16, Urteil vom 16.06.2016

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. Januar 2016 – 37 Ca 8628/15 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31. März 2011 wegen eines Betriebsübergangs endete oder darüber hinaus weiterhin fortbestanden hat und -besteht.

Der Beklagte war bei der Klägerin in deren Berliner Betrieb beschäftigt. Die Klägerin ist im Bereich Industrieprodukte, insbesondere Holz- und Kunststoffprodukte tätig und verfügte in Deutschland über drei Produktionsstandorte, nämlich den Berliner Betrieb, einen in Oberstenfeld und einen in Thüringen. Der 1969 gegründete Berliner Betrieb war nach mehreren gesellschaftsrechtlichen Verschmelzungen 2006 von der Klägerin übernommen worden. Betriebsleiter war ab 1999 Herr D.. Die Klägerin führte den Betrieb als selbstständige Niederlassung. Sie war Mitglied im Arbeitgeberverband Holz Kunststoff Nord-Ost e.V. und wandte – wie schon ihre Rechtsvorgängerinnen – die für die Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie Berlin-Brandenburg geltenden Tarifverträge an. Zuletzt fertigte die Klägerin in Berlin Fassaden- und Balkonprofile mit 34 überwiegend langjährig Beschäftigten, von denen 27 in der Produktion tätig waren. Ein Betriebsrat war gebildet. Ferner existierte ein Gesamtbetriebsrat.

Am 28. Oktober 2010 schloss die Klägerin mit dem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich über die beabsichtigte Ausgliederung und Übertragung der betrieblichen Aktivitäten an den drei Produktionsstandorten auf eine neu zu gründende KG, die Industriewerke W. GmbH & Co. KG (im Folgenden: Industriewerke W.). Sämtliche Vermögensgegenstände einschließlich der Lizenzrechte sollten bei der Klägerin verbleiben. Einkauf, Vertrieb, Forschung und Entwicklung sollten in ihrem Namen durch die neue Gesellschaft besorgt werden. Ferner sollte die neue Gesellschaft die gesamte Produktion und sämtliche Beschäftigten einschließlich der Auszubildenden übernehmen. Die Finanzierung der neuen Gesellschaft sollte durch die Klägerin erfolgen und durch langfristige Verträge gesichert werden. Für den Bereich Produktion sollten Werkverträge und für die Bereiche Forschung, Entwicklung, Einkauf, Vertrieb und Finanzen Dienstleistungsverträge geschlossen werden. Nach § 4 des Interessenausgleichs gingen die Gesamtbetriebsparteien davon aus, dass durch die Umstrukturierung für die Beschäftigten keine Nachteile entstünden und daher ein Sozialplan nicht erforderlich sei.

Im Dezember 2010 wurde die Industriewerke W. mit Sitz in Oberstenfeld gegründet.

Gesellschafter und Geschäftsführer der Industriewerke W. waren mit denen der Klägerin identisch.

Im März 2011 schlossen die Klägerin und die Industriewerke W., vertreten durch die personenidentischen Geschäftsführer ihrer Komplementärinnen, einen Vertrag („Vereinbarung über Lohnfertigung und Geschäftsbesorgungsvertrag über Betriebsführung“) mit auszugsweise folgendem Inhalt:

„(…)A. Lohnfertigung

§ 1 Vertragsinhalt/Entgelt

Die Industriewerke W. führt die komplette Produktion der W.-Produkte an allen 3 inländischen Standorten ab dem 1. April 2011 in Lohnfertigung weiter. Dies umfasst insbesondere die Herstellung und Bearbeitung der folgenden Produkte nach den Vorgaben von W.:

Die Vergütung der von der Industriewerke W. erbrachten Leistungen erfolgt anhand der von der Industriewerke W. nachgewiesenen Lohnkosten (…) plus eines Aufschlags zu den Brutto-Lohnsummen von 3 %. Darüber hinaus hat die Industriewerke W. Anspruch auf Erstattung der gerechtfertigten Sachkosten, die im direkten Zusammenhang mit der Wertschöpfung entstehen…

Miete und/oder Pacht für die Nutzung der Produktionshallen und Maschinen sowie sonstiges Anlagevermögen ist von der Industriewerke W. nicht zu entrichten. Die mit der Produktion zusammenhängenden Nebenkosten (…) trägt W.…

§ 3 Gewährleistung des Lohnfertigers

Im Zusammenhang mit der Lohnfertigung gewährleisten die Industriewerke W. die Bearbeitung der betreffenden Ware sowie die Verarbeitung der Rohstoffe, Vorprodukte und Halbzeuge gemäß den Vorgaben von W.. Diese Vorgaben werden von der Industriewerke W. nicht überprüft. W. ist für diese allein verantwortlich.

Die Gewährleistung erfolgt nach den gesetzlichen Bestimmungen, wobei die Industriewerke W. im Falle eines Mangels der Ware nach ihrer Wahl zunächst nachliefern oder nachbessern …

§ 4 Eigentum und Gefahrübergang bei Lohnfertigung

An Ware für Lohnfertigung erwerben die Industriewerke W. zu keinem Zeitpunkt Eigentum. …

Entstehen durch die Lohnfertigung neue Produkte, sind die Parteien einig, dass das Eigentum daran W. zusteht bzw. von der Industriewerke W. an W. übertragen wird. …

Gehen bei der Industriewerke W. Ware, Rohstoffe, (Vor-)Produkte oder Halbzeuge für Lohnfertigung unter, werden sie beschädigt oder wertlos oder tritt eine sonstige Wertminderung ein, sind die Industriewerke W. gegenüber W. zum Ersatz des dadurch entstandenen Schadens verpflichtet.

§ 5 Haftung bei der Lohnfertigung

Die Industriewerke W. haften im Zusammenhang mit der Lohnproduktion gegenüber W. nach den Bestimmungen des Produkthaftungsgesetzes…

B. Betriebsführung im Übrigen

§ 6 Betriebsführung mittels Geschäftsbesorgungsvertrag

Die Industriewerke W./FHK übernehmen darüber hinaus für W. ab dem 1. April 2011 die Betriebsführung des gesamten Geschäftsbetriebs an allen drei inländischen Standorten. Insbesondere umfasst dies sämtliche in den folgenden Abteilungen zu erledigenden Arbeiten nach den Vorgaben von W.:

  • Einkauf
  • Vertrieb
  • Marketing
  • Finanzbuchhaltung
  • Forschung und Entwicklung sowie
  • Instandhaltung.

Der Auftrag zur Betriebsführung erstreckt sich auf alle Geschäfte und Maßnahmen, die dem Betriebsablauf und dem gewerblichen Zweck des Betriebes dienen…

§ 7 Handeln für Rechnung und im Namen von W. / Bevollmächtigung

Die Industriewerke W. handeln bei ihrer Tätigkeit gem. § 6, … ausschließlich für Rechnung und im Namen von W..

Insofern erteilt W. der Industriewerke W. Generalhandlungsvollmacht zur Vertretung von W. bei allen Rechtsgeschäften und Rechtshandlungen…

§ 8 Verpflichtung des Auftragnehmers Industriewerke W.

Die Industriewerke W./FHK erledigen und managen eigenverantwortlich die in § 6 aufgeführten Abteilungen an allen drei Standorten…

C. Allgemeine Bestimmungen

§ 12 Auskunftsrecht von W.

W. kann von der Geschäftsführung der Industriewerke W. jederzeit und in allen die Lohnfertigung und die Betriebsführung betreffenden Angelegenheiten Auskünfte verlangen. Im Hinblick auf die Betriebsführung gemäß Lit. B., nicht aber für Lit. A. dieses Vertrages (mit Ausnahme der Vorgaben für die Herstellung, Bearbeitung und Lieferung der Ware gemäß §§ 1, 2 und 3 Abs. 1), kann W. Richtlinien erlassen und Weisungen erteilen. Insbesondere kann W. bestimmen, welche Arten von Geschäften ihrer vorherigen Zustimmung bedürfen.“

Wegen des weiteren Inhalts des Vertrages wird auf die Anlage K 7 zum Schriftsatz der Klägerin vom 30. November 2015 Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 1. März 2011 (Anlage K 2 zum Schriftsatz der Klägerin vom 19. Juni 2015) informierten die Klägerin und die Industriewerke W. alle betroffenen Beschäftigten einschließlich des Beklagten darüber, dass die Industriewerke W. ab dem 1. April 2011 sämtliche Fertigungsaktivitäten von W. in Lohnfertigung und die administrativen Funktionen, insbesondere Forschung und Entwicklung, Logistik, Einkauf, Vertrieb, Finanzbuchhaltung und Instandhaltung für W. übernehmen solle und zu diesem Stichtag sämtliche Arbeitsverhältnisse im Wege des Betriebsübergangs auf die neue Gesellschaft übergehen würden. Das Immobilien-, Anlagen- und Umlaufvermögen sowie die Patente und Lizenzverträge verblieben bei der W. und würden der neuen Gesellschaft unentgeltlich zur Nutzung zur Verfügung gestellt. W. sorge auch für die erforderliche finanzielle Ausstattung der neuen Gesellschaft. Die betrieblichen Strukturen, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen und Standorten sowie die Funktionen aller Mitarbeiter blieben unverändert. Gleiches gelte für die Arbeitsbedingungen und die sozialen Besitzstände sowie für die arbeitgeberseitige Tarifbindung. Der Beklagte widersprach einem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Industriewerke W. nicht.

Ab dem 1. April 2011 trat die Industriewerke W. als Arbeitgeberin der Beschäftigten auf und dem Arbeitgeberverband Holz Kunststoff Nord-Ost e.V. bei. Die Industriewerke W. zahlte die Vergütung an die Beschäftigten einschließlich des Beklagten. Sie erstellte die Lohnabrechnungen. Gegenüber den Beschäftigten, dem Betriebsrat, den Sozialversicherungsträgern, der Bundesagentur für Arbeit und weiteren Behörden sowie gegenüber dem Arbeitgeberverband trat sie im eigenen Namen auf. Die Aufträge bzw. Vorgaben, welche Formteile in welcher Menge in welcher Farbe und mit welchem Dekor produziert werden sollten, erhielt die Berliner Niederlassung von der zentralen Arbeitsvorbereitung bzw. Fertigungsteuerung in Oberstenfeld. Weitere Vorgaben gab es nicht. Der Einkauf der für die Produktion erforderlichen Verbrauchsmaterialien sowie die Buchhaltung erfolgten ebenfalls zentral in Oberstenfeld. In der Berliner Niederlassung war lediglich die Lohnbuchhaltung für den Berliner Betrieb angesiedelt. Ferner wurden vor Ort die im Zusammenhang mit den Aufträgen der Fertigungsteuerung in Oberstenfeld anfallenden Verwaltungsaufgaben erledigt und für die Produktion erforderliche Kleinteile in geringen Mengen und von geringem Wert beschafft.

Bei der Klägerin waren für die Zeit ab dem 1. April 2011 keine Mitarbeiter mehr gemeldet. Auch die Verwaltung der Vermögensgegenstände einschließlich der Lizenzrechte erfolgte allerdings zunächst nicht mehr durch bei ihr gemeldete Belegschaftsmitglieder.

Am 16. August 2011 beantragte die Industriewerke W. wegen erheblicher Verluste im Geschäftsjahr 2010 gemeinsam mit dem Berliner Betriebsrat bei den Tarifvertragsparteien eine Abweichung vom ausgehandelten Tarifergebnis. Am 22. September 2011 schlossen die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung über die Einführung von Kurzarbeit für zwölf Monate ab dem 1. Oktober 2011. Zwischenzeitlich firmierte die Industriewerke W. in FHK F. Holz und Kunststoff GmbH & Co. KG (im Folgenden: FHK) um. Eine weitere Förderung von Kurzarbeit für zwölf Monate ab dem 21. November 2012 lehnte die Agentur für Arbeit mit Bescheid vom 10. Dezember 2012 wegen strukturell bedingten Arbeitsausfalls ab. Unter dem 22. November 2012 schlossen die Betriebsparteien einen Interessenausgleich über die Möglichkeit, die Beschäftigten während eines Produktionsausfalls oder bei Produktionseinschränkungen befristet an einem der beiden anderen Standorte einzusetzen. Unter dem 29. November 2012 sprach die FHK gegenüber allen in der Produktion Beschäftigten mit Ausnahme der Betriebsratsmitglieder entsprechende Änderungskündigungen aus. Der Beklagte und die übrigen Beschäftigten nahmen das Änderungsangebot nicht an, auch nicht unter Vorbehalt. Sämtliche gegen die Änderungskündigungen erhobenen Klagen einschließlich der des Beklagten hatten spätestens vor dem Landesarbeitsgericht Erfolg.

Ende Mai/Anfang Juni 2013 fasste die Gesellschafterversammlung der FHK den Beschluss, die Gesellschaft zu liquidieren und die Betriebe in Baden-Württemberg, Thüringen und Berlin stillzulegen. Am 23. Januar 2014 schlossen die FHK und der Berliner Betriebsrat bezüglich der beabsichtigten Betriebsstilllegung einen Interessenausgleich und einen Sozialplan, der im Wesentlichen Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen, jedoch keine Abfindungen vorsah. Mit Schreiben vom 26. März 2014 kündigte die FHK die Arbeitsverhältnisse mit dem Beklagten und den übrigen Berliner Beschäftigten. Die Kündigungsschutzklage des Beklagten, der zeitweise auch Betriebsratsmitglied bzw. Ersatzmitglied war, hatte keinen Erfolg.

Nachdem das Arbeitsgericht Stuttgart – Kammern Ludwigsburg – im Zusammenhang mit der Stilllegung des Betriebes in Oberstenfeld mit Urteil vom 8. Mai 2015 – 26 Ca 1875/14 – festgestellt hatte, der Betrieb in Oberstenfeld sei nicht zum 1. April 2011 auf die Industriewerke W. übergegangen, weil die Klägerin nicht dargelegt habe, dass die Industriewerke W. im Rahmen der ihr übertragenen Betriebsführung nach außen als Vollrechtsinhaberin aufgetreten sei und dadurch tatsächlich die Leitungsmacht übernommen habe, machte der Beklagte mit Schreiben vom 8. Juni 2015 gegenüber der Klägerin den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses über den 1. April 2011 hinaus geltend, bot seine Arbeitsleistung an und forderte die Klägerin auf, ihm für die Zeit ab dem 1. April 2011 eine Differenzvergütung zu zahlen. Weitere ehemals in dem Berliner Betrieb Beschäftigte taten es dem Beklagten gleich, woraufhin die Klägerin die vorliegende Klage erhob.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, das Arbeitsverhältnis des Beklagten sei wie auch die Arbeitsverhältnisse der übrigen am Standort Berlin Beschäftigten zum 1. April 2011 im Wege eines Betriebsübergangs auf die Industriewerke W./FHK übergegangen. Außerdem seien die rechtskräftigen Entscheidungen über die Änderungskündigung und die Beendigungskündigung präjudiziell auch für den vorliegenden Rechtsstreit. Jedenfalls aber wirke sich das Vorverhalten des Beklagten auf die Darlegungs- und Beweislast aus. Zudem seien etwaige ihr gegenüber entstandene Ansprüche verwirkt.

Die Klägerin hat beantragt, festzustellen, dass zwischen den Parteien über den 31. März 2011 hinaus ein Arbeitsverhältnis nicht bestanden hat und nicht besteht.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung seiner Auffassung, nach der sein Arbeitsverhältnis nicht im Wege eines Betriebsübergangs nach § 613a BGB auf die spätere FHK übergegangen sei, hat er sich im Wesentlichen auf die Argumentation in einem Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart berufen. Es liege Gestaltungsmissbrauch vor. Bei dem zwischen der Klägerin und der Industriewerke W. im März 2011 geschlossenen Vertrag handele es sich um einen echten Betriebsführungsvertrag, mit dem kein Betriebsinhaberwechsel verbunden sei. Die Industriewerke W. und später die FHK hätten aufgrund interner Anweisungen und externer Generalhandlungsvollmacht die Leitungsmacht lediglich für die Klägerin ausgeübt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 27. Januar 2016 stattgegeben.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 10. März 2016 zugestellte Urteil am 6. April 2016 Berufung eingelegt und diese mit einem am 2. Mai 2016 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Er wiederholt im Wesentlichen unter Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung seinen erstinstanzlichen Vortrag unter ergänzender Bezugnahme auf die Argumentationen in Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg sowie der Kammer 15 des Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. Hinsichtlich der Verwirkung beruft er sich besonders auf mangelnde Kenntnis von den zwischen der Klägerin und der Industriewerke W. geschlossenen Verträgen.

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. Januar 2016 – 37 Ca 8628/15 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Auch sie wiederholt im Wesentlichen ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Parteien vom 27. April und vom 13., 23. und 30. Mai 2016 sowie auf das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 16. Juni 2016.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II. Die Berufung ist aber unbegründet, da die zulässige Klage begründet ist. Der Beklagte kann sich hier jedenfalls nicht mehr darauf berufen, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf die damalige Industriewerke W. (jetzige FHK) übergegangen ist.

1) Die Klage ist zulässig. Bei einer negativen Feststellungsklage ergibt sich das erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers regelmäßig aus einer vom Beklagten aufgestellten Bestandsbehauptung („Berühmung“) der vom Kläger verneinten Rechtslage. Der Beklagte hat sich darauf berufen, ihm stünden noch Forderungen aus einem Arbeitsverhältnis mit der Klägerin gegen diese zu.

2) Die Klage ist auch begründet, da jedenfalls das Recht des Beklagten, sich darauf zu berufen, dass die Vertragsgestaltung zwischen der Klägerin und der Industriewerke W. im Jahr 2011 nicht zu einem Betriebsübergang geführt habe, verwirkt ist.

a) Die materiell-rechtliche Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB). Mit ihr wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes und dient – wie die Verjährung – dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Mit der Verwirkung soll das Auseinanderfallen zwischen rechtlicher und sozialer Wirklichkeit beseitigt werden; die Rechtslage wird der sozialen Wirklichkeit angeglichen. Die Verwirkung verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner bereits dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger längere Zeit seine Rechte nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, sodass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Begehrens nicht mehr zuzumuten ist (vgl. BAG 11. Dezember 2014 – 8 AZR 838/13, Rn. 24, 25).

b) Der Beklagte hat bei Zugrundelegung dieser Gesichtspunkte jedenfalls ein Recht aus dem Arbeitsverhältnis mit der Klägerin, nämlich sich darauf zu berufen, dass dieses im Jahr 2011 nicht auf die Industriewerke W./jetzige FHK übergegangen sei, verwirkt.

aa) Der Beklagte beruft sich hier auf ein Recht aus dem Arbeitsverhältnis, nämlich das Recht, sich gegen die Behauptung der Beklagten zur Wehr setzen zu können, das Arbeitsverhältnis sei auf die Industriewerke W. übergegangen.

bb) Die Klägerin durfte sich darauf einstellen, im Juni 2015 nicht mehr durch den Beklagten insoweit in Anspruch genommen zu werden. Nach Ablauf von über vier Jahren war das Zeitmoment erfüllt. Auch das Vorliegen des Umstandsmoments ist zu bejahen. Das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf Seiten der Klägerin überwiegt das Interesse des Beklagten derart, dass ihr die Erfüllung des Begehrens nicht mehr zuzumuten ist.

(1) Dem stünde es zunächst nicht entgegen, wenn das Recht, sich auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses zu berufen, nicht verwirken könnte (vgl. dazu BAG 21. April 2016 – 2 AZR 609/15, Rn. 22). Hier geht es nicht darum, dass der Beklagte sich unabhängig vom Vorliegen eines Beendigungstatbestandes auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses beruft. Dauerschuldverhältnisse selbst bestehen so lange, wie sie nicht einvernehmlich oder durch Kündigung oder aufgrund eines anderen Beendigungstatbestands aufgelöst worden sind. Bezüglich einer Kündigung als Beendigungstatbestand wird ganz selbstverständlich auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 4 KSchG davon ausgegangen, dass diese auch dann innerhalb gewisser Zeiträume, die sich nach dem Einzelfall bestimmen, angegriffen werden muss, wenn sie unwirksam ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit hätte erkennen können. Bei komplizierter Rechtslage kann allenfalls ein längerer Zeitraum anzunehmen sein. So kann zB. auch eine formunwirksame Kündigung regelmäßig nicht noch nach vielen Jahren angegriffen werden. Auch hier wird vom Arbeitnehmer erwartet, dass er sich insoweit ggf. rechtskundig macht. Es fehlt also nicht allein deshalb am Umstandsmoment, weil ein Arbeitnehmer nicht gewusst hat, dass eine solche Kündigung (zB. Faxkündigung) unwirksam ist.

(2) Einer Verwirkung steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin in dem Schreiben vom 1. März 2011 auf einen Betriebsübergang hingewiesen hat.

(a) Abzustellen ist auf die konkreten Umstände des Einzelfalles, zu denen allerdings auch der jeweilige Informationsstand des Berechtigten gehört (vgl. BAG 27. November 2008 – 8 AZR 174/07, Rn. 28). Dabei ist davon auszugehen, dass bei schwierigen Sachverhalten die Rechte des Arbeitnehmers erst nach längerer Untätigkeit verwirken können (vgl. BAG 27. Januar 2000 – 8 AZR 106/99, Rn. 45). Zutreffend ist es weiterhin auch, die Länge des Zeitablaufes in Wechselwirkung zu dem ebenfalls erforderlichen Umstandsmoment zu setzen. Je stärker das gesetzte Vertrauen oder die Umstände, die eine Geltendmachung für den Anspruchsgegner unzumutbar machen, sind, desto schneller kann ein Anspruch verwirken. Es müssen besondere Verhaltensweisen des Berechtigten vorliegen, die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechtes als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen (vgl. BAG 27. November 2008 – 8 AZR 174/07, Rn. 24).

(b) Die Informationen gegenüber der Belegschaft, insbesondere auch gegenüber dem Beklagten, enthielten alle wesentlichen Gesichtspunkte, aus denen dieser seine jetzt gegen einen Betriebsübergang vorgetragenen Argumente vor dem Hintergrund der Entwicklung bei der Beklagten ableitet. Angesichts der zudem im Zusammenhang mit den in den Jahren nach dem Betriebsübergang geführten Auseinandersetzungen sowie der Kenntnis der Umstände im Zusammenhang mit der Umstrukturierung bestand in all den Jahren die Möglichkeit, dies geltend zu machen. Der Beklagte hätte sie bereits ab März 2011 erkennen können. Bei der Mitteilung seitens der Klägerin, dass sich aus dem dargestellten Sachverhalt die Rechtsfolgen des § 613a BGB ergeben sollen, hat es sich um deren Rechtsauffassung gehandelt. Es ist nicht erkennbar, inwieweit sie dazu einen Sachverhalt falsch dargestellt hätte. Anders hätte zu entscheiden sein können, wenn die Klägerin beim Verfassen des Schreibens vom 1. März 2011 in der Absicht gehandelt hätte, die Belegschaft zu täuschen. Dafür gibt es aber keine konkreten Anhaltspunkte. In dem Schreiben ist der wesentliche Inhalt der gewählten Vertragskonstruktion wiedergegeben worden. Es ist nicht erkennbar, dass die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt nicht selbst der Auffassung gewesen ist, die von ihr gewählte Konstruktion führe zu einem Betriebsübergang. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sowohl Belegschaft als auch Betriebsräte, wozu der Beklagte – jedenfalls zeitweise – selbst gehörte, über die Vertragskonstruktion – wenn auch nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den wesentlichen Zügen – informiert worden sind. Dafür, dass der Zeitraum zu lang war, den der Beklagte abgewartet hat, um seine angeblichen Rechte geltend zu machen, sprechen auch die im Folgenden dargestellten Gesichtspunkte.

(3) Es gibt wesentliche Vorgänge innerhalb des Zeitraums von mehr als vier Jahren, aufgrund derer der Beklagte auch gegenüber der Klägerin den Eindruck erweckt hat, er werde sich jedenfalls nicht auf das Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs mit den jetzt vorgetragenen Gesichtspunkten berufen. Er hat sich in Prozessen auf den Bestand seines Arbeitsverhältnisses mit der Industriewerke W. bzw. der FHK berufen. In diesen Prozessen war er rechtskundig vertreten. Die Unternehmenshistorie war bekannt. Der Beklagte hat nicht behauptet, dass noch ein Arbeitsverhältnis zu der – zudem potenteren – Klägerin bestehen könnte. Der Beklagte hätte mehrere Prozesse bis zum Landesarbeitsgericht geführt, obwohl es mit dem Fehlen eines Arbeitsverhältnisses an einer grundlegenden Voraussetzung für den Erfolg im Kündigungsschutzprozess gefehlt hätte. Die Belegschaftsmitglieder und deren Prozessbevollmächtigte haben sich – uU. ja auch durchaus angesichts der durch das BAG gebilligten Gestaltungsspielräume nicht unüberlegt – ungeachtet des ihnen hinreichend bekannten Sachverhalts nicht auf ein Nichtvorliegen eines Beendigungstatbestandes bzw. eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung seitens der Klägerin berufen. Es handelte sich bei der Trennung von Besitz- und Betriebsgesellschaft im Jahr 2011 um eine schon seit langem gängige Konstruktion, durch die das Vermögen im Falle einer drohenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage bei der Besitzgesellschaft in Sicherheit gebracht wird. Gleiches gilt für die hier gewählte Vertragsgestaltung. Spätestens seit 2011 waren für die Belegschaft, insbesondere aber auch für die Betriebsratsmitglieder, die Gesichtspunkte deutlich erkennbar, mit denen sie einen Gestaltungsmissbrauch begründet. Unmittelbar nach der Aufteilung in Besitz- und Betriebsgesellschaft ist Kurzarbeit beantragt worden. Nach einem Jahr hat die Bundeagentur weitere Leistungen wegen struktureller Probleme nicht mehr gewährt. Die Verluste aus dem Jahr 2010 waren spätestens Anfang 2011 bekannt, vermutlich deutlich früher, da die Interessenausgleichsverhandlungen ja schon im Jahr 2010 geführt worden waren. Das waren wesentliche Indizien dafür, dass die Aufspaltung in Besitz- und Betriebsgesellschaft fürsorglich für den wohl nicht mehr auszuschließenden Fall einer weiteren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Beklagten erfolgt ist. Nur so ließ sich – soweit erkennbar – vermeiden, dass das Eigenkapital der Klägerin nicht im Zuge von Sozialplanforderungen aufgezehrt würde. Andere Gesichtspunkte, die für die durchgeführte Umstrukturierung sprechen könnten, waren für die Belegschaft und die Betriebsräte nach dem vorgetragenen Sachverhalt jedenfalls nicht erkennbar. Auf die Frage, ob dies im Ergebnis die Annahme eines Gestaltungsmissbrauchs mit der durch den Beklagten angestrebten Rechtsfolge angesichts der insoweit eher großzügigen Rechtsprechung des BAG gerechtfertigt hätte, kommt es insoweit nicht an. Maßgeblich ist, dass ihm die für den Gestaltungsmissbrauch vorgetragenen Gesichtspunkte lange bekannt waren.

(4) Der Beklagte musste aufgrund der Identität der bei der Klägerin und der Industriewerke W./FHK handelnden Personen – wie der der Gesellschafter – auch davon ausgehen, dass die Klägerin über seine Prozesse und sein Berufen auf das Arbeitsverhältnis mit der Industriewerke W./FHK bestens informiert war. Daher kommt es nicht darauf an, ob die Gesichtspunkte übertragen werden können, die das BAG in seiner Entscheidung vom 27. November 2008 (8 AZR 174/07) für die Frage einer Verwirkung des Widerspruchsrechts verwendet hat, um die Kenntnis der dem Erwerber bekannten für eine Verwirkung sprechenden Gesichtspunkte auch hier der Klägerin zugutekommen zu lassen.

III. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

IV. Die Kammer hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung und der Divergenz zu anderen LAG-Entscheidungen zugelassen.

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