Übersicht:
- Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Paukenschlag aus Erfurt: Bundesarbeitsgericht kippt Verfallklauseln für Aktienoptionen – Was Arbeitnehmer und Unternehmen jetzt wissen müssen
- Der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht: Ein Mitarbeiter kämpft um seine Optionen
- Die Entscheidung des BAG: Ein Sieg für die Arbeitnehmer
- Die Kehrtwende: Abschied von alter Rechtsprechung
- Praktische Auswirkungen: Was Unternehmen und Mitarbeiter jetzt tun müssen
- Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum Verfall von Mitarbeiteroptionen
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was genau sind virtuelle Mitarbeiteroptionen (VSOPs/ESOPs)?
- Was bedeutet „Vesting“ und „Cliff-Periode“ bei Aktienoptionen?
- Warum hat das BAG seine frühere Rechtsprechung geändert?
- Gilt das Urteil auch für „echte“ Aktienoptionen?
- Können Arbeitgeber den Verfall von Optionen bei Eigenkündigung jetzt gar nicht mehr regeln?
- Was sollten Arbeitnehmer tun, die von solchen Verfallklauseln betroffen sind?
- Welche Auswirkungen hat das Urteil auf bereits beendete Arbeitsverhältnisse?
- Ausblick: Eine neue Ära für Mitarbeiterbeteiligungen?

Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass Mitarbeiter bereits „erworbene“ virtuelle Aktienoptionen nicht verlieren dürfen, wenn sie selbst kündigen. Diese Praxis war bisher häufig üblich, ist aber jetzt rechtswidrig.
- Betroffen sind vor allem Arbeitnehmer in Unternehmen, die Beteiligungsprogramme über virtuelle Optionen anbieten, wie viele Start-ups und Mittelständler.
- Für Mitarbeiter bedeutet das: Wenn Sie kündigen, behalten Sie Anspruch auf den Teil der Optionen, den Sie durch Ihre bisherige Arbeit „verdient“ haben. Ein plötzlicher Verlust dieser Ansprüche ist nicht mehr erlaubt.
- Für Unternehmen heißt das: Sie müssen ihre Verträge und Beteiligungspläne überprüfen und Verfall-Regeln anpassen, sonst drohen rechtliche Probleme und mögliche Nachzahlungen an ehemalige Beschäftigte.
- Das Gericht betrachtet „gevestete“ Optionen als bereits verdiente Lohnbestandteile, die nicht einfach entzogen werden können. Außerdem schützt das Urteil das Recht auf freie Arbeitsplatzwahl, ohne durch finanzielle Drohungen beeinträchtigt zu werden.
- Die Entscheidung gilt auch für vergangene Fälle, in denen schon Optionen verfallen sind – es können Ansprüche entstehen, sofern Fristen eingehalten werden.
- Die neuen Regeln gelten ab sofort und sind eine wichtige Verbesserung für Arbeitnehmer, die an ihrem bisherigen Arbeitgeber beteiligt sind oder waren.
Paukenschlag aus Erfurt: Bundesarbeitsgericht kippt Verfallklauseln für Aktienoptionen – Was Arbeitnehmer und Unternehmen jetzt wissen müssen
Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 19. März 2025 (Az.: 10 AZR 67/24) sorgt für erhebliche Unruhe in der deutschen Unternehmenslandschaft und dürfte die Art und Weise, wie Mitarbeiter an Firmen beteiligt werden, nachhaltig verändern. Die höchsten deutschen Arbeitsrichter erklärten Klauseln in Programmen zur virtuellen Mitarbeiterbeteiligung (oft als VSOP oder ESOP bezeichnet) für unwirksam, die den ersatzlosen Verfall bereits erdienter – sogenannter „gevesteter“ – virtueller Optionen vorsahen, wenn das Arbeitsverhältnis durch eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers endet.
Ebenso verwarfen sie eine Regelung, die einen beschleunigten Verfall bereits sicher geglaubter Optionen nach dem Ausscheiden vorsah. Diese Entscheidung bedeutet eine klare Kehrtwende in der Rechtsprechung und hat weitreichende Folgen für bestehende und zukünftige Mitarbeiterbeteiligungsprogramme, insbesondere in Start-ups und nicht-börsennotierten Gesellschaften, wo solche Modelle ein zentraler Baustein zur Mitarbeiterbindung sind.
Wenn der Traum vom Anteil platzt: das Dilemma mit den virtuellen Optionen
Stellen Sie sich Frau S. vor. Sie ist eine hochtalentierte Softwareentwicklerin und hat vor drei Jahren bei einem aufstrebenden Technologie-Unternehmen, der „InnovateSolutions GmbH“ (Name geändert), angefangen. Ein Teil ihres Gehaltspakets war ein attraktives Angebot über virtuelle Mitarbeiteroptionen. Diese Optionen, so wurde ihr erklärt, würden ihr im Falle eines erfolgreichen Firmenverkaufs oder eines Börsengangs einen signifikanten Bonus einbringen – eine Art Erfolgsbeteiligung an dem Unternehmen, für das sie Tag für Tag ihr Bestes gibt. Die Bedingungen sahen vor, dass ihre Optionen über einen Zeitraum von vier Jahren „vesten“, also schrittweise unverfallbar werden. Nach einer anfänglichen Wartezeit von einem Jahr, dem sogenannten „Cliff“, wurden ihr jedes Quartal weitere Anteile gutgeschrieben.
Nun, nach drei Jahren, hat Frau S. ein verlockendes Angebot von einem anderen Unternehmen erhalten. Es ist eine Chance, die sie karrieretechnisch weiterbringen würde. Schweren Herzens entscheidet sie sich zur Kündigung. Sie geht davon aus, dass ihr zumindest die bereits „gevesteten“ Optionen, also die, die ihr nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit zustehen, erhalten bleiben. Doch dann der Schock: Die Personalabteilung teilt ihr mit, dass laut Vertrag alle ihre Optionen – auch die bereits erdienten – mit ihrer Eigenkündigung ersatzlos verfallen. Ihr Traum von der finanziellen Beteiligung am Erfolg, den sie mit aufgebaut hat, scheint geplatzt.
Dieses Szenario, wie es Frau S. erlebt hat, war bis in jüngster Vergangenheit in vielen Unternehmen gängige Praxis. Doch das Bundesarbeitsgericht hat dieser Praxis nun einen Riegel vorgeschoben.
Der Fall vor dem Bundesarbeitsgericht: Ein Mitarbeiter kämpft um seine Optionen
Im konkreten Fall, der dem Urteil 10 AZR 67/24 zugrunde lag, ging es um einen Kläger, der vom 1. April 2018 bis zum 31. August 2020 bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt war. Das Arbeitsverhältnis endete durch seine fristgerechte Eigenkündigung. Im Jahr 2019 hatte er ein Angebot über 23 virtuelle Optionsrechte erhalten und angenommen, formalisiert durch einen „Allowance Letter“ im Rahmen der „Employee Stock Option Provisions“ (ESOP) des Unternehmens.
Die Bedingungen dieses ESOP waren typisch: Die Ausübung der virtuellen Optionen, die zu einem Zahlungsanspruch gegen die Beklagte führen konnte, setzte deren Ausübbarkeit nach Ablauf einer Vesting-Periode und ein sogenanntes Ausübungsereignis (wie einen Börsengang oder Firmenverkauf) voraus. Die Optionen wurden nach einer Mindestwartezeit von zwölf Monaten („Cliff“) innerhalb einer Vesting-Periode von insgesamt vier Jahren gestaffelt ausübbar. Interessanterweise sah eine Regelung vor, dass die Vesting-Periode suspendiert wurde, solange der Arbeitnehmer ohne Entgeltanspruch von der Arbeit freigestellt war – ein Detail, das später in der Argumentation des BAG eine Rolle spielen sollte.
Das ESOP enthielt zwei für den Streit entscheidende Verfallklauseln:
- Klausel Nr. 4.2 ESOP: Diese bestimmte den sofortigen und ersatzlosen Verfall bereits „gevesteter“, aber noch nicht ausgeübter virtueller Optionen, falls das Arbeitsverhältnis aufgrund einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers endete.
- Klausel Nr. 4.5 ESOP: Diese sah vor, dass „gevestete“, aber noch nicht ausgeübte virtuelle Optionen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sukzessive innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren verfallen sollten. Dies war eine Art beschleunigter Verfall („De-Vesting“), da die Optionen doppelt so schnell verfallen sollten, wie sie erdient worden waren.
Zum Zeitpunkt seines Ausscheidens waren laut BAG-Pressemitteilung 31,25 % der dem Kläger zugeteilten Optionsrechte „gevestet“ (in den Sitzungsergebnissen ist von 143,75 gevesteten virtuellen Optionen die Rede). Als der Kläger im Juni 2022 seinen Anspruch auf diese Optionen geltend machte, lehnte die Beklagte dies unter Verweis auf die Verfallklauseln ab. Ihre Argumentation: Die Optionen dienten primär der Betriebstreue bis zu einem Ausübungsereignis und seien keine erdiente Vergütung, sondern lediglich eine Verdienstchance.
Sowohl das Arbeitsgericht München als auch das Landesarbeitsgericht München wiesen die Klage des Arbeitnehmers ab. Sie folgten damit wohl der bis dahin geltenden BAG-Rechtsprechung. Doch der Kläger gab nicht auf und zog vor das Bundesarbeitsgericht – mit Erfolg.
Die Entscheidung des BAG: Ein Sieg für die Arbeitnehmer
Der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts, zuständig für Vergütungsfragen, hob die vorinstanzlichen Urteile auf und gab der Revision des Klägers statt. Die „gevesteten“ virtuellen Optionen sind nicht verfallen, so das klare Verdikt aus Erfurt. Die Richter begründeten ihre Entscheidung mit mehreren zentralen Argumenten, die einen Paradigmenwechsel darstellen.
Allgemeine Geschäftsbedingungen unter der Lupe: Die AGB-Kontrolle
Ein entscheidender Schritt in der Argumentation des Gerichts war die Qualifizierung der Bestimmungen des Mitarbeiterbeteiligungsprogramms (ESOP) als Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) im Sinne des § 305 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). AGB sind vorformulierte Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (hier der Arbeitgeber) der anderen Partei (dem Arbeitnehmer) bei Abschluss eines Vertrags stellt. Solche Standardklauseln unterliegen einer strengen Inhaltskontrolle nach § 307 BGB.
Was sind eigentlich Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB)?
Allgemeine Geschäftsbedingungen, kurz AGB, sind Vertragsbedingungen, die für eine Vielzahl von Verträgen vorformuliert sind und die eine Vertragspartei (der Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. Im Arbeitsrecht sind das oft die Standardklauseln in Arbeitsverträgen oder eben in Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass derjenige, der die AGB stellt (meist der Arbeitgeber), oft in einer stärkeren Position ist. Deshalb gibt es mit den §§ 305 ff. BGB spezielle Schutzvorschriften. Insbesondere § 307 BGB besagt, dass Bestimmungen in AGB unwirksam sind, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Genau diese Prüfung hat das BAG bei den Verfallklauseln vorgenommen.
Die Verfallklausel Nr. 4.2 ESOP, die den sofortigen Verfall gevesteter Optionen bei Eigenkündigung vorsah, hielt dieser Inhaltskontrolle nicht stand. Das Gericht befand, dass eine solche Klausel den Arbeitnehmer unangemessen benachteilige und daher unwirksam sei. Auch die „De-Vesting“-Klausel (Nr. 4.5 ESOP), die einen im Vergleich zur Erdienungsphase doppelt so schnellen Verfall vorsah, wurde als unangemessene Benachteiligung gemäß § 307 BGB und somit als unwirksam erachtet. Die Richter monierten, dass eine solche Klausel die vom Arbeitnehmer durch seine Arbeitsleistung während der Vesting-Periode aufgewandte Zeit für den Erwerb der Optionsrechte nicht angemessen berücksichtige, ohne dass dies durch entgegenstehende Interessen des Arbeitgebers gerechtfertigt sei.
Gevestete Optionen sind erdiente Vergütung
Der wohl wichtigste Pfeiler der Entscheidung ist die Charakterisierung „gevesteter“ virtueller Optionen. Das BAG stellte klar, dass diese eine Gegenleistung für die vom Arbeitnehmer während des aktiven Arbeitsverhältnisses und der Vesting-Periode bereits erbrachte Arbeitsleistung darstellen. Die Richter verwiesen hierbei auch auf die Regelung im ESOP, wonach das Vesting während einer unbezahlten Freistellung ruht. Dies unterstreiche die Kopplung an die aktive Arbeitsleistung.
Wenn aber gevestete Optionen als bereits erdienter Lohnbestandteil gelten, dann widerspricht ihr ersatzloser Verfall dem Rechtsgedanken des § 611a Abs. 2 BGB. Dieser Paragraph verpflichtet den Arbeitgeber schlicht zur Zahlung der vereinbarten Vergütung. Eine bereits verdiente Vergütung kann dem Arbeitnehmer nicht einfach wieder weggenommen werden, nur weil er von seinem Recht zur Kündigung Gebrauch macht. Diese Neuklassifizierung ist fundamental, da Optionen bisher oft als reine Anreize für zukünftige Loyalität oder als spekulative Chancen betrachtet wurden. Nun genießen sie einen wesentlich stärkeren rechtlichen Schutz.
Schutz vor unverhältnismäßiger Kündigungserschwernis
Das BAG argumentierte zudem, dass derartige Verfallklauseln eine unverhältnismäßige Erschwerung der Kündigungsfreiheit des Arbeitnehmers darstellen. Der drohende finanzielle Verlust durch den Verfall bereits sicher geglaubter Optionen könnte Arbeitnehmer davon abhalten, ihr Kündigungsrecht auszuüben und sich beruflich zu verändern – selbst wenn ein Ausübungsereignis wie ein Börsengang noch in weiter Ferne und ungewiss ist. Dies berührt das grundlegende Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes (Art. 12 Grundgesetz).
Was sind eigentlich die Unterschiede zwischen „verdient“ und „erdient“?
Der Unterschied zwischen verdienten und nicht verdienten Mitarbeiteroptionen (oft auch als „erdiente“ im Sinne von bereits unverfallbar gewordenen Optionen bezeichnet) liegt darin, ob der Mitarbeiter die Bedingungen für den Erwerb der Aktien bereits erfüllt hat.
Verdiente Mitarbeiteroptionen (Vested Stock Options)
Verdiente Optionen sind Aktienoptionen, bei denen der Mitarbeiter alle notwendigen Bedingungen erfüllt hat, um das Recht auszuüben, Aktien des Unternehmens zu einem festgelegten Preis zu kaufen. Diese Bedingungen sind in der Regel an eine bestimmte Beschäftigungsdauer im Unternehmen geknüpft, die sogenannte Vesting-Periode oder Unverfallbarkeitsfrist. Sobald Optionen „verdient“ sind, kann der Mitarbeiter sie gemäß den im Optionsplan festgelegten Regeln ausüben, auch wenn das Arbeitsverhältnis später endet, wobei die genauen Bestimmungen variieren können
Nicht verdiente Mitarbeiteroptionen (Unvested Stock Options)
Nicht verdiente Optionen sind solche, bei denen die Bedingungen für die Ausübung noch nicht erfüllt sind.Mitarbeiter erhalten oft ein Optionspaket, das über einen bestimmten Zeitraum schrittweise „verdient“ wird, beispielsweise 25 % pro Jahr über vier Jahre. Wenn ein Mitarbeiter das Unternehmen verlässt, bevor die Optionen vollständig verdient sind, verfallen die noch nicht verdienten Optionen in der Regel bisher oder können vom Unternehmen zurückgekauft werden. Erst nach Ablauf der jeweiligen Fristen innerhalb der Vesting-Periode wandeln sich nicht verdiente Optionen in verdiente Optionen um.
Die genauen Details, wie und wann Optionen verdient werden, sind im Aktienoptionsplan und der Optionsvereinbarung des Unternehmens festgelegt.
Die Kehrtwende: Abschied von alter Rechtsprechung
Mit dieser Entscheidung vollzieht der Zehnte Senat des BAG eine explizite Abkehr von seiner früheren, deutlich arbeitgeberfreundlicheren Rechtsprechung. Insbesondere das Urteil vom 28. Mai 2008 (Az. 10 AZR 351/07) galt lange als Maßstab. Damals hatten die Richter den Verfall von Aktienoptionen – selbst wenn diese bereits gevestet, aber während des Arbeitsverhältnisses noch nicht ausübbar waren – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses häufig als zulässig erachtet.
Die alte Sichtweise stützte sich oft darauf, dass Optionen einen hochspekulativen Charakter hätten, Arbeitnehmer nicht auf deren Wert vertrauen könnten oder der primäre Zweck in der langfristigen Bindung an das Unternehmen liege. Optionen wurden eher als reine Erwerbschancen oder Anreize für künftige Loyalität qualifiziert, weniger als bereits verdiente Gegenleistung. Die AGB-Kontrolle wurde weniger streng gehandhabt, und der Fokus lag oft auf dem Zweck der Option, nicht primär auf der bereits erbrachten Leistung des Arbeitnehmers. Auch „De-Vesting“-Klauseln wurden tendenziell eher für zulässig gehalten, wenn sie im Rahmen des Bindungszwecks lagen.
Das BAG stellt in seiner Pressemitteilung zum aktuellen Urteil unmissverständlich klar, dass es an seiner früheren Rechtsprechung „nicht mehr festhält“. Die Neubewertung gründet, wie dargelegt, auf der konsequenten Anwendung der AGB-Kontrolle und der Einstufung gevesteter Optionen als bereits erdiente Gegenleistung. Der Senat misst der vom Arbeitnehmer während der Vesting-Periode erbrachten Arbeitsleistung nun ein deutlich höheres Gewicht bei als dem spekulativen Charakter der Optionen oder dem reinen Interesse des Arbeitgebers an einer über bereits erdiente Ansprüche hinausgehenden Loyalität.
Dieser Wandel, der einen 17 Jahre alten Präzedenzfall aufhebt, signalisiert eine wohlüberlegte und substantielle Neubewertung der sozioökonomischen Realitäten von Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen. Es scheint, als habe das BAG erkannt, dass die frühere Rechtsprechung zu Ergebnissen führen konnte, die zunehmend als unfair gegenüber Arbeitnehmern empfunden wurden, zumal virtuelle Optionen einen immer bedeutenderen Teil der Gesamtvergütung ausmachen können.
Praktische Auswirkungen: Was Unternehmen und Mitarbeiter jetzt tun müssen
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts hat unmittelbare und erhebliche Konsequenzen. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer sollten die neuen Grundsätze kennen und entsprechend handeln.
Für Arbeitgeber: Dringender Handlungsbedarf
Unternehmen sind nun dringend gehalten, ihre bestehenden (virtuellen) Aktienoptionspläne und Mitarbeiterbeteiligungsprogramme einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Insbesondere Klauseln, die einen Verfall gevesteter Optionen bei Eigenkündigung oder einen beschleunigten Verfall nach Vertragsende vorsehen, müssen auf ihre Vereinbarkeit mit den neuen BAG-Grundsätzen hin analysiert und gegebenenfalls angepasst werden. Dies gilt nicht nur für zukünftige Pläne, sondern auch für laufende Programme. Es reicht nicht mehr, pauschal auf den Bindungszweck zu verweisen. Die Gestaltung muss fair und ausgewogen sein.
Besondere Aufmerksamkeit gilt auch den sogenannten „Bad Leaver“-Klauseln. Das aktuelle Urteil bezog sich explizit auf den Fall der Eigenkündigung des Arbeitnehmers („Good Leaver“ im weiteren Sinne). Wie es sich mit Klauseln verhält, die den Verfall von Optionen bei einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen verhaltensbedingten Kündigung oder anderen als „schlecht“ eingestuften Trennungsszenarien vorsehen, ist noch nicht abschließend geklärt. Rechtsexperten raten, die vollständigen schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten, die hierzu hoffentlich weitere Klarheit bringen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch solche Klauseln künftig einer strengeren Prüfung unterzogen werden und sehr gut begründet sein müssen, um einer Inhaltskontrolle nach § 307 BGB standzuhalten. Einfach jede Kündigung durch den Arbeitgeber als „Bad Leaver“-Fall zu definieren, dürfte schwierig werden.
Ein weiterer heikler Punkt ist das Potenzial für rückwirkende Ansprüche ehemaliger Mitarbeiter. Die Rechtsprechungsänderung durch das BAG entfaltet grundsätzlich Rückwirkung. Das bedeutet, ehemalige Mitarbeiter, deren Optionen in der Vergangenheit auf Basis von Klauseln verfallen sind, die nun als unwirksam gelten, könnten möglicherweise Ansprüche geltend machen. Dies birgt ein nicht unerhebliches finanzielles Risiko für Unternehmen. Hierbei sind jedoch Verjährungsfristen und mögliche Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen zu beachten. Dennoch sollten Unternehmen Rückstellungen für solche potenziellen Forderungen prüfen.
Bei der Gestaltung neuer Mitarbeiterbeteiligungsprogramme müssen die vom BAG aufgestellten Grundsätze strikt beachtet werden. Verfallklauseln sind äußerst sorgfältig zu formulieren. Alternativen zu pauschalen Verfallregelungen könnten längere Vesting-Perioden, modifizierte Ausübungsbedingungen oder differenzierte und gut begründete „Good Leaver“- und „Bad Leaver“-Definitionen sein, die den Aspekt der erdienten Vergütung berücksichtigen. Die Idee, Optionsprogramme über eine ausländische Konzernobergesellschaft zu gewähren, um dem deutschen AGB-Recht zu entgehen, ist komplex und birgt eigene Risiken, da auch hier eine unangemessene Regelung als Kündigungserschwernis nach deutschem Recht gewertet werden könnte.
Schließlich müssen auch Aufhebungs- und Abwicklungsverträge, die Mitarbeiter mit Ansprüchen aus virtuellen Optionsplänen betreffen, künftig mit besonderer Sorgfalt und unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung gestaltet werden. Ziel muss es sein, einen rechtssicheren Verzicht oder eine wirksame Abgeltung optionsbezogener Ansprüche zu erreichen. Pauschale Ausgleichsklauseln könnten unwirksam sein, wenn sie die neue Rechtslage nicht adäquat berücksichtigen.
Für Arbeitnehmer: Neue Rechte und Möglichkeiten
Für Arbeitnehmer wie Frau S. bedeutet das Urteil eine erhebliche Stärkung ihrer Position. Wer „gevestete“ virtuelle Optionen besitzt und über eine Kündigung nachdenkt, muss nicht mehr automatisch den Totalverlust dieser bereits erdienten Vergütungsbestandteile fürchten. Überprüfen Sie Ihren Optionsplan und Ihren Arbeitsvertrag sorgfältig auf entsprechende Klauseln. Wenn Sie unsicher sind, ob die Klauseln in Ihrem Vertrag von der neuen Rechtsprechung betroffen sind, sollten Sie juristischen Rat einholen.
Dies gilt auch für ehemalige Mitarbeiter, deren Optionen in der Vergangenheit möglicherweise zu Unrecht für verfallen erklärt wurden. Wie bereits erwähnt, könnte hier ein Anspruch auf nachträgliche Erfüllung oder Schadensersatz bestehen. Achten Sie dabei unbedingt auf mögliche Fristen! Arbeitsverträge enthalten oft sogenannte Ausschlussfristen (meist drei bis sechs Monate), innerhalb derer Ansprüche schriftlich geltend gemacht werden müssen. Auch die gesetzliche Verjährung (in der Regel drei Jahre ab Kenntnis des Anspruchs) ist zu beachten. Zögern Sie also nicht zu lange, wenn Sie vermuten, betroffen zu sein. Sichern Sie alle relevanten Unterlagen wie den Optionsplan, Zuteilungsschreiben und Schriftverkehr mit dem Arbeitgeber.
Wenn Sie aktuell in Verhandlungen über einen Aufhebungsvertrag stehen und virtuelle Optionen besitzen, sollte deren Behandlung explizit und unter Berücksichtigung des BAG-Urteils geregelt werden. Lassen Sie sich nicht vorschnell auf einen Verzicht ein.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zum Verfall von Mitarbeiteroptionen
Das Urteil wirft viele Fragen auf. Hier einige Antworten auf die drängendsten Punkte:
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was genau sind virtuelle Mitarbeiteroptionen (VSOPs/ESOPs)?
Was bedeutet „Vesting“ und „Cliff-Periode“ bei Aktienoptionen?
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Was sollten Arbeitnehmer tun, die von solchen Verfallklauseln betroffen sind?
Welche Auswirkungen hat das Urteil auf bereits beendete Arbeitsverhältnisse?
Ausblick: Eine neue Ära für Mitarbeiterbeteiligungen?
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts 10 AZR 67/24 markiert eine signifikante, arbeitnehmerfreundliche Entwicklung im deutschen Arbeitsrecht. Es schränkt die Freiheit der Arbeitgeber ein, den Verfall bereits erdienter Anwartschaften durch Standardvertragsklauseln herbeizuführen, und stärkt die Position der Arbeitnehmer, indem es gevestete Optionen als Teil der verdienten Vergütung anerkennt.
Die Unternehmenslandschaft, insbesondere Start-ups und Wachstumsunternehmen, die stark auf solche Beteiligungsmodelle setzen, steht vor der Herausforderung, ihre Programme anzupassen. Die vollständigen schriftlichen Urteilsgründe werden mit Spannung erwartet, da sie voraussichtlich detailliertere Ausführungen zur Abwägung der Interessen, zur genauen Reichweite der Unwirksamkeit von Verfallklauseln (insbesondere im Hinblick auf verschiedene „Leaver“-Konstellationen) und zu weiteren offenen Fragen enthalten werden.
Es ist denkbar, dass dieses Urteil eine breitere Neubewertung von langfristigen Anreizplänen (Long-Term Incentive Plans, LTIPs) in Deutschland über virtuelle Aktienoptionen hinaus anstößt und auf mehr Transparenz und Fairness in AGB-basierten Vergütungsstrukturen drängt. Für Arbeitnehmer wie Frau S. bedeutet es jedoch vor allem eines: Mehr Fairness und die Anerkennung, dass geleistete Arbeit auch bei einem Jobwechsel ihren Wert behält.