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Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bei erneuter Arbeitsunfähigkeit

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: 5 Sa 101/21 – Urteil vom 14.12.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 06.01.2021 – 1 Ca 1081/20 – in Gestalt des Berichtigungsbeschlusses vom 17.05.2021 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Dauer der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie die Zahlung eines zusätzlichen Urlaubsgeldes.

Die im Oktober 1979 geborene Klägerin nahm am 01.08.1996 bei der Beklagten eine Ausbildung auf und wurde im Anschluss daran als kaufmännische Sachbearbeiterin in ein Arbeitsverhältnis übernommen. Die Beklagte stellt Schilder, insbesondere für den Straßenverkehr, her und beschäftigt zwischen 30 und 40 Mitarbeiter. Die Klägerin war zuletzt als Sachbearbeiterin im Verkauf tätig.

Der Arbeitsvertrag vom 19.11.2002 enthält folgende Regelungen:

„…

Urlaub

Urlaubsdauer sind zur Zeit 30 Arbeitstage pro Kalenderjahr. …

Urlaubsgeld

Es beträgt 50% des Grundlohnes für die entsprechenden Urlaubstage und ist eine freiwillige Zuwendung. Bei fristloser Entlassung besteht kein Anspruch auf Urlaubsgeld. Im Eintrittsjahr wird anteiliges Urlaubsgeld nach Erfüllung der Wartezeit gewährt. Im Austrittsjahr wird anteiliges Urlaubsgeld gewährt (1/12 für jeden vollen Beschäftigungsmonat). Tritt der Arbeitnehmer vor Ablauf des Kalenderjahres und nach Zahlung des Urlaubsgeldes aus der Firma aus, so muss zu viel gezahltes Urlaubsgeld zurückerstattet werden.

Gratifikationen

Die Zahlung von Sondervergütungen wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und ähnlichen Zuwendungen liegt im freien Ermessen der Firma und begründet keinen Rechtsanspruch für die Zukunft, auch wenn die Zahlung wiederholt und ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgt.

Sondervergütungen können für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit um bis zu einem Viertel des Arbeitsentgeltes gekürzt werden.

…“

Im Jahr 2017 erhielt die Klägerin folgende Urlaubsgeldzahlungen:

Juni 2017 € 447,25 brutto

Dezember 2017 € 164,78 brutto

2018/2019 war die Klägerin in Elternzeit, die am 27.04.2019 endete. Mit Wirkung zum 28.04.2019 vereinbarten die Parteien durch Änderungsvertrag vom 20.02.2019 eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden mit festen Arbeitszeiten von 08:00 Uhr bis 14:45 Uhr montags bis freitags. Laut Änderungsvertrag beläuft sich das monatliche Gehalt ab dem 28.04.2019 auf € 2.000,- brutto. Des Weiteren zahlte die Beklagte einen Arbeitgeberzuschuss vermögenswirksame Leistungen in Höhe von € 22,50 monatlich.

Im Jahr 2019 erhielt die Klägerin folgende Urlaubsgeldzahlungen:

Juni 2019 € 346,14 brutto

Dezember 2019 € 346,15 brutto

Im Jahr 2020 war die Klägerin zunächst in folgenden Zeiträumen arbeitsunfähig:

Zeiträume Arbeitstage

02.03.2020 bis 04.03.2020 3

16.03.2020 bis 03.04.2020 15

Am Montag, 20.04.2020, suchte die Klägerin ihre Hausärztin, die Fachärztin für Allgemeinmedizin S., auf. Die Hausärztin stellte nach ICD-10 die Diagnose „M62.88 Myofasziales Schmerzsyndrom im Schulter-Nackenbereich beidseits“ und verordnete Physiotherapie. Im Anschluss daran stellte die Hausärztin mehrere Folgebescheinigungen mit derselben Diagnose aus. Die letzte Bescheinigung endete mit dem 29.05.2020, dem Freitag vor Pfingsten. Insgesamt erstreckte sich die Arbeitsunfähigkeit über 28 Arbeitstage. Gegenüber der Ärztin beklagte sich die Klägerin u. a. über die Belastung als Alleinerziehende und das geringe Verständnis des Arbeitgebers.

Am 02.06.2020, dem Dienstag nach Pfingsten, erschien die Klägerin wieder zur Arbeit. Gegen 10:00 Uhr kam der Geschäftsführer der Beklagten auf sie zu und bat sie zu einem Gespräch in sein Büro. Der Verlauf dieses Gesprächs wird von den Parteien unterschiedlich dargestellt. Gegen 12:00 Uhr desselben Tages kam es zu einem weiteren Gespräch zwischen der Klägerin und dem Geschäftsführer der Beklagten im Büro der Klägerin, dessen Inhalt ebenfalls streitig ist. Im Anschluss daran verließ die Klägerin ihren Arbeitsplatz vorzeitig, woraufhin die Beklagte das Gehalt entsprechend kürzte. Am Nachmittag des 02.06.2020 suchte die Klägerin erneut ihre Hausärztin auf, die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 03. bis 12.06.2020 als Erstbescheinigung mit der Diagnose Z60 G (Kontaktanlässe mit Bezug auf die soziale Umgebung) ausstellte. Der ärztliche Befund vom 02.06.2020 lautet wie folgt:

„Befund vom 02.06.2020:

war heute arbeiten und wurde von Chef heimgeschickt, zweifelt alte AUs an, „soll sich auf dieselbe KH schreiben“, er hat sie der Arbeit verwiesen, „legen Sie sich nicht mit mir an“ etc,

ist total fertig, kann nicht mehr, möchte sich verändern, hält es dort nicht mehr aus, sofort wieder Herzklopfen und Ängste“

Am Donnerstag, 04.06.2020, erschien der Geschäftsführer der Beklagten bei der Hausärztin, um eine Auskunft zur Arbeitsunfähigkeit der Klägerin einzuholen. Die Ärztin verwies ihn an die Krankenkasse der Klägerin und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Die Beklagte wandte sich daraufhin an den MDK, der sich am 09.06.2020 bei der Hausärztin telefonisch meldete und sich die Gründe der Arbeitsunfähigkeit erläutern ließ. Am 11.06.2020 stellte die Hausärztin eine Folgebescheinigung zur Arbeitsunfähigkeit aus, die bis zum 09.07.2020 reichte. Die bisherige Diagnose Z60 G ergänzte sie um die weitere Diagnose F32.1 G (mittelgradige depressive Episode). Die Krankenkasse der Klägerin lehnte, nachdem sie unter dem 26.06.2020 von der Hausärztin weitere Angaben angefordert hatte, gegenüber der Beklagten mit E-Mail vom 03.07.2020 eine erneute Überprüfung des Falls ab und verwies auf die unterschiedlichen Diagnosen.

Die Klägerin kündigte auf Empfehlung ihrer Hausärztin das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 07.07.2020 fristlos. Die Beklagte erkannte die Kündigung zwar mangels entsprechender Kündigungsgründe nicht an, bestätigte aber ihrerseits mit Schreiben vom 10.07.2020 die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Wirkung zum 31.07.2020. Die Parteien verständigten sich darauf, dass die Klägerin vom 15.07.2020 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.07.2020 Urlaub erhält.

Die Hausärztin stellte der Klägerin am 09.07.2020 und am 14.07.2020 Folgebescheinigungen mit den oben genannten Diagnosen bis einschließlich 31.07.2020 aus.

Die Beklagte zahlte an die Klägerin als Arbeitsentgelt für den Monat Juni 2020 € 134,83 brutto. Dabei handelt es sich um das Entgelt für die ersten beiden Junitage. Für den Zeitraum 03. bis 30.06.2020 erhielt die Klägerin kein Entgelt. Das Gleiche gilt für den Zeitraum 01. bis 14.07.2020, bei dem die Beklagte ebenfalls von einer unbezahlten Fehlzeit ausging. Für den Zeitraum 15. bis 31.07.2020 errechnete die Beklagte ein Gehalt in Höhe von € 1.096,77 brutto sowie eine Urlaubsabgeltung in Höhe von € 276,87 brutto. Der Nettobetrag belief sich unter Berücksichtigung weiterer Positionen auf € 996,16, den die Beklagte an die Klägerin auszahlte.

Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass ihr für den Zeitraum 03.06. bis 14.07.2020 Entgeltfortzahlung zustehe, da es sich um eine neue Krankheit handele. Die erneute Krankschreibung ab dem 03.06.2020 beruhe auf einer ganz anderen Diagnose. Am 02.06.2020 sei der Geschäftsführer der Beklagten gegen 10:00 Uhr im Büro der Klägerin erschienen und habe erklärt: „Sofort mitkommen“. Er habe die Klägerin sodann provokativ gefragt, wann denn die nächste Krankschreibung komme. Danach seien die Sätze gefallen: „Sowas wie Sie brauche ich nicht“ und „Verlassen Sie bitte sofort das Büro und lassen Sie sich bitte sofort wieder krankschreiben“. Die Klägerin sei dennoch in ihr Büro zurückgekehrt und habe die Arbeit wieder aufgenommen. Gegen 12:00 Uhr habe der Geschäftsführer der Beklagten die Klägerin erneut aufgesucht und erklärt: „Habe ich mich nicht verständlich ausgedrückt? Verlassen Sie bitte sofort wieder das Gebäude und das Büro.“ Als die Klägerin ihre persönlichen Sachen zusammengepackt habe, sei dann noch der Satz gefallen: „Legen Sie sich besser nicht mit mir an“. Die Klägerin habe sich daraufhin zu ihrer Hausärztin begeben und ihr den Vorfall geschildert.

Die Klägerin hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein restliches Bruttogehalt für Juni 2020 in Höhe von € 1.887,67 zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein Gehalt für Juli 2020 in Höhe von € 2.022,50 abzüglich gezahlter € 996,16 netto zu zahlen,

3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ein anteiliges Urlaubsgeld für 2020 in Höhe von € 830,52 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Der Klägerin stehe keine Entgeltfortzahlung zu. Die Schulter-Nacken-Verspannung habe über den 31.05.2020 hinaus angedauert, zumal auch die Physiotherapeutin nur leichte Besserungen der Beschwerden festgestellt und eine Fortsetzung der Therapie vorgeschlagen habe. Die Angaben der Klägerin gegenüber der Hausärztin seien zum Teil falsch. In einem Befundbericht der Hausärztin sei von Home-Office die Rede, obwohl die Klägerin zu keiner Zeit im Home-Office gearbeitet habe. Die Gespräche mit dem Geschäftsführer der Beklagten am 02.06.2020 habe die Klägerin falsch dargestellt. Der Geschäftsführer habe die Klägerin zu einem Gespräch gebeten, um einerseits die aktuelle Arbeitssituation zu besprechen und andererseits ein privates Wort mit der Klägerin zu wechseln. Die Klägerin sei der Aufforderung des Geschäftsführers gefolgt, sei aber bereits im Türrahmen stehen geblieben und habe durch ihre gesamte Körperhaltung zum Ausdruck gebracht, dass sie auf Krawall gebürstet sei. Sie habe erklärt: „Sagen Sie jetzt bloß nichts Falsches!“. Die Klägerin sei dann der Bitte des Geschäftsführers, Platz zu nehmen, gefolgt. Sie habe erklärt, dass sie sich immer noch krank fühle. Der Geschäftsführer habe im Hinblick auf seine Fürsorgepflicht darauf erwidert, dass die Klägerin, wenn sie noch krank sei, besser zum Arzt gehen solle. Die Klägerin habe daraufhin das Büro verlassen. Um die Mittagszeit habe der Geschäftsführer die Klägerin in ihrem Büro gesehen und sie gefragt, ob sie nicht zum Arzt gehen wolle. Die Klägerin habe daraufhin die Betriebsstätte verlassen. Der Geschäftsführer habe die Klägerin nicht provoziert oder provozieren wollen. Möglicherweise habe die Klägerin aufgrund ihrer privaten Probleme die wohlmeinenden Worte am Arbeitsplatz falsch verstanden. Ein Urlaubsgeld stehe der Klägerin ebenfalls nicht zu. Angesichts von insgesamt 89 Krankheitstagen sei das Urlaubsgeld aufgezehrt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich des Entgelts für den Monat Juni 2020 in voller Höhe, hinsichtlich des Entgelts für den Monat Juli 2020 in Höhe von € 696,90 brutto und hinsichtlich des Urlaubsgelds in Höhe von € 166,00 brutto nebst Zinsen auf diesen Betrag stattgegeben. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Klägerin könne erneut Entgeltfortzahlung beanspruchen. Eine Fortsetzungserkrankung liege nicht vor. Zudem habe die Klägerin zwischen den Erkrankungen gearbeitet, ohne dass es zu Problemen gekommen sei. Die Sonderzahlung sei zwar gemäß § 4a EFZG zu kürzen. Mangels konkreter Regelungen hierzu richte sich die Kürzung nach billigem Ermessen. Angesichts der erbrachten Arbeitsleistungen erscheine es unangemessen, eine Kürzung auf Null vorzunehmen. Ein Betrag etwa in Höhe der niedrigsten bisher geleisteten Zahlung sei angemessen.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer frist- und formgerecht eingelegten Berufung. Die Klägerin sei nach den Befunden der Hausärztin schon im Zeitraum vom 20.04. bis 29.05.2020 psychisch instabil gewesen. Sie habe Rückenschmerzen gehabt und an Migräne gelitten. Die Diagnose Z60 G sei schlichtweg falsch, weil diese nicht zu den Befunden passe. Letztlich liege beiden Erkrankungen dasselbe Krankheitsbild zugrunde. Die Rückenverspannung habe über den 29.05.2020 hinaus fortbestanden. Die Klägerin habe nicht bewiesen, dass der Geschäftsführer der Beklagten sie am 02.06.2020 in eine seelische Not gebracht habe. Darüber hinaus habe das Arbeitsgericht die Beklagte zu Unrecht zur Zahlung eines Urlaubsgeldes verurteilt. Einem theoretisch möglichen Urlaubsgeldanspruch in Höhe von € 830,52 brutto stehe eine Arbeitsunfähigkeit im Umfang von 89 Krankheitstagen gegenüber. Bei einem Anrechnungsbetrag von € 23,07 täglich verbleibe kein auszuzahlender Anspruch mehr.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 06.01.2021 – Aktenzeichen 1 Ca 1081/20 – in Gestalt des Ergänzungsbeschlusses vom 17.05.2021 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Klägerin sei gesund gewesen, als sie am 02.06.2020 wieder zur Arbeit gegangen sei. Sie habe zu diesem Zeitpunkt weder an Rückenschmerzen noch an Migräne gelitten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zwar zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage in dem noch anhängigen Umfang zu Recht stattgegeben.

1. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Die Klägerin hat aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum 03. bis 30.06.2020 sowie 01. bis 14.07.2020 in Höhe von € 1.887,76 und € 696,90 brutto.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.

Die Begriffe „Arbeitsunfähigkeit“ und „Krankheit“ sind nicht deckungsgleich. Eine Krankheit führt nicht zwangsläufig zu einer Arbeitsunfähigkeit (ErfK/Reinhard, 22. Aufl. 2022, § 3 EFZG, Rn. 9). Die Arbeitsfähigkeit beurteilt sich grundsätzlich nach der vom Arbeitnehmer arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung, wie sie der Arbeitgeber ohne die Arbeitsunfähigkeit als vertragsgemäß annehmen muss. Arbeitsunfähigkeit liegt danach vor, wenn der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Tätigkeit nicht mehr ausüben kann oder nicht mehr ausüben sollte, weil die Heilung der Krankheit nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert würde (BAG, Beschluss vom 28. Juli 2020 – 1 ABR 5/19 – Rn. 30, juris = ZTR 2020, 736; BAG, Urteil vom 02. November 2016 – 10 AZR 596/15 – Rn. 30, juris = NZA 2017, 183).

Wird der Arbeitnehmer nach wiederhergestellter Arbeitsfähigkeit erneut krankheitsbedingt arbeitsunfähig, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, entsteht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG grundsätzlich ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Dauer von sechs Wochen, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einer anderen Krankheit beruht (BAG, Urteil vom 25. Mai 2016 – 5 AZR 318/15 – Rn. 10, juris = NZA 2016, 1076). Beruht die Arbeitsunfähigkeit auf derselben Krankheit, richtet sich der Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG. Der Arbeitnehmer verliert in diesem Fall den Anspruch für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nicht, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist.

Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist nach dem Grundsatz der Einheit des Verhinderungsfalls auch dann auf die Dauer von 6 Wochen beschränkt, wenn während bestehender Arbeitsunfähigkeit eine neue Krankheit auftritt, die ebenfalls Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BAG, Urteil vom 25. Mai 2016 – 5 AZR 318/15 – Rn. 13, juris = NZA 2016, 1076). Erst nach Beendigung des einen Verhinderungsfalles kann ein zweiter Verhinderungsfall eintreten und neue Entgeltfortzahlungsansprüche auslösen (BAG, Urteil vom 01. Juni 1983 – 5 AZR 468/80 – Rn. 20, juris = NJW 1984, 199). In diesem Fall kann der Arbeitnehmer bei entsprechender Dauer der durch beide Erkrankungen verursachten Arbeitsverhinderung die Sechs-Wochen-Frist nur einmal in Anspruch nehmen. Ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch entsteht nur, wenn die erste krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits in dem Zeitpunkt beendet war, in dem die weitere Erkrankung zu einer erneuten Arbeitsverhinderung führt. Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer zwischen zwei Krankheiten tatsächlich gearbeitet hat oder jedenfalls arbeitsfähig war, sei es auch nur für wenige außerhalb der Arbeitszeit liegende Stunden (BAG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 – Rn. 13, juris = NJW 2020, 1386).

Im Regelfall ist davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer nach einer Zeit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit wieder arbeitsfähig ist, wenn er tatsächlich Arbeit leistet. Nimmt der Arbeitnehmer seine Arbeit wieder auf, ist der Verhinderungsfall – die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit – im Regelfall beendet (BAG, Urteil vom 01. Juni 1983 – 5 AZR 468/80 – Rn. 20, juris = NJW 1984, 199; BAG, Urteil vom 14. September 1983 – 5 AZR 70/81 – Rn. 13, juris = MDR 1984, 258).

Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (BAG, Urteil vom 08. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 11, juris; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 – Rn. 16, juris = NJW 2020, 1386).

Ist der Arbeitnehmer innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG länger als sechs Wochen an der Erbringung der Arbeitsleistung verhindert, gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Zunächst muss der Arbeitnehmer – soweit sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dazu keine Angaben entnehmen lassen – darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierzu kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Bestreitet der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, hat der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Hierzu hat er den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden. Die Folgen der Nichterweislichkeit einer Fortsetzungserkrankung hat der Arbeitgeber zu tragen (BAG, Urteil vom 31. März 2021 – 5 AZR 197/20 – Rn. 26, juris = NZA 2021, 1041; BAG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18 – Rn. 17, juris = NJW 2020, 1386).

Die Klägerin ist ab dem 03.06.2020 nicht infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig gewesen, die bereits der Arbeitsunfähigkeit im April/Mai 2020 zugrunde lag. Die Klägerin hat im Rahmen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast durch Vorlage der ärztlichen Feststellungen und Diagnosen in ausreichendem Umfang belegt, dass die Arbeitsunfähigkeiten auf verschiedenen Krankheiten beruhten. Auslöser für den erneuten Arztbesuch waren die Personalgespräche, unabhängig davon, wie diese verlaufen sind und ob diese zu Missverständnissen geführt haben. Die Klägerin jedenfalls hat diese Gespräche als so belastend empfunden, dass sie zu psychosomatischen Symptomen geführt haben. Die Hausärztin hat aufgrund dessen zunächst die Diagnose Z60 G (Kontaktanlässe mit Bezug auf die soziale Umgebung) gestellt und diese später um die Diagnose F32.1 G (mittelgradige depressive Episode) ergänzt. Die vorherige, bis zum 29.05.2020 maßgebliche Diagnose M62.88 betraf hingegen ein Myofasziales Schmerzsyndrom im Schulter-Nackenbereich beidseits. Zwar mag die Klägerin während dieser Erkrankung gegenüber der Ärztin bereits das geringe Verständnis der Arbeitgeberin beklagt haben. Einen vergleichbaren Anlass wie die Gespräche am 02.06.2020 gab es seinerzeit jedoch nicht. Die damalige Diagnose hing nicht mit Spannungen zwischen der Klägerin und dem Geschäftsführer der Beklagten zusammen.

Die Erkrankung ab dem 03.06.2020 ist ein neuer Verhinderungsfall. Sie ist nicht zu einer bereits bestehenden Arbeitsunfähigkeit hinzugetreten. Vielmehr hat die Klägerin am 02.06.2020 die Arbeit wieder aufgenommen und den zeitlich überwiegenden Teil ihrer arbeitstäglichen Leistung bereits erbracht. Es kann dahinstehen, ob sie an diesem Tag vollständig gesund war oder weiterhin an Verspannungen litt, die z. B. eine physiotherapeutische oder eine medikamentöse Behandlung erforderten. Arbeitsunfähig war sie deshalb jedenfalls nicht. Sie konnte ihre Arbeitsleistung erbringen. Desgleichen war sie in der Lage, Personalgespräche mit dem Geschäftsführer der Beklagten zu führen.

Der Entgeltfortzahlungsanspruch ist auch der Höhe nach berechtigt. Nach § 4 Abs. 1 EFZG ist das dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt fortzuzahlen. Im Monat Juni 2020 ergibt sich die Höhe der Entgeltfortzahlung aus der Differenz zwischen dem vertraglich geschuldeten und dem gezahlten Bruttogehalt. Im Monat Juli 2020 steht der Klägerin für den Zeitraum 01. bis 14.07.2020, also rund einen halben Monat, mindestens der vom Arbeitsgericht ausgeurteilte Betrag in Höhe von € 696,90 brutto zu.

2. Urlaubsgeld

Nach dem Arbeitsvertrag der Parteien kann das Urlaubsgeld für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit um bis zu einem Viertel des Arbeitsentgelts gekürzt werden. Eine solche Vereinbarung ist nach § 4a EFZG zulässig. In welchem Umfang gekürzt wird, steht laut Arbeitsvertrag im Ermessen der Beklagten. Eine automatische Kürzung ist nicht vorgesehen.

Nach § 315 Abs. 1 BGB ist, sofern die Leistung durch einen der Vertragsschließenden bestimmt werden soll, im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. Die Bestimmung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil (§ 315 Abs. 2 BGB). Die getroffene Bestimmung ist für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht; entspricht sie nicht der Billigkeit, wird die Bestimmung durch Urteil getroffen (§ 315 Abs. 3 BGB).

Eine Leistungsbestimmung entspricht billigem Ermessen, wenn die wesentlichen Umstände des Falls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die Ermessensentscheidung zu treffen hat (BAG, Urteil vom 24. Oktober 2018 – 10 AZR 285/16 – Rn. 50, juris = NZA 2019, 387).

Die Entscheidung der Beklagten, das Urlaubsgeld der Klägerin auf Null zu kürzen, berücksichtigt die Interessen der Klägerin nicht angemessen. Davon ist das Arbeitsgericht zutreffend ausgegangen, da die Klägerin im laufenden Kalenderjahr durchaus Arbeitsleistungen erbracht hat. Ein zusätzliches Urlaubsgeld hat regelmäßig den Zweck, einen Beitrag zu den im Urlaub üblicherweise entstehenden Mehraufwendungen zu leisten. Andererseits besteht ein Interesse des Arbeitgebers, die Lohnkosten bei einem Ausfall von Arbeitsleistung aufgrund von Krankheit zumindest teilweise zu verringern. Der Kürzungsfaktor kann laut Arbeitsvertrag der Parteien zwischen 0 und ¼ des Arbeitsentgelts betragen. Wesentlich hierfür ist der Umfang der erbrachten Arbeitsleistungen.

Das arbeitstäglichen Entgelt der Klägerin betrug zuletzt durchschnittlich € 92,31 brutto (€ 2.000,00/130 Stunden je Monat x 6 Stunden täglich). Bei Ausscheiden der Klägerin waren in dem Kalenderjahr 2020 insgesamt 76 Arbeitstage krankheitsbedingt ausgefallen. Der Zeitraum des Urlaubs im Juli 2020 ist nicht als Ausfallzeit zu berücksichtigen. Ohne Kürzung ergäbe sich nach den Berechnungen der Parteien ein Urlaubsgeld in Höhe von € 830,52 brutto. Der Ansatz des Arbeitsgerichts führt im Ergebnis zu einer Kürzung des Urlaubsgelds je Arbeitsunfähigkeitstag um rund 10 % des arbeitstäglichen Verdienstes. Diese Bewertung ist im Hinblick auf eine grundsätzlich vorhandene Spannbreite von 0 – 25 % nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

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