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Fristlose Arbeitnehmerkündigung bei Unterschlagung von Fahrgeldern

Hessisches Landesarbeitsgericht – Az.: 10 Sa 347/21 – Urteil vom 10.09.2021

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach a.M. vom 17. März 2021 – 4 Ca 478/20 – teilweise abgeändert und wie folgt neu erfasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des zwischen ihnen begründeten Arbeitsverhältnisses sowie über die Entfernung mehrerer Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers.

Der am xx.xx.1980 geborene und zu einem Grad von 50 behinderte Kläger ist auf Grundlage des Arbeitsvertrages vom 17. Juli 2018 seit dem 18. Juli 2018 für die Beklagte als Omnibusfahrer tätig. Hinsichtlich der Einzelheiten des Arbeitsvertrags wird verwiesen auf Bl. 5 – 12 der Akte. Durchschnittlich verdiente er monatlich Euro 2.400,00 brutto.

Fristlose Arbeitnehmerkündigung bei Unterschlagung von Fahrgeldern
(Symbolfoto: Andrey Klyukshin/Shutterstock.com)

Mit mehreren Schreiben vom 30. Oktober 2020 (Bl. 16, 17 und 18 der Akte) sprach die Beklagte dem Kläger drei Abmahnungen aus. In der Abmahnung mit der Überschrift „Abmahnung wegen unterschlagenen Fahrgeldeinnahmen“ (Bl. 18 der Akte) ist ausgeführt:

„Im Gespräch vom 28.10.2020 haben wir Sie damit konfrontiert, dass uns durch Zeugen zugetragen wurde, dass Sie Fahrgelder angenommen, aber keinen Fahrschein ausgestellt haben. Zudem haben Sie manche Fahrgäste dazu aufgefordert einen geringeren Betrag zu zahlen, wenn sie keinen Fahrschein haben wollen. Sie haben dies zunächst abgestritten, dann jedoch zugegeben, dass es sich angeblich nur um Kleinbeträge gehandelt habe.

Sie haben hiermit Fahrgelder unterschlagen, welche unserem Auftraggeber gehören. Solch ein Verhalten verstößt grob gegen das Arbeitnehmer/Arbeitgeber Verhältnis verstößt und die Vertrauensbasis sehr darunter leidet. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie jedem Kunden einen Fahrschein ausstellen müssen, wenn dieser keinen gültigen Fahrschein vorweisen kann. Sie dürfen kein Geld annehmen, wenn Sie keinen Fahrschein rausgeben.

Verstoßen Sie weiterhin gegen diese Anweisung, sehe ich mich gezwungen, das Arbeitsverhältnis zu kündigen.

Bitte bestätigen Sie auf der Durchschrift dieses Schreibens, daß Sie die Abmahnung gelesen und verstanden haben, und daß die erhobenen Vorwürfe zutreffen.“

Der Kläger unterschrieb das Schreiben.

Am 2. Dezember 2020 fuhr der Kläger seine Route ab. An diesem Tag nahm er wiederholt von Fahrgästen Fahrgeld entgegen, streitig ist, ob er jeweils auch einen Fahrschein ausgab.

Am 3. Dezember 2020 beantragte die Beklagte bei dem Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des mit dem Kläger bestehenden Arbeitsverhältnisses (Bl. 98 ff. der Akte). Es ist zwischen den Parteien streitig, ob die Beklagte den Antrag per einfacher E-Mail oder über das zur Verfügung gestellte Online-Verfahren an das Integrationsamt übermittelte. Insoweit ist eine Eingangsbestätigung (Bl. 103 der Akte) erteilt worden. Unstreitig ist, dass sie jedenfalls ein zur Verfügung gestelltes Formular ausfüllte und unterschrieb.

Das Integrationsamt teilte der Beklagten mit Schreiben vom 3. Dezember 2020 (Bl. 48 der Akte) mit, dass der Antrag vom 3. Dezember 2020 am 3. Dezember 2020 bei ihr eingegangen und über den Antrag innerhalb von zwei Wochen zu entscheiden sei.

Mit Schreiben vom 16. Dezember 2020 (Bl. 60 f. der Akte), welches der Beklagten am 18. Dezember 2020 zuging, erteilte das Integrationsamt die Zustimmung. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Der Widerspruch ist am 23. Juni 2021 zurückgewiesen worden (Bl. 207 – 208 der Akte).

Die Beklagte kündigte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich mit Schreiben vom 18. Dezember 2020 (Bl. 15 der Akte).

Mit seiner bei dem Arbeitsgericht Offenbach a.M. am 30. Dezember 2020 eingegangenen und der Beklagten am 12. Januar 2021 zugestellten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung sowie die Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte geltend gemacht.

Mit Schreiben vom 18. Januar 2021 (Bl. 65 f. der Akte) erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zur hilfsweisen ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 25. Januar 2021 Widerspruch ein. Die Beklagte sprach sodann mit Schreiben vom 25. Januar 2021 (Bl. 40 der Akte) eine hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger aus.

Wegen der streitigen Tatsachenbehauptungen und Rechtsansichten der Parteien in der ersten Instanz wird nach § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Offenbach a.M. hat mit Urteil vom 17. März 2021 der Klage teilweise, nämlich in Bezug auf die Kündigungsschutzklage gegen die außerordentliche Kündigung vom 18. Dezember 2020, stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die außerordentliche Kündigung halte einer gerichtlichen Kontrolle nicht stand. Zwar habe die Beklagte behauptet, dass der Kläger Fahrgeld unterschlagen habe. Allerdings sei unklar geblieben, ob der Kläger das Geld, welches er eingenommen und für welches er einen Fahrschein erstellt hat, sich auch tatsächlich zugeeignet habe. Eine auf Nachlässigkeit beruhende Pflichtverletzung erachte die Kammer nicht als so schwerwiegend, dass die Beklagte nicht die ordentliche Kündigungsfrist hätte einhalten können. Allerdings werde das Arbeitsverhältnis aufgrund der hilfsweisen ordentlichen Kündigung beendet. Der Kläger habe eine Pflichtverletzung begangen, indem er am 2. Dezember 2020 Fahrgelder eingenommen, aber keinen Fahrschein erstellt habe. Das Bestreiten des Klägers mit Nichtwissen sei an diesem Punkt unzulässig. Die Kündigung sei auch nicht unverhältnismäßig. Der Kläger sei bereits einmal entsprechend abgemahnt worden. Die Kündigung sei auch nicht gemäß der §§ 168 SGB IX, 134 BGB unwirksam. Eine Bindungswirkung an den Verwaltungsakt der Arbeitsgerichte bestünde auch dann, wenn der Bescheid noch nicht unanfechtbar geworden sei. Selbst wenn die Beklagte ihren Zustimmungsantrag per einfacher E-Mail gestellt hätte, würde ein offensichtlich schwerer Verfahrensfehler nicht vorliegen. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses könne der Kläger nicht mehr die Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte verlangen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Urteils der ersten Instanz wird Bezug genommen auf Bl. 134 – 141 der Akte.

Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.

Das Urteil ist dem Kläger am 24. März 2021 zugestellt worden. Die Berufungsschrift des Klägers ist am 30. März 2021 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 24. Juni 2021 ist die Berufungsbegründung des Klägers am 18. Juni 2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen.

Das Urteil ist der Beklagten am 25. März 2021 zugestellt worden. Die Berufungsschrift ist am 6. April 2021 und die Berufungsbegründung am 21. Mai 2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangen.

Der Kläger vertritt in der Rechtsmittelinstanz die Auffassung, dass das Arbeitsgericht seine Kündigungsschutzklage in Bezug auf die ordentliche Kündigung zu Unrecht abgewiesen habe. Auch die ordentliche Kündigung sei rechtswidrig. Er habe sich so gut gegen die Vorwürfe verteidigt, wie er dies gekonnt habe, an nähere Einzelheiten könne er sich nicht erinnern, er stelle täglich mehrere 100 Fahrscheine aus. Bei dem angeblichen Arbeitsfehler handele es sich um einen typischen Fall der Schlechtleistung, hier hätte eine Abmahnung genügt. Die Abmahnung vom 30. Oktober 2020 wegen unterschlagener Fahrgeldeinnahmen sei unwirksam. Der Vorwurf treffe nicht zu. Es sei Sache der Arbeitgeberin, die Kündigungsgründe vollumfänglich darzulegen und zu beweisen. Dazu gehöre auch, dass sie darlegt, dass er keinen Fahrschein ausgegeben habe. Die Aussage der Zeugin A sei nicht verwertbar, da es sich insoweit um einen Lockspitzel handele. Es sei völlig unglaubhaft, dass ein ehemaliger Fahrgast von sich aus mit dem Anliegen die Arbeitgeberin kontaktiert habe. Des Weiteren vertritt der Kläger die Auffassung, dass die Beklagte keinen ordnungsgemäßen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung des Integrationsamts gestellt habe. Nach richtiger Wertung sei nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGB IX die Schriftform einzuhalten, dem genüge eine E-Mail nicht. Dies führe zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts. Soweit das Arbeitsgericht die fristlose Kündigung als unwirksam angesehen hat, verteidigt er das Urteil der ersten Instanz.

Der Kläger stellt die Anträge, das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach a.M. vom 17. März 2021 – 4 Ca 478/20 – abzuändern und

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 25. Februar 2021 nicht zum 28. Februar 2021 sein Ende gefunden hat;

2. die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 30. Oktober 2020 wegen angekündigter Krankmeldung aus der Personalakte des Klägers zu entfernen;

3. die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 30. Oktober 2020 „wegen betriebsfremden Mitfahrern“ aus der Personalakte des Klägers zu entfernen;

4. die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 30. Oktober 2020 wegen nicht eingehaltener Arbeitsanweisungen aus der Personalakte des Klägers zu entfernen;

5. die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung wegen unterschlagener Fahrgeldeinnahmen aus der Personalakte des Klägers zu entfernen;

6. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Bedingungen als Omnibusfahrer weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte stellt die Anträge, das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach a.M. abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Ferner beantragt der Kläger, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte meint zur Begründung ihrer Berufung, dass das Arbeitsgericht zu Unrecht angenommen habe, dass die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet habe. Bei richtiger Wertung sei eine fristlose Beendigung gerechtfertigt, wenn ein Busfahrer Gelder einnehme, ohne einen Fahrschein auszustellen. In einem solchen Fall sei eine korrekte Kassenführung gar nicht möglich. Der Kläger habe auch beharrlich gehandelt, erst am 30. Oktober 2020 sei er einschlägig abgemahnt worden. Eine Zeugin, Frau A, habe sich im Nachgang zur mündlichen Verhandlung am 17. März 2021 gemeldet und berichtet, dass der Kläger von ihr am 2. Dezember 2020 Geld entgegengenommen, ihr aber keinen Fahrschein ausgegeben habe. Diesbezüglich wird auf eine zur Akte gereichten schriftliche Zeugenaussage vom 8. April 2021 Bezug genommen. Die Zeugin habe sich das Kennzeichen des Busses – …-..-…- gemerkt. Die Videoaufzeichnung der Beklagten in dem Bus sei von Herrn B gesichtet worden. Darauf sei zu sehen gewesen, wie der Kläger der Zeugin Geld abnehme, aber keinen Fahrschein ausgab. Demnach könne ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund ablenkender Umstände davon abgesehen habe, einen Fahrschein auszugeben. Auch zwei weiteren Fahrgästen habe er auf der Fahrt trotz Entgegennahme des Fahrgeldes keinen Fahrschein ausgestellt. Entsprechendes habe sich bereits mehrfach schon im Jahr 2019 ereignet. Auch dies könne die Zeugin berichten. Eine Unterschlagung sei zweifelsohne ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB. Die Frist nach § 626 Abs. 2 BGB habe am 2. Dezember 2020 begonnen. Einen Tag später habe sie den Antrag auf Zustimmung beim Integrationsamt gestellt.

Sie habe auch einen formgerechten Antrag beim Integrationsamt gestellt. Nach § 36a Abs. 2 Satz 4 SGB I könne die Schriftform ersetzt werden durch die unmittelbare Abgabe der Erklärung in einem elektronischen Formular, das von der Behörde über öffentlich zugänglichen Netze zu Verfügung gestellt werde. Von dieser Vorschrift habe das Integrationsamt C Gebrauch gemacht, indem es Arbeitgebern ein Antragsformular auf Zustimmung zur Kündigung von schwerbehinderten Menschen als transparentes Onlineverfahren zur Verfügung gestellt habe. Selbst ein Fehler gegen Formvorschriften würde nicht dazu führen, dass ein schwerer Verfahrensfehler vorläge, der zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes führe.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts, soweit es die Klage abgewiesen hat. Jedenfalls die ordentliche Kündigung habe das Arbeitsverhältnis aufgelöst. Der Kläger habe am 2. Dezember 2020 Fahrgelder eingenommen, ohne einen Fahrschein auszugeben. Dies habe sie substantiiert und mit Beweisantritten vorgetragen. Der Kläger könne insoweit nicht zulässig mit Nichtwissen bestreiten. Das Arbeitsgericht habe zu Recht angenommen, dass der Kläger an diesem Tag noch von der Arbeitgeberin angehört worden sei zu diesem Vorfall, im Anschluss daran sei seine Freistellung erfolgt. Daher spreche alles dafür, dass er sich noch an den Vorfall erinnern könne. Die Zeugin A sei auch kein Lockspitzel.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird ergänzend Bezug genommen auf sämtliche gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin A. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird verwiesen auf das Sitzungsprotokoll vom 10. September 2021 Bl. 220 bis 222 der Akte.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist begründet, die Berufung des Klägers ist hingegen unbegründet. Das Arbeitsverhältnis ist durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 18. Dezember 2020 beendet worden. Mangels Rechtsschutzbedürfnisses besteht auch kein Anspruch auf Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte.

A. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist als Bestandsstreitigkeit unproblematisch statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG). Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 519 ZPO, 66 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. ArbGG) sowie innerhalb der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist auch rechtzeitig begründet worden (§ 66 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. ArbGG).

Die Berufung des Klägers ist ebenfalls zulässig. Auch sie ist als Bestandsstreitigkeit unproblematisch statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG). Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 519 ZPO, 66 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. ArbGG) sowie innerhalb der bis zum 24. Juni 2021 verlängerten Berufungsbegründungsfrist rechtzeitig begründet worden (§ 66 Abs. 1 Satz 1 2. Alt., Abs. 1 Satz 5 ArbGG).

B. Die Berufung der Beklagten ist begründet, die Berufung des Klägers ist hingegen unbegründet. Das Arbeitsverhältnis ist durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 18. Dezember 2020 beendet worden.

I. Die außerordentliche Kündigung vom 18. Dezember 2020 ist wirksam.

1. Es liegt zunächst ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB vor.

a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15, NJW 2019, 1161; BAG 17. März 2016 – 2 AZR 110/15 – EzA § 626 BGB 2002 Nr. 56). Für das Vorliegen des Kündigungsgrunds trägt der kündigende Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast (vgl. BAG 27. Juni 2019 – 2 AZR 28/19 – Rn. 16, NZA 2019, 1343).

Eigentums- und Vermögensdelikte des Arbeitnehmers zulasten des Arbeitgebers stellen regelmäßig einen wichtigen Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Darin liegt ein erheblicher Verstoß gegen die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers nach § 241 Abs. 2 BGB. Auf die strafrechtliche Würdigung kommt es dabei nicht an, sondern auf den mit dieser Pflichtverletzung begangenen schweren Vertrauensbruch. Dies gilt im Prinzip auch bei einem rechtwidrigen Zugriff auf Eigentum des Arbeitgebers von geringem Wert (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. NZA 2019, 445).

b) Nach diesen Gründen ist davon auszugehen, dass ein wichtiger Grund an sich vorliegt, um eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Denn es steht für die Kammer fest, dass der Kläger am 2. Dezember 2020 Geld von einer Kundin entgegennahm, ohne einen Fahrschein auszustellen. Da der Kläger keine andere plausible Erklärung angegeben hat, ist naheliegenderweise davon auszugehen, dass er das Geld für sich verwendet hat. Damit ist die Vertrauensgrundlage im Arbeitsverhältnis entfallen.

aa) Der Kläger hat am 2. Dezember 2020 Geld (mindestens in einem Fall) von einer Kundin entgegengenommen, ohne einen Fahrschein auszustellen.

(1) Die Beklagte hat im Prozess behauptet, dass der Kläger am 2. Dezember 2020 Geld von einer Kundin entgegengenommen hat, ohne einen Fahrschein auszustellen. Das Arbeitsgericht hat das Bestreiten des Klägers insoweit als nicht erheblich angesehen. Der Kläger könne nicht darauf abstellen, dass er sich an den Vorfall nicht erinnern könne, da er noch am gleichen Tag zu einem Personalgespräch gebeten und freigestellt worden ist. Dies sei ein so einschneidendes Erlebnis gewesen, dass es völlig unplausibel erscheine, dass der Kläger sich auf Gedächtnislücken zurückziehen könne. Dies erscheint nachvollziehbar und plausibel, weshalb auch in der Berufungsinstanz eine andere Bewertung nicht vorzunehmen ist. Der Kläger hat in der Rechtsmittelinstanz lediglich sein bisheriges Vorbringen wiederholt und dargetan, dass er pro Tag mehrere 100 Fahrscheine ausstelle und sich nicht an jeden Vorgang erinnern könne. Dabei vermag der Kläger indes nicht zu erklären, weshalb das Personalgespräch und die Freistellung vom gleichen Tag es nicht vermocht haben sollen, den fraglichen Tag eindringlicher in seinem Gedächtnis zurückzulassen. Dem Kläger ist von der Arbeitgeberin hier zeitnah ein konkreter Vorwurf gemacht worden, es geht nicht darum, dass ein Arbeitnehmer erst nach Monaten oder Jahren der Vorwurf einer Pflichtwidrigkeit gemacht werden sollte. Letztendlich ist die Behauptung, dass sich der Kläger nicht daran erinnern könne, ob er trotz Einnahme von Fahrgeldern einen Fahrschein ausgegeben hat, als bloße Schutzbehauptung zu werten.

(2) Der Vorwurf der Arbeitgeberin umfasst Umstände, die Gegenstand der eigenen Wahrnehmung des Arbeitnehmers gewesen sind. Der Kläger hätte sich daher nach § 138 Abs. 2, 3 ZPO zu dem Vorwurf substantiiert äußern müssen. Da dies nicht geschehen ist, gilt es als zugestanden, dass der Kläger am 2. Dezember 2020 Fahrgeld entgegengenommen hat, ohne einen Fahrschein auszugeben.

(3) Dies steht des Weiteren fest aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme (§ 286 Abs. 1 ZPO). In der Berufungsinstanz hat die Beklagte eine Zeugin als Beweismittel angeboten. Die Zeugin A hat die Behauptungen der Beklagten bestätigt.

Die Zeugin hat zu Protokoll erklärt, dass der Kläger bei der Busfahrt kurz vor Weihnachten behauptet habe, dass das Gerät defekt gewesen sei, er habe gleichwohl das Geld, nämlich 2,75 Euro, entgegengenommen. Die Zeugin erklärte, sie sei sich ziemlich sicher, dass er das Geld vereinnahmt habe, sie habe nicht gehört, dass er das Geld in die Kasse gelegt habe. Von ihrem Sitzplatz aus habe sie zwar nicht sehen können, dass er das Geld eingesteckt habe, er habe es aber auch nicht in die Kasse gelegt. Diese habe sie von ihrem Sitzplatz aus noch im Blick gehabt. Die Zeugin brachte auch zum Ausdruck, dass sie einen ähnlichen Vorfall ein Jahr zuvor vor Weihnachten beim Kläger beobachtet habe. Die Zeugin konnte berichten, dass der Kläger auch einem weiteren Fahrgast, einer Mutter mit einem Kind, sinngemäß erklärt habe, dass das Gerät defekt sei, gleichwohl habe er das Geld entgegengenommen.

Damit hat die Zeugin die Behauptungen der Arbeitgeberin bestätigt. Die Aussage der Zeugin wertet die Kammer als glaubhaft. Richtig ist zwar, dass die Zeugin anlässlich ihrer Vernehmung widersprüchliche Angaben gemacht hat, was die Zeiten anging, an denen sie in dem Bus ein- und ausstieg. Nach Ansicht der Kammer war dies aber erkennbar der Aufregung der Zeugin bei ihrer Aussage vor Gericht geschuldet. Im Hinblick auf die eigentliche Beweistatsache hat die Zeugin keine widersprüchlichen Angaben gemacht.

Die Zeugin ist auch als glaubwürdig anzusehen. Eine gewisse Belastungstendenz konnte die Kammer durchaus feststellen. Zum Ende ihrer Vernehmung hat die Zeugin zum Ausdruck gebracht, dass sie den Kläger so einschätze, dass er minderjährige Mädchen im Bus „anbaggere“, außerdem sei er auch mit Ohrenstöpsel in den Ohren Bus gefahren. Damit hat sie durchaus ein schlechtes Bild insgesamt vom Kläger gezeichnet. Gleichwohl hat die Kammer auch keine Anhaltspunkte anzunehmen, dass die dahinterstehenden Tatsachen nicht zutreffend seien. Eine Belastungstendenz, die die Zeugin dazu bewegen könnte, vor Gericht die Unwahrheit zu sagen, könnte darin zu sehen sein, dass sie von der Arbeitgeberin bewusst auf den Kläger angesetzt worden sei. Dies hat die Zeugin auf Nachfrage allerdings verneint. Es ist auch nicht völlig ungewöhnlich oder unglaubhaft, wenn die Zeugin angab, sich über den Busfahrer geärgert zu haben und von sich aus per Handy die Arbeitgeberin von dem Vorfall benachrichtigte. Zwar würden viele Mitbürger in einer solchen Situation sich nicht solche Umstände machen, Ausnahmen bestätigen indes die Regel. Die Kammer glaubt der Zeugin, dass sie sich tatsächlich über den Kläger geärgert hat und aus altruistischen Motiven den Vorfall ans Licht der Öffentlichkeit bringen wollte. Es ist auch nicht so, dass sich die Zeugin „plötzlich“ nach mehreren Monaten an den Vorfall erinnerte und von sich aus eine schriftliche Zeugenaussage bei der Beklagten einreichte, vielmehr hat die Arbeitgeberin die Zeugin vor der schriftlichen Aussage kontaktiert und um die Einreichung des Schreibens gebeten.

(4) Selbst wenn die Beklagte die Zeugin A gezielt auf den Kläger angesetzt hätte, um ihn einer Ehrlichkeitskontrolle zu unterziehen, würde gleichwohl ein Kündigungsgrund anzunehmen sein.

(a) Stellt der Arbeitgeber eine Situation her, in der er durch Dritte oder eigenes Personal die Ehrlichkeit von Arbeitnehmern testet, kann ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers vorliegen (Art. 2 Abs. 1 GG). Der Arbeitgeber darf den Arbeitnehmer nicht zu einer Straftat provozieren. Ehrlichkeitstests sind aber nicht ohne Weiteres rechtswidrig. Möglich ist es, insbesondere wenn sonst keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, dass der Arbeitgeber in alltäglichen Situationen testet, ob der Arbeitnehmer sich rechtmäßig verhält (vgl. BAG 18. November 1999 – 2 AZR 743/98 – RdA 2001, 49, 51; ErfK/Niemann 21. Aufl. § 626 Rn. 95). Letzteres kann gerade bei Mitarbeitern an der Kasse angenommen werden (Ulrich/Ulrich in Münchener Anwaltshandbuch 5. Aufl. § 43 Rn. 349; Ricken Anm. zu BAG 18. November 1999 – 2 AZR 743/98 – RdA 2001, 49, 54). Es kommt dabei auch auf den Anlass der Tests an und darauf, ob Überwachungstechnik eingesetzt wird (vgl. MHdB ArbR/Reichold 5. Aufl. § 55 Rn. 32).

(b) Im vorliegenden Fall ist nichts dafür ersichtlich, dass der Arbeitgeber eine „besondere Verführungssituation“ initiiert hat. Er hat lediglich das alltägliche Kassierverhalten des Klägers als Teil dessen Arbeit kontrolliert. Damit ist ihm keine besondere „Falle“ gestellt worden, es ist keine – außerhalb der normalen Arbeitstätigkeit – bestehende Provokation geschaffen worden. Ein solcher „Ehrlichkeitstest“ ohne das Verführen zur Pflichtwidrigkeit aufgrund arrangierter Umstände ist grds. rechtmäßig und muss vom Arbeitnehmer hingenommen werden (ErfK/Niemann 21. Aufl. § 626 BGB Rn. 95; Ricken Anm. zu BAG 18. November 1999 – 2 AZR 743/98 – RdA 2001, 49, 54; NK-ArbR/Kerwer 1. Aufl. § 1 KSchG Rn. 1035; kritisch bei unangekündigten Testkäufen durch Dritte ArbG Gelsenkirchen 9. April 2009 – 5 Ca 2327/08 – BeckRS 2010, 74340). Bei Kassiervorgängen bleibt dem Arbeitgeber auch sonst praktisch keine effektive Möglichkeit, Untreuehandlungen aufzudecken.

bb) Die Kammer teilt indes nicht die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass das Fehlverhalten des Klägers nur zum Ausspruch einer ordentlichen Kündigung berechtigte. Zwar ist es zutreffend, dass die Beklagte einen konkreten bei ihr eingetretenen Vermögensschaden, etwa durch die Vorlage eines Kassenbuches, nicht belegt hat. Das Arbeitsgericht hat den gesamten Vortrag der Arbeitgeberin aber nicht hinreichend gewürdigt, der darin besteht, dass das Verhalten des Klägers eine Unterschlagung von Firmengeldern darstellt. Ein Arbeitgeber kann in vergleichbaren Situationen, bei denen es um Straftaten während des Arbeitsverhältnisses geht, grundsätzlich nur Indizien für die äußere Tathandlung darlegen, in aller Regel ist es unmöglich, auch den subjektiven Tatbestand darzulegen, auf eine Zueignungsabsicht etc. muss regelmäßig aufgrund der objektiven Umstände geschlossen werden. Wenn aber davon auszugehen ist, dass der Kläger am 2. Dezember 2020 Fahrgelder entgegengenommen hat, ohne hierfür einen Fahrschein auszustellen, so spricht alles dafür, dass er sich das Geld rechtswidrig zueignen wollte und auch zugeeignet hat.

Einen plausiblen Grund, weshalb der Kläger Geld entgegennahm, ohne einen Fahrschein auszustellen, hat er im Verlauf des Prozesses nicht genannt. Insoweit könnte man daran denken, dass es hier technische Mängel gegeben hat, die das Ausdrucken eines Fahrscheins unmöglich machten; einen entsprechenden Sachvortrag hat der Kläger aber nicht gehalten. Soweit der Kläger andeutet, dass er fahrlässig gehandelt haben könnte und die Ausgabe des Fahrscheins schlicht vergessen haben könnte, erscheint dies völlig unglaubwürdig. Es gehört zu den wesentlichen Pflichten eines Fahrers, Fahrscheine auszugeben. Dass die Ausgabe eines Fahrscheins schlicht „vergessen“ werden kann, wenn man Fahrgeld einnimmt, erscheint nahezu ausgeschlossen. Wenn der Arbeitnehmer – so wie im vorliegenden Fall – keinen nachvollziehbaren Entschuldigungsgrund vorgetragen hat, bleibt grundsätzlich nur der Schluss, ihm eine „böse Absicht“ zu unterstellen. Nach dem Vortrag der Arbeitgeberin besaßen alle Fahrer eine eigene Kasse, die sie bei der Beklagten ablieferten. Wenn insoweit nach Kassenlage keine Tickets ausgegeben wurden, dürfte es nicht auffallen, wenn das eingenommene Geld später wieder aus der Kasse entnommen wurde.

2. Die Kündigung stellt sich auch nicht als unverhältnismäßig dar, insbesondere ist der Kläger einschlägig abgemahnt worden.

Mit Schreiben vom 30. Oktober 2020 ist dem Kläger u.a. der Vorhalt gemacht worden, dass er nach Zeugenaussagen Fahrgelder angenommen, aber keinen Fahrschein ausgestellt habe. Zudem habe er manche Fahrgäste aufgefordert, einen geringeren Betrag zu zahlen, wenn sie keinen Fahrschein haben wollten. Nach den Behauptungen der Arbeitgeberin habe der Kläger in dem am 28. Oktober 2020 stattgefundenen Gespräch dieses Verhalten zunächst abgestritten, dann jedoch eingeräumt, dass er „Kleinbeträge“ angenommen habe. Der Kläger hat diese Abmahnung auch – unstreitig – unterschrieben, wobei vorformuliert war, dass der Arbeitnehmer mit seiner Unterschrift auch bestätigen solle, dass die erhobenen Vorwürfe zutreffen.

Hierzu hat sich der Kläger eingelassen, dass es allein richtig sei, dass er es unterlassen habe, ordnungsgemäß zu kassieren, lediglich dies hätte er in einem Personalgespräch eingeräumt. Er hat bestritten, dass er Fahrgäste dazu aufgefordert haben soll, einen geringeren Betrag zu zahlen, wenn sie keinen Fahrschein kaufen wollten. Die Beklagte habe ihn die Unterschrift unter die Abmahnung letztlich abgenötigt. Damit habe er keinesfalls die erhobenen Vorwürfe bestätigen wollen. Damit hat er nicht die konkrete Behauptung der Arbeitgeberin wirksam bestritten, dass er im Einzelfall auch Kleinbeträge entgegengenommen hat und dies auch im Personalgespräch eingeräumt hat. Auch nach seinem eigenen Vortrag hat er eingeräumt, nicht stets „ordnungsgemäß kassiert“ zu haben.

3. Die stets vorzunehmende Interessenabwägung geht ebenfalls zulasten des Klägers aus. Zu seinen Gunsten spricht, dass er eine Schwerbehinderung aufweist. Da er erst seit Juli 2018 für die Beklagte tätig war, besteht hier lediglich eine Betriebszugehörigkeit von etwas mehr als zwei Jahren. Zu seinen Lasten spricht, dass durch sein Verhalten die Vertrauensgrundlage im Arbeitsverhältnis nachhaltig zerstört ist. Ein Arbeitgeber muss sich ohne Einschränkungen darauf verlassen können, dass Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Kassiervorgängen sorgfältig und gewissenhaft vorgehen und nicht nach eigenem Gutdünken Ausnahmen von vorgegebenen Richtlinien machen. Daher sind auf Beträge von nur wenigen Euro von Relevanz. Der Kläger ist auch zuvor abgemahnt worden und es musste ihm bewusst sein, dass er bei nochmaligen Unregelmäßigkeiten beim Kassieren mit einer Kündigung rechnen muss. Dass er nur wenige Wochen nach dem Personalgespräch bei der Arbeitgeberin erneut am 2. Dezember 2020 Gelder vereinnahmte, ohne einen Fahrschein auszustellen, spricht für einen besonders hartnäckigen Pflichtverstoß. Der Kläger kann sich auch nicht auf einen im (langjährigen) Arbeitsverhältnis erarbeiteten Vertrauensvorschuss berufen. Das Arbeitsverhältnis ist aufgrund der vorausgegangenen Abmahnungen gerade nicht ungestört verlaufen.

4. Die Kündigung verstößt auch nicht gegen § 168 SGB IX, da das Integrationsamt zuvor mit Bescheid vom 16. Dezember 2020 die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung erteilt hat. Es ist zwischen den Parteien streitig, ob die Arbeitgeberin das im Internet zur Verfügung gestellte Onlineverfahren für die Antragstellung genutzt hat oder die Unterlagen ausgedruckt und sodann per E-Mail an das Integrationsamt versendet hat. Zu Gunsten des Klägers kann unterstellt werden, dass per einfacher E-Mail die Antragstellung erfolgt ist. Auch in diesem Fall wäre die Formvorschrift des § 170 SGB IX gewahrt, hilfsweise ist davon auszugehen, dass dadurch der Verwaltungsakt über die Zustimmung nicht nichtig wäre und deshalb die Arbeitsgerichte weiter an die Zustimmung der Behörde gebunden sind.

a) § 170 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmt, dass der Arbeitgeber die Zustimmung zur Kündigung bei dem für den Sitz des Betriebes oder der Dienststelle zuständigen Integrationsamt schriftlich oder elektronisch beantragt. Die Schriftform nach § 126 Abs. 1 BGB, die eine eigenhändige Unterschrift erfordert, ist nicht gewahrt worden. Dies behauptet auch die Beklagte nicht.

Was der Gesetzgeber unter „elektronisch“ versteht, ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Eine Ansicht geht davon aus, dass in diesem Fall die Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 bzw. 2 SGB I vorliegen müssen (vgl. ErfK/Rolfs 21. Aufl. § 170 SGB IX Rn. 2); nach a.A. soll es auf § 126a BGB ankommen (KR/Gallner 12. Aufl. §§ 168 – 173 SGB IX Rn. 70; vgl. auch BeckOK SozR/Gutzeit Stand: 01.06.2021 § 170 SGB IX Rn. 11). Dann hätte die Beklagte eine qualifizierte elektronische Signatur verwenden müssen oder das Formular über das vom Integrationsamt eröffnete Onlineportal versenden müssen. Eine andere Ansicht geht davon aus, dass der Gesetzgeber mit einer elektronischen Antragstellung eine möglichst formfreie Übersendung auf elektronischem Weg, auch per E-Mail, ermöglichen wollte (Düwell in Dau/Düwell/Joussen SGB IX 5. Aufl. § 170 Rn. 6; MHdB/Zimmermann 4. Aufl. § 198 Rn. 114; DDZ/Deinert/Söhngen/Zwanziger/Voigt 11. Aufl. § 171 Rn. 4). Dafür spreche insbesondere, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung selbst davon ausgeht, dass eine Antragstellung per E-Mail ausreichend sei (BT-Drucks. 18/10183, 64). Dafür spreche ferner, dass die ansonsten in der elektronischen Kommunikation eröffneten Schriftlichkeitsanforderungen, die einen sicheren Identitätsnachweis nach § 18 PersonalausweisG oder nach § 78 Abs. 5 AufenthaltsG voraussetzen, bislang kaum eine Rolle spielten. Dies musste auch dem Gesetzgeber bewusst gewesen sein. Eine Antragstellung auf elektronischem Weg bedeutet dann, dass ein elektronischer Übermittlungskanal verwendet wird, ohne dass damit weitergehende Anforderungen, etwa an eine Authentifizierung, einhergehen.

Dieser letztgenannten Ansicht ist zu folgen. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit nicht eindeutig, der Wille des Gesetzgebers kommt allerdings deutlich in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck. Auch Sinn und Zweck der Regelung gebieten nicht eine größere Formstrenge. Bei einer Antragstellung nach § 170 SGB IX geht es nicht um einen Übereilungsschutz mit einer Warnfunktion, sondern es geht darum, dass deutlich ist, wer Antragsteller ist und was Gegenstand des Antrags sein soll. Diese Aspekte der Rechtssicherheit können ausreichend beachtet werden, wenn eine verschriftliche Form, also im Ergebnis eine Textform nach § 126b BGB, verwendet wird (vgl. BeckOK SozR/Gutzeit Stand: 01.06.2021 § 170 SGB IX Rn. 11).

b) Selbst wenn man dies anders sehen wollte, ist hilfsweise darauf abzustellen, dass die Zustimmung zu der Kündigung, die einen Verwaltungsakt darstellt, aufgrund des Formfehlers nicht nichtig wäre. So wird allgemein betont, dass der Arbeitgeber im Verlaufe des Widerspruchsverfahrens den Formmangel auch beheben kann. Solange der Zustimmungsbescheid infolge eines Widerspruchs oder in einem sozialgerichtlichen Verfahren nicht aufgehoben wird, sind die Arbeitsgerichte jedoch daran gebunden (vgl. APS/Vossen 6. Aufl. § 170 SGB IX Rn. 5; KR/Gallner 12. Aufl. §§ 168 – 173 SGB IX Rn. 70; weitergehend für Heilung durch den Zustimmungsbescheid NPGWJ/Neumann 14. Aufl. § 170 Rn. 1).

II. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entfernung der Abmahnungen aus der Personalakte. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat ein Arbeitnehmer regelmäßig keinen Anspruch mehr auf Entfernung selbst einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte. Ein solcher Anspruch kann nur ausnahmsweise gegeben sein, wenn objektive Anhaltspunkte dafür bestehen, eine Abmahnung könne dem Arbeitnehmer auch noch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses schaden. Entsprechende Gründe hat der Kläger nicht dargelegt (vgl. BAG 19. April 2021 – 2 AZR 233/11 – Rn. 51, NJW 2012, 3740; LAG Schleswig-Holstein 19. Juli 2016 – 1 Sa 37/16 – BeckRS 2016, 74268).

III. Da das Arbeitsverhältnis beendet worden ist, steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Weiterbeschäftigung als Busfahrer zu.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Ein gesetzlicher Grund nach § 72 Abs. 2 ArbGG, die Revision zuzulassen, liegt nicht vor.

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