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Fristlose Arbeitnehmerkündigung wegen Alkoholerkrankung

Landesarbeitsgericht Thüringen – Az.: 4 Sa 154/19 – Urteil vom 03.03.2021

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 11.04.2019 – 5 Ca 210/18 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.

Die zum Kündigungszeitpunkt 61-jährige Klägerin war bei dem Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern mindestens seit dem 01.08.1988, zuletzt als Sachbearbeiterin für Grundstücksangelegenheiten mit einem Bruttomonatsverdienst von 3.493,00 € beschäftigt.

Die Klägerin war alkoholkrank, was sie zunächst in Gesprächen mit der Personalleiterin des Beklagten leugnete.

Der Beklagte erfasste die Arbeitszeit nicht über ein automatisiertes System, sondern indem die Arbeitnehmer*innen Beginn und Ende der Arbeitszeit im PC manuell eintragen. Die Arbeitszeitberichte wurden grundsätzlich Anfang des Folgemonats von den Mitarbeitern ausgedruckt, unterschrieben und abgegeben.

Am 28.12.2017 gab die Klägerin zu Beginn ihrer Arbeit sowohl den Arbeitsbeginn 8:45 Uhr als auch das Arbeitsende um 18:00 Uhr ein. Tatsächlich verließ sie an diesem Tag ihre Arbeitsstelle bereits um 17:20 Uhr. Dies stellte sich später heraus, weil sie alkoholisiert mit ihrem PKW heimfuhr und dabei auffiel. Die Polizei griff die Klägerin noch vor 18:00 Uhr auf. Ein erster Atemalkoholtest ergab einen Alkoholgehalt von 2,67 Promille. Die um 18:24 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,91 Promille.

Am 02.01.2018 druckte die Klägerin ihren Arbeitszeitbericht für Dezember 2017 aus, unterschrieb diesen ohne die unzutreffenden Zeiten für den 28.12.2017 zu korrigieren und gab diesen ab.

Ende Februar 2018, nachdem der Klägerin wegen der Trunkenheitsfahrt per Strafbefehl rechtskräftig die Fahrerlaubnis entzogen war, teilte sie dem Beklagten mit, dass sie den Führerschein freiwillig abgegeben habe, weil sie Medikamente einnehme. Im Nachgang dieses Gesprächs teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem beklagten Landkreis den tatsächlichen Grund für den Verlust der Fahrerlaubnis mit.

Aufgrund von Presseberichten über eine Person, die am 28.12.2017 stark alkoholisiert am Straßenverkehr teilgenommen habe und der dort näher genannten Umstände hatte der Beklagte den Verdacht, es könne sich um die Klägerin handeln. Auf eine entsprechende Nachfrage verweigerte diese eine Antwort. Ab Mai 2018 bemühte sich der Prozessbevollmächtigte des Beklagten um entsprechende Akteneinsicht, die ihm erst am 10.7.2018 ermöglicht wurde.

Nach Anhörung des Personalrats kündigte der Beklagte mit Schreiben vom 20.07.2018, der Klägerin am gleichen Tage zugegangen, außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich.

Wegen des weiteren unstreitigen und streitigen Vorbringens im ersten Rechtszug sowie der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Seiten 2-7 des Urteilsabdrucks – Blatt 106-111 der Akte) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 11.04.2019 stellte das Arbeitsgericht die Unwirksamkeit der Kündigung vom 20.07.2018 sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche fest. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Seiten 8-12 des Urteilsabdrucks – Blatt 112-116 der Akte) Bezug genommen.

Gegen dieses – am 30.04.2019 zugestellte – Urteil hat der Beklagte mit am 13.05.2019 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am Montag, den 01.07.2019, eingegangenen Schriftsatz begründet.

Das Arbeitsgericht habe fehlerhaft und in unzulässiger Weise tatbestandliche Feststellungen getroffen, die nicht vom Parteienvortrag gedeckt seien. Aufgrund falscher Angaben gegenüber den bei ihm, dem Beklagten, eingerichteten Personalrat habe dieser in seiner Stellungnahme behauptet, die Klägerin habe ihren bisherigen Arbeitsplatz räumen und in ein Dachzimmer einziehen müssen, nachdem sie einen ihr im Jahr 2017 angebotenen Aufhebungsvertrag abgelehnt habe. Diesen Sachvortrag habe keine der Parteien sich zu Eigen gemacht. Wegen weiterer Einzelheiten des Vortrags des Beklagten hierzu wird auf die Seiten 2-4 der Berufungsbegründung (Blatt 137-139 der Akte) Bezug genommen.

Im Übrigen bewerte das Arbeitsgericht den Sachverhalt zu seinen, des Beklagten, Ungunsten unzutreffend. Die Klägerin habe bereits am Morgen des 28.12.2017 in die Zeiterfassung das Arbeitszeitende an diesem Tag eingetragen. Es habe sich um einen Freitag gehandelt. Die Klägerin habe davon ausgehen können, dass zu dem Zeitpunkt des angeblich geplanten Arbeitsendes niemand mehr da sei und sie nicht kontrolliert werde. Das deute auf ein gezieltes Vorgehen und eine Planung schon dahingehend, den Arbeitsplatz früher zu verlassen als eingetragen, hin. Ihre Alkoholkrankheit könne dies nicht erklären und entschuldigen, denn es sei nicht ersichtlich, dass sie bereits am Morgen des 28.12.2017 alkoholbedingt in einem schuldunfähigen Zustand gewesen sei. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, dass das Arbeitsgericht das vorzeitige Verlassen des Arbeitsplatzes als nicht steuerbares Verhalten gewertet habe. Auch die Berechnungen zur Blutalkoholkonzentration seien fehlerhaft. Wegen der Einzelheiten zur Berechnung des Blutalkoholwertes wird auf Seiten 5-6 der Berufungsbegründung (Blatt 140 und 141 der Akte) Bezug genommen.

Auf die Frage der Schuldunfähigkeit am 28.12.2017 um 17:20 Uhr, als die Klägerin den Arbeitsplatz tatsächlich verließ, komme es aber auch nicht an, weil dem Verhalten am 02.01.2018 mehr Bedeutung geschenkt werden müsse. Eine Alkoholisierung vom 28.12.2017 habe schwerlich bis zu diesem Tag fortwirken können und die Klägerin habe an diesem Tag ihre falschen Angaben noch einmal dokumentiert, nicht korrigiert und so zum Zwecke der Abrechnung bei ihm, dem Beklagten, eingereicht. Das Arbeitsgericht habe in diesem Zusammenhang seine, des Beklagten, Behauptung übergangen, zu diesem Zeitpunkt (02.01.2018) habe die Klägerin gewusst, dass die Angaben falsch gewesen seien. Über diese streitige Tatsache hätte Beweis erhoben werden müssen. Die Annahme des Arbeitsgerichts, viereinhalb Tage nach dem Vorfall sei es plausibel, wenn ein alkoholkranker Mensch keine sichere zeitliche Einordnung des Vergangenen mehr vornehmen könne, mit der es das Übergehen der Beweisangebote begründet habe, sei nicht haltbar. Es sei auch nicht einzusehen, weshalb die Klägerin alkoholbedingt die Uhr nicht mehr habe ablesen können.

Das Arbeitsgericht habe weitere Indizien nicht beachtet, welche das Verhalten der Klägerin in einem anderen Licht erscheinen ließen, so dass die Interessenabwägung im Ergebnis zu seinen, des Beklagten, Gunsten habe ausfallen müssen. Die Klägerin sei unfallfrei nach Hause gefahren und habe gegenüber der Polizei geäußert, ihr Leben „ginge nun den Bach runter“. Dies habe sie wohl auf befürchtete arbeitsrechtliche Konsequenzen bezogen. Das hätte das Arbeitsgericht innerhalb der Interessenabwägung dahingehend bewerten müssen, dass der Klägerin selbst in diesem Zustand bewusst gewesen sei, dass sie falsch gehandelt habe, weshalb von bewussten Fehlverhalten auszugehen sei. Ferner hätte das Arbeitsgericht zugunsten des Beklagten bewerten müssen, dass alkoholkranke Menschen anders als Menschen mit üblichen Trinkgewohnheiten eine höhere Alkoholverträglichkeit hätten und auch stark alkoholisiert noch steuerungsfähig seien. So habe die Klägerin Autofahren und verständlich mit der Polizei eine inhaltlich sinnvolle Unterhaltung führen können.

Der, der Klägerin zum Vorwurf gemachte, Arbeitszeitbetrug habe nichts mit ihrer Alkoholerkrankung zu tun. Nicht jedes Fehlverhalten könne mit dem Bestehen einer Alkoholkrankheit erklärt und gerechtfertigt werden. Das Arbeitsgericht habe fehlerhaft in die Interessenabwägung eingestellt, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung therapiebereit gewesen sei und sich bemüht habe, ihre Alkoholabhängigkeit zu überwinden. Es komme nur auf Tatsachen an, welche ein kündigender Arbeitgeber kenne. Andere könne er seiner Prognose nicht zugrunde legen. Er, der Beklagte, habe im Vorfeld der Kündigung zweimal Hilfe im Hinblick auf eine mögliche Alkoholerkrankung angeboten, was die Klägerin jeweils abgelehnt habe, weil sie die Alkoholerkrankung geleugnet habe.

Zum Kündigungszeitpunkt habe nicht der geringste Anlass bestanden daran zu glauben, die Haltung der Klägerin habe sich zwischenzeitlich geändert. Es hätte ihr oblegen, eine geänderte Willensrichtung ihm, dem Beklagten, mitzuteilen. Wegen der weiteren Einzelheiten diesbezüglich wird auf die Berufungsbegründung selbst sowie den Schriftsatz vom 20.02.2021 (Blatt 209-211 der Akte) der vollständige Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung der Kammer war, Bezug genommen.

Der Beklagte beantragt zum Schluss noch, das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 11.4.2019, 5 Ca 210/18, abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens als zutreffend. Das Arbeitsverhältnis sei 35 Jahre lang störungsfrei verlaufen bis zu dem Zeitpunkt, in welchem sie, die Klägerin, den ihr am 19.05.2017 angebotenen Aufhebungsvertrag nicht angenommen habe. Diesbezüglich hält die Klägerin weiteren Vortrag hinsichtlich dessen auf die Seiten 2-4 der Berufungserwiderung (Blatt 173-174 der Akte) Bezug genommen wird. Im Übrigen sei sie, die Klägerin, zu dem Zeitpunkt, als sie die Arbeitsstelle am 28.12.2017 frühzeitig verlassen habe absolut schuldunfähig gewesen, denn zu diesem Zeitpunkt habe sie eine Blutalkoholkonzentration von etwa 3,4 Promille aufgewiesen. Sie habe dieses Verhalten auch nicht bereits am Morgen geplant. Sie habe tatsächlich vorgehabt, an diesem Tag die von ihr ursprünglich geplante Arbeitszeit auch abzuleisten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist unbegründet.

Die Klage ist begründet.

Die Kündigung vom 20.07.2018 hat das Arbeitsverhältnis weder als außerordentliche noch als ordentliche Kündigung beendet, weil die notwendige Interessenabwägung im Einzelfall in beiden Fällen ergibt, dass die Kündigung hier im Ergebnis unverhältnismäßig war.

Die Kündigung war auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, denn sie war nicht gemäß der §§ 4, 7, 13 KSchG als wirksam anzusehen. Die Klägerin hat rechtzeitig innerhalb von drei Wochen (§ 4 KSchG) Klage erhoben. Die Kündigung ist ihr am 20.07.2018 zugegangen, die Kündigungsschutzklage dem Beklagten am 03.08.2018 zugestellt worden.

Die Kündigung ist als außerordentliche Kündigung unwirksam, weil die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht erfüllt sind.

Danach kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer einer kündigenden Person unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob Umstände vorliegen, die an sich geeignet sind, einen solchen wichtigen Grund für die außerordentliche Beendigung eines Arbeitsverhältnisses darzustellen und sodann zu prüfen, ob unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile der kündigenden Person die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende der Kündigungsfrist unzumutbar ist.

Die Kammer lässt im Ergebnis offen, ob ein Umstand vorliegt, der an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Rein objektiv hat die Klägerin pflichtwidrig gehandelt, als sie am 28.12.2017 bereits zu Beginn der Arbeitsaufnahme das Arbeitsende eingegeben hat, weil im Laufe eines Tages viele Umstände dazu führen können, dass das Arbeitsende zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet. Objektiv hat die Klägerin auch mit der Abgabe des Arbeitszeitnachweises für den Dezember 2017 am 02.01.2018 der Beklagten gegenüber eine wahrheitswidrige Erklärung abgegeben, den Beklagten damit getäuscht und zu einer Vermögensverfügung veranlasst, die letztendlich mindestens zu einer Vermögensgefährdung geführt hat. Ob die Klägerin allerdings am 28.12.2017 zum Zeitpunkt des Verlassens des Arbeitsplatzes daran hätte denken können, dass sie ihre morgendliche Eingabe hätte korrigieren müssen oder ob ihr dies aufgrund ihrer hohen Alkoholisierung nicht zurechenbar ist, kann die Kammer ebenso offen lassen wie die Frage, ob das Verhalten am 02.01.2018 der Klägerin vorwerfbar ist. Die Kammer unterstellt für die Entscheidungsfindung zu Gunsten des Beklagten, dass ein wichtiger Grund an sich damit gegeben ist.

Die Interessenabwägung im Einzelfall weist hier Besonderheiten auf, aufgrund derer die Kammer zu der Überzeugung gekommen ist, dass es dem Beklagten zuzumuten gewesen wäre, abzuwarten, ob die von der Klägerin im Zeitpunkt des Kündigungszugangs bereits begonnene Therapie ihrer Alkoholerkrankung erfolgreich ist und zu einer Veränderung ihres Verhaltens und damit zur Beseitigung der Vertragsstörung geführt hätte.

Zum Vollbeweis eines Kündigungsgrundes gehört die Widerlegung jeglichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsvorbringens d. gekündigten Arbeitnehmers*in. In der Literatur wird dies dahingehend verstanden, dass ein*e kündigende Arbeitgeber*in auch die Tatsachenbehauptungen widerlegen muss, welche im Rahmen einer Interessenabwägung zu Gunsten d. Arbeitnehmers*in zu berücksichtigen wären (vg. Gieseler in Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht § 626 BGB Rn 161). Die Rechtsprechung beschäftigt sich meist nur mit echten Rechtfertigungsgründen, welche eine Vertragswidrigkeit des vorgeworfenen Verhaltens ausschließen (z.B. BAG 28.8.2008, 2 AZR 15/07, NZA 2009, 193 ff.); jedoch dürfte die Rechtsprechung richtigerweise dahingehend zu verstehen sein, dass nicht nur Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe im engeren Sinne, sondern alle entlastenden Umstände gemeint sind, also d. Arbeitgeber*in diese auch zu widerlegen hätte, wenn sie substantiiert dargelegt sind (BAG 24.11.1983, 2 AZR 327/82: „die Darlegungs- und Beweislast ist nicht so aufzuteilen, daß der Kündigende nur die objektiven Merkmale für einen Kündigungsgrund und die bei der Interessenabwägung für den Gekündigten ungünstigen Umstände und der Gekündigte seinerseits Rechtfertigungsgründe und für ihn entlastende Umstände vorzutragen und zu beweisen hätte (KR-Hillebrecht, aaO, m. w. N.).“).

Ein solcher zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigender Umstand ist zum einen die unstreitige Alkoholerkrankung der Klägerin und ihre Behauptung, ihr Fehlverhalten beruhe auf dieser Krankheit. Dies ist nicht unplausibel und lässt die behaupteten Vertragspflichtverletzungen der Klägerin in einem anderen Licht erscheinen. Die behaupteten Pflichtverletzungen sind bereits konkretisiert; die Klägerin hat pflichtwidrig am 28.12.2017 bereits zu Beginn der Arbeitsaufnahme das Arbeitsende eingegeben und ist dann früher gegangen. Sie hat am 02.01.2018 der Beklagten gegenüber eine wahrheitswidrige Erklärung abgegeben, den Beklagten damit getäuscht und zu einer Vermögensverfügung veranlasst, die letztendlich mindestens zu einer Vermögensgefährdung geführt hat. Eine Alkoholkrankheit wirkt sich durchaus persönlichkeitsprägend aus. Nicht ungewöhnlich sind eine gestörte Interaktion,

Leugnung der Alkoholkrankheit, Schuldzuweisung an andere, Bagatellisierung eigenen Fehlverhaltens und des Alkoholkonsums sowie Therapieunwilligkeit (vgl. dazu Verändertes Interaktionsverhalten Alkoholabhängiger als Indikator für erfolgreiche Rehabilitation, Dissertation Bochum 2003, z.B. Seite 20 zu typischen Verhaltensmustern wie Leugnung, Schuldzuweisung und Bagatellisierung vor Therapie und Folgen für die Therapiewilligkeit). Ferner stehen Unzuverlässigkeit und Versuche, Fehlverhalten zu verschleiern, indem dieses mit weiterem Fehlverhalten versucht wird, zu verdecken, möglicherweise im Zusammenhang mit eine Alkoholsucht.

Es ist nicht mit der für die Entscheidungsfindung notwendigen Sicherheit ausgeschlossen, dass die Unzuverlässigkeit der Klägerin in Bezug auf die Arbeitszeiterfassung auf ihre Alkoholkrankheit zurückzuführen ist. Es ist eher wahrscheinlich. Es ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin dann im Nachgang, wenn sie zum Beispiel am 02.01.2018 tatsächlich gemerkt hätte, dass sie falsche Angaben gemacht hatte, um diese zu verschleiern tatsächlich einen Betrugsversuch unternommen hätte. Aber auch hier ist ein Zusammenhang mit der Alkoholerkrankung nicht auszuschließen, denn der Versuch der Verschleierung eines alkoholbedingten Fehlverhaltens wäre auch nicht untypisch.

Bezogen auf das Fehlverhalten der Klägerin hier bedeutet dies, dass wenn ein Zusammenhang mit der Alkoholkrankheit besteht, die Prognose gerechtfertigt ist, dass bei Therapiewilligkeit aufgrund einer Therapie die Alkoholsucht jedenfalls insoweit beherrschbar werden kann, dass die oben beschriebenen Verhaltensweisen nicht mehr auftreten und konkret hier die Klägerin nach einer Therapie weder solche noch gleichartige Pflichtverletzungen begehen würde.

Diesen Befund hätte der Beklagte widerlegen müssen. Hierzu reicht es nicht aus, die abstrakt zutreffende These, nicht jedes Fehlverhalten lasse sich durch eine Alkoholkrankheit erklären, aufzustellen. Nach der o.g. Systematik muss nicht die Klägerin den Zusammenhang mit der Alkoholkrankheit belegen, sondern es muss für die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt werden können, dass eine Therapie in Bezug auf eine Verhaltensänderung und auf eine Beseitigung der Vertragsstörung in Zukunft nutzlos bleiben würde.

Es reicht insofern nicht aus, dass der Beklagte einen Zusammenhang zwischen Alkoholerkrankung und dem Verhalten der Klägerin in Abrede stellt; dieser Zusammenhang hätte mit Tatsachen untermauert widerlegt und dieser Tatsachenvortrag unter Beweis gestellt werden müssen. Der Beklagte hätte insoweit Sachvortrag halten müssen, aus welchen Gründen seiner Auffassung nach folgt, dass trotz Therapie der Alkoholkrankheit weiterhin mit entsprechenden Verhalten zu rechnen gewesen wäre. Das gehört zu oben zitierten Widerlegungslast des kündigenden Arbeitgebers. Allgemeingültige Aussagen wie diejenige, dass nicht jedes Fehlverhalten mit der Alkoholkrankheit erklärt werden kann, sind insofern nicht hinreichend. Diese Aussage ist dermaßen abstrakt, dass sie abstrakt gesehen selbstverständlich zutrifft. Sie ermöglicht nur keine Feststellungen im konkreten Einzelfall.

Die Äußerung der Klägerin gegenüber den Polizeibeamt*innen indiziert nicht hinreichend deutlich ein geplantes Vorgehen der Klägerin am 28.12.2017. Es ist rein spekulativ die Aussage, ihr Leben „ginge jetzt den Bach runter“ nur auf Folgen der Trunkenheitsfahrt für das Arbeitsverhältnis zu beziehen. Wer nach einer Trunkenheitsfahrt und einem anschließenden Atemalkoholtest, bei dem fast 3 Promille gemessen werden, im Polizeiwagen zur Blutentnahme gefahren wird, kann durchaus unabhängig vom Arbeitsverhältnis auf den Gedanken kommen, das Leben „ginge jetzt den Bach runter“. Schließlich hatte die Klägerin den Entzug der Fahrerlaubnis und ein Strafverfahren, mit allen seinen auch sozialen Folgen, zu erwarten. Die höhere Alkoholverträglichkeit eines Alkoholkranken Menschen und der Umstand, dass die Klägerin unfallfrei gefahren ist, obschon sie volltrunken war, belegt ebenfalls nicht, dass kein Zusammenhang zwischen ihrem Fehlverhalten am 28.12.2017 und 2.1.2018 und ihrer Alkoholsucht bestand. Die Folgen der gestörten Interaktion sind oben beschrieben; sie stehen nicht im Zusammenhang mit motorischen oder sprachlichen Fähigkeiten von Alkoholkranken im alkoholisierten Zustand.

Vor dem Hintergrund der mindestens 30-jährigen Betriebszugehörigkeit der Klägerin und vor dem Hintergrund, dass das Arbeitsverhältnis störungsfrei verlaufen ist bis zu der Eskalation aufgrund des Vorfalls vom 28.12.2017, wäre nach Auffassung der Kammer dem Beklagten zumutbar gewesen der Klägerin die Möglichkeit einzuräumen, die Alkoholsucht und ihre Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis im Rahmen einer Therapie zu überwinden und jede Gelegenheit zu geben, ihr Verhalten zu ändern und das Arbeitsfeld störungsfrei fortzusetzen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, als dass die Klägerin über 60 Jahre alt war und nach über 30-jähriger Betriebszugehörigkeit zu einem Arbeitgeber kaum auf dem Arbeitsmarkt hätte plausibel machen können, weshalb sie nunmehr arbeitssuchend ist, was ihre Chancen auf weitere Teilnahme am Erwerbsleben stark gemindert hätte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Teilnahme am Erwerbsleben nicht nur der Existenzsicherung dient, sondern auch der Persönlichkeitsverwirklichung und dem sozialen Status. Das erhöht die Bedeutung des Interesses der Klägerin an der Erhaltung ihres Arbeitsplatzes, weshalb dieses in diesem Falle dem Beendigungsinteresse des Beklagten deutlich überwiegt.

Die Klägerin war auch therapiewillig, was nunmehr auch durch die Kopie von Unterlagen über Antrag und Bewilligung der Therapiemaßnahmen, die zu den Akten gereicht sind, dokumentiert und von der Beklagten auch nicht wirksam bestritten ist. Der Beklagte beruft sich darauf, dass er zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Prognose habe stellen dürfen, das Verhalten der Klägerin werde sich in Zukunft nicht ändern, weil selbst wenn das Verhalten auf ihre Alkoholkrankheit zurückzuführen gewesen wäre, er von der Therapiewilligkeit nicht gewusst habe und deshalb zutreffend in seine Prognose habe einstellen dürfen, das Verhalten der Klägerin werde sich in Zukunft nicht ändern.

Für die Entscheidung über die Wirksamkeit einer Kündigung sind alle feststellbaren Tatsachen zu berücksichtigen, die im Zeitpunkt der Kündigung tatsächlich vorlagen, unabhängig davon, ob d. Kündigende diese kannte oder diese seine Motivation waren; der Begriff des wichtigen Grundes enthält keine subjektiven Momente (Gieseler in Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, § 626 BGB Rn 64). Er muss vorliegen.

Danach hat die Kammer bei ihrer Entscheidungsfindung die tatsächlich vorhandene Therapiewilligkeit der Klägerin zugrunde zu legen.

Es gibt auch keine anderen weiteren Interessen des Beklagten, die in dieser Fallgestaltung dazu führen, dass ihm die Weiterbeschäftigung der Klägerin unzumutbar gewesen wäre. Die Anforderungen an einen Arbeitgeber im Hinblick auf den Umgang mit alkoholkranken Arbeitnehmer*innen sind entgegen der Äußerung des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht unzumutbar hoch. Der Beklagte beschäftigt, das ist im unstreitigen Teil des Tatbestandes des Arbeitsgerichts festgehalten, eine Personalleiterin. Von einer Personalleiterin ist zu erwarten, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit ein Grundsatzwissen zu üblichen Problemen im Arbeitsverhältnis hat. Hierzu gehört auch die Problematik von Suchterkrankungen und den Umgang mit entsprechenden Arbeitnehmer*innen. Davon abgesehen ist nicht erkennbar, dass die Zeit der Abwesenheit der Klägerin wegen einer Therapie ihre Alkoholsucht nicht überprüfbar gewesen wäre. Die finanziellen Belastungen, die daraus resultieren, halten sich auch in Grenzen. Die Außenwirkung, soweit der Beklagte auf generalspräventive Gesichtspunkte abstellt und meinte, es sei nicht vermittelbar, dass alkoholkranke Menschen sozusagen einmal ohne negative Konsequenzen eine Straftat im Arbeitsverhältnis begehen könnten, ist die Kammer hier in diesem Falle anderer Auffassung. Aus Sicht der Kammer ist es durchaus einer Belegschaft vermittelbar, dass eine ältere Arbeitnehmerin nach über 30 Jahren Betriebszugehörigkeit, die schwer erkrankt ist, eine Chance eingeräumt wird, die Krankheit jedenfalls soweit in den Griff zu bekommen, dass das Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der Personalrat des Beklagten mit der Kündigung nicht einverstanden war, ist es auch nicht besonders überzeugend darauf zu verweisen, die Belegschaft würde es nicht verstehen, wenn von einer Kündigung abgesehen würde.

Auch die beiden Abmahnungen (vgl. Tatbestand des angefochtenen Urteils) führen zu keinem anderen Ergebnis, weil diese im umfassenden Zusammenhang mit den Folgen der Ereignisse des 28.12.2017/2.1.2018 stehen.

Die Kündigung ist als ordentliche gem. § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam. Die Norm ist anwendbar. Der Beklagte beschäftigt mehr als 10 Arbeitnehmer*innen im Sinne des § 23 Abs. 1 KSchG; die Klägerin ist länger als 6 Monate beschäftigt. Sie hat rechtzeitig Klage erhoben (s.o.). Die Kündigung ist nicht gemäß §1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt, denn unabhängig davon ob man sie als verhaltensbedingte oder personenbedingten Kündigung ansieht, ist auch hier im Ergebnis eine Interessenabwägung erforderlich. Nach Auffassung der Kammer ergibt sich aus denselben Erwägungen wie zur außerordentlichen Kündigung, dass der Beklagten zumutbar gewesen wäre, der Klägerin eine zweite Chance einzuräumen, in dem ihr die Möglichkeit eingeräumt worden wäre, die Folgen ihre Alkoholsucht fürs Arbeitsverhältnis durch eine Therapie so weit in den Griff zu kriegen, dass sie ihr Verhalten im Arbeitsverhältnis ändert und dieses fortgeführt werden kann.

Der Beklagte trägt gemäß § 97 Absatz 1 ZPO die Kosten der erfolglosen Berufung.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hier die Bewertung der Besonderheiten des Einzelfalles entscheidungserheblich war.

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