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Fristlose krankheitsbedingte Kündigung eines Ersatzmitglieds des Betriebsrats

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.:  3 Sa 6/21 – Urteil vom 18.08.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 02.12.2020 – 4 Ca 733/20 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision gegen diese Entscheidung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen und personenbedingten Kündigung mit sozialer Auslauffrist.

Der im Jahr 1971 geborene, ledige und keinen Kindern gegenüber zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 03.11.2003 bei der Beklagten zuletzt als Maschinenbediener in einem Vollzeitarbeitsverhältnis zu einem Bruttoarbeitsentgelt von 3.370,13 € beschäftigt. Die Beklagte stellt industrielle Backwaren her.

Der Kläger ist Ersatzmitglied in dem bei der Beklagten gebildeten Betriebsrat. Aufgrund eines Verhinderungsfalles hat er am 30.04.2020 an einer Betriebsratssitzung teilgenommen.

Mit Schreiben vom 11.05.2020 hat die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Klägers mit sozialer Auslauffrist zum 30.11.2020 aus personenbedingten/krankheitsbedingten Gründen angehört (Bl. 73, 75 – 78 d. A.). Mit Schreiben vom 14.05.2020 (Bl. 74 d. A.) hat der Betriebsrat der außerordentlichen Kündigung widersprochen. Mit Schreiben vom 19.05.2020, dem Kläger zugegangen am 21.05.2020, hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist zum 30.11.2020 gekündigt.

Die Beklagte stützt die ausgesprochene fristlose Kündigung auf krankheitsbedingte Fehlzeiten des Klägers in dem Zeitraum von 2016 bis zum Zeitpunkt der Zustellung der Kündigung am 21.05.2020. Dem liegen folgende krankheitsbedingte Fehlzeiten des Klägers zugrunde:

  •        2016: 164 Arbeitstage (entgeltfortzahlungsbelastet 72 Arbeitstage);
  •        2017: 83 Arbeitstage (alle entgeltfortzahlungsbelastet);
  •        2018: 68 Arbeitstage (alle entgeltfortzahlungsbelastet);
  •        2019: 74 Arbeitstage (alle entgeltfortzahlungsbelastet);
  •        2020: 14 Arbeitstage (alle entgeltfortzahlungsbelastet);

Bezüglich der vorgenannten krankheitsbedingten Fehlzeiten hat die Beklagte in dem Zeitraum von 2016 bis zum 21.05.2020 insgesamt 61.408,36 € an Entgeltfortzahlungskosten inklusive Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung gezahlt (ohne Arbeitgeberanteil 49.126,69 €).

Mit den Schreiben vom 13.07.2018, vom 24.05.2019 und vom 16.01.2020 hat die Beklagte den Kläger jeweils zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen. Im Jahr 2019 ist am 20.06.2019 ein Eingliederungsmanagementverfahren durchgeführt worden, welches ohne Ergebnis geblieben ist. Mit den Schreiben vom 17.07.2018 und vom 24.01.2020 hat der Kläger das jeweils angebotene Eingliederungsmanagementverfahren abgelehnt.

Bei der Beklagten finden die nächsten regelmäßigen Betriebsratswahlen in der Zeit zwischen dem 01.03.2022 und dem 31.05.2022 statt.

Mit der am 02.06.2020 bei dem Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet sich der Kläger gegen die ihm gegenüber ausgesprochene fristlose Kündigung.

Mit Urteil vom 02.12.2020 hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben und im Wesentlichen ausgeführt, es fehle an einem wichtigen Grund für die fristlose Kündigung im Sinne von § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB. Zwar sei eine krankheitsbedingte Leistungsminderung nicht generell ungeeignet, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Erforderlich sei ein derart gravierendes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, dass dem Arbeitgeber ein Festhalten an dem Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar sei. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt. In diesem Zusammenhang dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger gemäß § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG lediglich über einen temporären Sonderkündigungsschutz verfüge. Schließlich scheitere die Rechtswirksamkeit der Kündigung an der Frist des § 626 Abs. 2 BGB.

Gegen diese am 23.12.2020 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 11.01.2021 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung der Beklagten nebst der am 03.02.2021 eingegangenen Berufungsbegründung.

Die Beklagte hält an ihrer erstinstanzlichen Rechtsauffassung fest. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts liege im vorliegenden Fall ein wichtiger Grund zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses mit dem Kläger vor. Warum sich keine zu einer einzelvertraglich vereinbarten oder tarifvertraglich geregelten Unkündbarkeit vergleichbare Fallkonstellationen ergeben solle, erschließe sich nicht. Entscheidend sei allein die tatsächliche Situation im Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung. Liege objektiv betrachtet ein Grund für eine außerordentliche Kündigung vor, könne das Ergebnis der Prüfung des Kündigungsgrundes nicht mit der Frage zu tun haben, ob der Sonderkündigungsschutz befristet oder unbefristet sei. Wolle man der Auffassung des Arbeitsgerichts folgen, wäre der Schutz des Betriebsratsmitglieds weit höher anzusiedeln, als der eines dauerhaft ordentlich nicht mehr kündbaren Arbeitnehmers. Der Gesetzgeber habe eine außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung nicht ausgeschlossen. Deshalb sei der Kündigungsschutz eines Betriebsratsmitglieds bzw. eines Nachrückers nach Amtsablauf nicht höher zu bewerten, als der eines Arbeitnehmers mit zeitlich unbegrenztem Ausschluss einer ordentlichen Kündigung. Es sei zwar richtig, dass im Fall einer außerordentlichen, auf Krankheit gestützten Kündigung ein gravierendes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorhanden sein müsse. Dies sei vorliegend entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts jedoch der Fall. Zunächst habe das Arbeitsgericht bereits nicht hinreichend gewürdigt, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen – insoweit unstreitig – nicht in der Nachtschicht eingesetzt werden könne. Unabhängig davon sei der massive Umfang der krankheitsbedingten Fehlzeiten in der Zeit von 2016 bis zum Ausspruch der Kündigung objektive Grundlage für die daraus unmittelbar resultierende negative Zukunftsprognose. Es handele sich um ein sog. „sinnentleertes“ Arbeitsverhältnis. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts seien auf der Grundlage der Vielzahl von Krankheitszeiten des Klägers selbstverständlich Betriebsablaufstörungen gegeben. Der Arbeitseinsatz des Klägers sei schlicht nicht planbar, wodurch dann logischerweise immer wieder Umplanungen, der Einsatz anderer Mitarbeiter zur Vertretung und Mehrarbeitszeiten anderer Mitarbeiter entstanden seien. Außerdem habe das Arbeitsgericht die immensen Entgeltfortzahlungskosten nicht hinreichend berücksichtigt. Mithin sei das Äquivalenzverhältnis aufgrund der zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten und der sonstigen betrieblichen Beeinträchtigungen so schwer und gravierend gestört, dass es der Beklagten eben nicht mehr zugemutet werden könne, an dem ordentlich derzeit nicht kündbaren Arbeitsverhältnis dauerhaft festzuhalten. Zudem habe das Arbeitsgericht nicht hinreichend gewürdigt, dass das Arbeitsverhältnis bereits vor 2016 nicht beanstandungsfrei verlaufen sei. So habe der Kläger im Jahr 2009 an 76 Arbeitstagen (davon 46 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2011 an 82 Arbeitstagen (davon 29 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2012 an 43 Arbeitstagen (davon 43 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2013 an 28 Arbeitstagen (davon 28 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung), im Jahr 2014 an 45 Arbeitstagen (davon 45 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung) und im Jahr 2015 an 41 Arbeitstagen (davon 41 Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung) krankheitsbedingt gefehlt. Es seien für den vorgenannten Zeitraum Entgeltfortzahlungskosten ohne Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung in Höhe von 35.910,28 € und Entgeltfortzahlungskosten mit Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung in Höhe von 44.887,85 € durch die Beklagte geleistet worden. Schließlich habe die Beklagte – entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts – die Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt. Der Kündigungsgrund sei nicht entfallen. Vielmehr sei der Kündigungsgrund im Zeitpunkt des Kündigungsausspruches gegeben gewesen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 02.12.2020 – 4 Ca 733/20 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, aufgrund seiner regelmäßigen Vertretungsphasen bedürfe die Kündigung der Zustimmung des Betriebsrates nach § 103 BetrVG. Jedenfalls sei eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG gesetzlich nicht vorgesehen. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung liege außerdem nicht vor. Eine negative Gesundheitsprognose sei nicht gegeben. Der Gesundheitszustand des Klägers habe sich gebessert. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung sei er bereits seit längerer Zeit nicht mehr arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Seine Erkrankungen in der Vergangenheit hätten ihre Ursache in einer depressiven Phase ab Mitte 2016 gehabt. Diese Phase sei zwischenzeitlich überwunden. Eine Teilnahme an dem angebotenen betrieblichen Eingliederungsmanagement sei nicht erforderlich gewesen, da eine Genesung des Klägers bereits eingetreten gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die streitgegenständliche fristlose Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 19.05.2020 rechtsunwirksam ist.

I.

Die von der Beklagten ausgesprochene fristlose Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 19.05.2020 hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Kläger genießt den nachwirkenden Kündigungsschutz im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG (1.). Die Voraussetzungen für eine Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor (2.).

1.

Der Kläger genießt den nachwirkenden Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG. Danach ist nach Beendigung der Amtszeit die Kündigung u. a. eines Mitglieds eines Betriebsrates innerhalb eines Jahres vom Zeitpunkt der Beendigung der Amtszeit an gerechnet unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen.

Die Voraussetzungen des nachwirkenden Kündigungsschutzes liegen vorliegend unstreitig vor. Der Kläger hat vor Zugang der Kündigung letztmalig am 30.04.2020 an einer Betriebsratssitzung teilgenommen und mithin das Mandat eines Betriebsratsmitglieds wahrgenommen. Die im Streit befindliche Kündigung ist dem Kläger am 21.05.2020 und mithin binnen der Jahresfrist des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG zugegangen.

2.

Die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung nach § 15 Abs. 1 S. KSchG i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer den Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

Unter Berücksichtigung des gegebenen Sach- und Streitstandes sind die genannten Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB ist vorliegend nicht gegeben. Weder die krankheitsbedingte Einschränkung der Einsatzbarkeit des Klägers in der Nachtschicht, noch die in der Zeit von 2016 bis zum Ausspruch der Kündigung aufgelaufenen krankheitsbedingten Fehltage des Klägers inklusive der diesbezüglich durch die Beklagte geleisteten Entgeltfortzahlungen und der ggf. bestehenden Betriebsablaufstörungen rechtfertigen den Ausspruch einer fristlosen Kündigung.

a)

Eine krankheitsbedingte Kündigung wegen – wie hier – häufiger Kurzerkrankungen mag zwar im Sinne der Rechtsauffassung der Beklagten nicht generell ungeeignet sein, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (vgl. insoweit auch BAG, Urteil vom 18.02.1993 – 2 AZR 526/92 -, AP Nr. 35 zu § 15 KSchG). Jedoch ist es dem Arbeitgeber grundsätzlich zuzumuten, in einem solchen Fall die geltende Kündigungsfrist einzuhalten. Daraus folgt, dass eine außerordentliche Kündigung nur in eng begrenzten Fällen in Betracht kommt, etwa bei einem Ausschluss der ordentlichen Kündigung aufgrund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen. Schon an die ordentliche Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Anforderungen an die Wirksamkeit einer auf Krankheit gestützten außerordentlichen Kündigung gehen darüber noch hinaus. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung (BAG vom 20.03.2014 – 2 AZR 825/12 -, juris, Rn. 20). Daraus folgt unmittelbar, dass einem Betriebsratsmitglied nach § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG bzw. im Nachwirkungszeitraum nach § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG jeweils i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB nur dann außerordentlich gekündigt werden kann, wenn dem Arbeitgeber bei einem vergleichbaren Nichtbetriebsratsmitglied dessen Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der einschlägigen ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar wäre (BAG vom 15.03.2001 – 2 AZR 624/99 -, juris, Rn. 17 m.w.N.).

Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegend, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen – erste Stufe. Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende und einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen – zweite Stufe. Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billiger Weise nicht hingenommen werden müssen – dritte Stufe (BAG vom 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 -, juris, Rn. 27).

Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Er muss den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Die prognostizierten Fehlzeiten und die sich aus ihnen ergebende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen müssen deutlich über das Maß hinausgehen, welches eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen könnte. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Ein solches ist gegeben, wenn zu erwarten steht, dass der Arbeitgeber bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – ggf. über Jahre hinweg – erhebliche Entgeltzahlungen zu erbringen hätte, ohne dass dem eine nennenswerte Arbeitsleistung gegenüberstände. Auch können Häufigkeit und Dauer der krankheitsbedingten Fehlzeiten im Einzelfall dazu führen, dass ein Einsatz des Arbeitnehmers nicht mehr sinnvoll und verlässlich geplant werden kann und dieser damit zur Förderung des Betriebszwecks faktisch nicht mehr beiträgt. Die Aufrechterhaltung eines derartig „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnisses kann dem Arbeitgeber ggf. auch im Falle eines ordentlich nicht kündbaren Arbeitnehmers unzumutbar sein (BAG vom 23.01.2014, a.a.O., Rn. 28).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Voraussetzungen ist ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB i. V. m. § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG nicht gegeben.

aa)

Soweit die Beklagte meint, ein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung liege bereits darin, dass der Kläger gesundheitsbedingt nicht in der Nachtschicht eingesetzt werden kann, so vermag das erkennende Gericht dem nicht zu folgen. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Kläger in der Vergangenheit mit Ausnahme der Nachtschichten die übrigen Schichtdienste in Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Verpflichtungen wahrgenommen hat. Vor diesem Hintergrund sind nach Auffassung der Kammer bereits keine – krankheitsbedingt leistungsmindernde – Gesichtspunkte vorhanden, die eine ordentliche Kündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist rechtfertigen könnten. Dies gilt erstrecht für die hier im Streit befindliche außerordentliche Kündigung.

bb)

Auch die in dem maßgeblichen 3-Jahreszeitraum vor Ausspruch der Kündigung liegenden Fehlzeiten des Klägers vermögen die hohen Anforderungen an eine außerordentliche und krankheitsbedingte Kündigung nicht zu erfüllen. Soweit die Beklagte diesbezüglich die Rechtsauffassung vertritt, der zu prognostizierende krankheitsbedingte Ausfall des Klägers von ca. einem Drittel der Gesamtjahresarbeitszeit führe bereits zu einem sog. „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnis im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, so vermag das erkennende Gericht dem ebenfalls nicht zu folgen.

Der Kläger hat im Jahr 2017 an 83 Arbeitstagen krankheitsbedingt gefehlt, im Jahr 2018 an 68 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an 74 Arbeitstagen. Es ergibt sich mithin eine durchschnittliche krankheitsbedingte Fehlzeit von 75 Arbeitstagen im Jahr. Dieser Wert liegt bei der Anzahl von durchschnittlich 230 Arbeitstagen im Jahr etwas unterhalb von einem Drittel der Jahresarbeitszeit. Eine derartiger Wert reicht für die Bejahung eines sog. „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnisses nicht aus. Steht ein Arbeitnehmer zu ca. 2/3 der Jahresarbeitszeit arbeitsfähig zur Verfügung und kann mithin in dem weitaus größeren Teil des Jahres sinnvoll eingesetzt werden, so liegt ein gravierendes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung im Sinne eines sog. „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnisses im Sinne der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht vor (BAG vom 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 -, juris, Rn. 32, 33). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Vortrag des Arbeitgebers – wie hier – nicht erkennen lässt, dass die prognostizierten Fehlzeiten zu nicht mehr hinnehmbaren Betriebsablaufstörungen führen werden.

b)

Lediglich der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass die vorstehenden Erwägungen unabhängig davon gelten, ob der Arbeitgeber eine sog. „soziale Auslauffrist“ gewählt hat, die der fiktiven Kündigungsfrist entspricht. Dieser Umstand folgt bereits daraus, dass anderenfalls der besondere Kündigungsschutz nach § 15 Abs. 1 S. 2 und S. 2 KSchG leerlaufen würde. Denn wenn man im Anwendungsbereich des § 15 Abs. 1 S. 1 und S. 2 KSchG das Vorliegen hinreichender Gründe für eine ordentliche Kündigung im Zusammenhang mit der Gewährung einer der Kündigungsfrist entsprechenden sog. „sozialen Auslauffrisst“ ausreichen lassen wollte, so wäre dies im Ergebnis nicht anderes, als die Anerkennung der Möglichkeit zum Ausspruch einer ordentlichen fristgemäßen Kündigung. Ein solches Ergebnis ist offensichtlich mit dem Gesetzeswortlaut und mit dem Gesetzeszweck nach § 15 Abs. 1 S. 1 und S. 2 KSchG nicht in Einklang zu bringen.

II.

Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen kann unentschieden bleiben, ob ein Zustimmungserfordernis im Sinne des § 103 BetrVG gegeben ist bzw. ob von einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG ausgegangen werden kann. Zudem kann die Frage der Einhaltung der Frist nach § 626 Abs. 2 BGB offenbleiben.

III.

Die Beklagte trägt als unterlegene Partei die Kosten des Berufungsverfahrens.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich. Diese Entscheidung befindet sich in Übereinstimmung mit der einschlägigen Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts.

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