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Fristlose Kündigung bei sexueller Belästigung – Verhältnismäßigkeit

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 2 Sa 207/20 – Urteil vom 25.02.2021

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 17.06.2020 – 4 Ca 320/20 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit dreier ordentlicher Kündigungen.

Der 1965 geborene und seiner Ehefrau sowie einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger war seit 1. Juli 1995 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als stellvertretender Teamkoordinator Handarbeit mit Vorgesetztenfunktion. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitsnehmer.

Wegen eines Vorfalls am 13. Februar 2020, der zwischen den Parteien streitig ist, unterrichtete die Beklagte mit Schreiben vom 17. Februar 2020 (Bl. 48-52 d. A.) den Betriebsrat über die von ihr beabsichtigte außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung des mit dem Kläger bestehenden Arbeitsverhältnisses und führte hierzu u. a. aus, dass sich am 13. Februar 2020 in der Abteilung Verpackung/Handarbeitsplatz Folgendes ereignet habe:

„Um ca. 08:00 Uhr machten sich Frau Y., Herr A. (stellvertr. Teamkoordinator Handarbeit) und Herr H. (Kollege von Frau Y.) einen Kaffee und setzten sich an den Tisch in der Pausenecke des Handarbeitsplatzes. Der Kollege Herr H. hat sich an den Tisch zu Frau Y., ihr gegenüber, gesetzt, Herr A. setzte sich neben Frau Y. auf den Stuhl und sagte zur ihr „komm gibt mir mal einen Kuss“ und deutete dabei auf seine Wange. Zunächst ignorierte Frau Y. diese Bemerkungen und schaute weg. Dann rutschte Herr A. mit seinem Stuhl näher zu Frau Y. und fasste ihr an den Oberschenkel, woraufhin Frau Y. ihn anschrie „lass mich in Ruhe“ und „mach deine Hand weg“. Herr A. hat danach noch einmal einen Versuch gestartet, Frau Y. ans Bein zu fassen, woraufhin sie aufgestanden und an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt ist.“

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Anhörungsschreiben vom 17. Februar 2020 verwiesen. Der Betriebsrat stimmte der Kündigung am 19. Februar 2020 zu (Bl. 53 d. A.).

Mit Schreiben vom 25. Februar 2020 (Bl. 4 d. A.), dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos und mit Schreiben vom 27. Februar 2020 (Bl. 5 d. A.), dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, vorsorglich hilfsweise erneut ordentlich zum 30. September 2020.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 6. März 2020 beim Arbeitsgericht Mainz eingegangenen Kündigungsschutzklage. Im Nachgang kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 30. April 2020 (Bl. 55 d. A.), dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, vorsorglich erneut hilfsweise ordentlich zum 30. November 2020. Diese Kündigung hat der Kläger ebenfalls mit seiner am 11. Mai 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klageerweiterung angegriffen.

Wegen des wechselseitigen Vorbringens der Parteien erster Instanz wird auf die erstinstanzlich eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Fristlose Kündigung bei sexueller Belästigung - Verhältnismäßigkeit
(Symbolfoto: YAKOBCHUK VIACHESLAV/Shutterstock.com)

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten unter dem 25.02.2020, zugegangen am 25.02.2020, beendet worden ist,

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die Kündigung vom 27.02.2020, zugegangen am 27.02.2020, zum 30.09.2020 aufgelöst wird,

3. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 30.04.2020, zugegangen am 30.04.2020, nicht zum 30.11.2020 aufgelöst wird.

Mit Urteil vom 17. Juni 2020 – 4 Ca 320/20 – hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigungen vom 25./27. Februar 2020 noch der vom 30. April 2020 beendet wurde bzw. beendet wird. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe seines Urteils verwiesen.

Gegen das ihr am 23. Juli 2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 28. Juli 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am 29. Juli 2020 eingegangen, Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 1. September 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am gleichen Tag eingegangen, begründet.

Die Beklagte trägt vor, das Arbeitsgericht habe den der Kündigung zugrunde liegenden Sachverhalt nicht einmal ansatzweise zutreffend gewürdigt. Der Kläger habe am 13. Februar 2020 um ca. 08:00 Uhr zu Frau Y. „Komm gib mir mal einen Kuss“ gesagt und dabei auf seine Wange gedeutet. Zuerst habe Frau Y. diese Bemerkung ignoriert und weggeschaut. Dann sei der Kläger mit seinem Stuhl näher zu Frau Y. gerückt und habe ihr an den Oberschenkel gefasst, woraufhin Frau Y. ihn angeschrien habe: „Lass mich in Ruhe!“ und „Mach deine Hand weg!“. Der Kläger habe danach noch einmal einen Versuch gestartet, Frau Y. ans Bein zu fassen, woraufhin diese aufgestanden und an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sei. Im weiteren Gang der Ermittlungen seien ihr noch weitere Belästigungen durch den Kläger zu Lasten von Frau Y. in der jüngeren Vergangenheit geschildet worden. So sei es seit ca. Mitte Januar 2020 beinahe täglich zu verbalen Annäherungsversuchen des Klägers gekommen, wobei folgende Zitate gefallen seien: „Ich liebe dich doch“, „Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an“, „Gib mir einen Kuss“. Am 17. Februar 2020 habe Frau Y. bestätigt, dass es regelmäßig zu solchen Äußerungen seit ca. einem Monat durch den Kläger ihr gegenüber gekommen sei. Weiterhin habe diese angegeben, dass die Kollegen H. und K. sie schon mehrfach dazu hätten anregen wollen, diese Vorfälle der Personalabteilung zu melden. Frau Y. habe allerdings Angst gehabt, sich zu offenbaren, weil es sich beim Kläger um ihren Vorgesetzten gehandelt und sie entsprechende Sanktionierungen gefürchtet habe. Auch vor dem Vorfall habe Frau Y. mehrfach zu erkennen gegeben, dass sie die Annäherungsversuche des Klägers ablehne. Sie habe gesagt, dass es schon des Öfteren Aussagen des Klägers wie „gib mir einen Kuss“ und „gib mir mal deine Telefonnummer, ich rufe dich dann an“ sowie absichtliches An-sie-Drücken beim Vorbeilaufen durch den Kläger gegeben habe. Am 14. Februar 2020 sei der Kläger von der Arbeit ferngeblieben, ohne sich vor Arbeitsbeginn zu melden. Erst um 11:12 Uhr habe sich der Kläger an diesem Tag an der Pforte krankgemeldet. Im Hinblick auf den in der KW 8 beantragten Urlaub des Klägers habe nach der mit Schreiben vom 19. Februar 2020 erfolgten Einladung am 24. Februar 2020 ein Gespräch stattgefunden, in dem der Kläger ganz pauschal den ihm vorgehaltenen Sachverhalt bestritten und darauf verwiesen habe, dass er nichts getan habe und „das doch alles nur Spaß gewesen sei“. Das Arbeitsgericht sei in den Gründen des angefochtenen Urteils auf den vorliegenden Sachverhalt überhaupt nicht eingegangen, sondern habe pauschal festgestellt, dass ihr Vortrag eine Kündigung nicht rechtfertigen würde und eine Abmahnung vorrangig wäre. Die beiden zur Begründung angeführten Rechtsprechungsbeispiele würden Sachverhalte betreffen, die sich in mehrfacher Hinsicht erheblich vom vorliegenden Fall unterscheiden würden und damit selbst Einzelfallentscheidungen seien. Im Übrigen bestehe die von ihr dargestellte anderweitige Rechtsprechung, in der eine Abmahnung entbehrlich gewesen sei. Berücksichtige man die vorliegenden Umstände, sei hier eine fristlose Kündigung ohne vorherige Abmahnung gerechtfertigt. Der Grad des Verschuldens sei als sehr hoch einzustufen. Der Kläger habe Frau Y. über einen Zeitraum von etwa einem Monat mehrfach, beinahe täglich verbal bedrängt, was ein systematisches Fehlverhalten des Klägers offenbare. Das Ganze habe sich schlussendlich gesteigert, indem er Frau Y. am 13. Februar 2020 zusätzlich auch noch körperlich angegangen sei und ihr an den Oberschenkel, also einem der Intimzone nahen Bereich, angefasst habe. Auch die lautstarken und eindeutigen Aufforderungen, dies zu unterlassen, hätten ihn nicht davon abgehalten, es sogar noch ein weiteres Mal zu versuchen. Es sei auch in jedem Fall für den Kläger ohne weiteres erkennbar gewesen, dass dieses Verhalten unangebracht und verwerflich sowie von ihr auch nicht ein einziges Mal hinnehmbar sei, was eine Abmahnung bereits entbehrlich mache. Besonders erschwerend komme die Führungsposition des Klägers hinzu. Die besondere Gefahr des Ausnutzens einer Machtposition habe sich vorliegend realisiert, so dass eine gesteigerte Verwerflichkeit gegeben sei. Es bedürfe keiner Abmahnung, wenn insbesondere Vorgesetzte sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Arbeitnehmerin vornehmen würde, weil für diese erkennbar sei, dass ein solches Verhalten einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten darstelle. Wie in derartigen Fällen leider häufig anzutreffen, habe auch Frau Y. trotz zahlreicher Vorfälle über einen langen Zeitraum Angst gehabt, diese zu melden, weil sie Konsequenzen von Seiten des Klägers gefürchtet habe. Gewicht und Auswirkungen der Vertragspflichtverletzung seien ebenfalls als sehr hoch zu bewerten. Aufgrund des Vorfalls und des Nachtatverhaltens des Klägers hätte sie ihn zukünftig nicht mehr in einem Bereich einsetzen können, in dem Frauen arbeiteten, geschweige denn als Vorgesetzter. Zudem habe es erhebliche Auswirkungen auf den Betrieb und anderer, insbesondere weibliche Mitarbeiter, wenn in einem solchen Fall der Täter – zumal als Vorgesetzter – weiterhin im Betrieb tätig sein dürfe. Der Kläger habe durch seine Taten ein Arbeitsumfeld geschaffen, in dem für Frau Y. jederzeit mit weiteren Belästigungen zu rechnen gewesen sei. Eine Fortführung eines solchen Risikos für diese bzw. auch anderen weiblichen Mitarbeitern sei schlicht inakzeptabel. In Anbetracht der völligen Uneinsichtigkeit des Klägers, der das Ganze als einen „Spaß“ ansehe sowie der Häufigkeit der sexuellen Belästigung über einen Zeitraum von etwa einem Monat sei auch von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Auch die Tatsache, dass sich der Kläger nicht gescheut habe, seine Tat im Beisein mehrerer Kollegen zu begehen, zeige, dass er sein Verhalten als ganz normal bzw. nicht verwerflich ansehe. Wenn es aber bereits an einer solchen grundlegenden Voraussetzung für eine Besserung des Verhaltens fehle, sei nicht zu erwarten, dass eine Abmahnung nachhaltig für eine Verhaltensänderung gesorgt hätte. Zu Gunsten des Klägers spreche allein seine lange Betriebszugehörigkeit sowie der bisher störungsfreie Verlauf des Arbeitsverhältnisses, was allerdings nicht genüge, seine Verfehlungen aufzuwiegen. Gerade bei erfahrenen Arbeitnehmern mit Führungsverantwortung seien umso höhere Maßstäbe an das Verhalten gegenüber Untergebenen anzulegen. Es könne keinen Zweifel daran geben, dass ihm auch ohne vorherige Abmahnung hätte klar sein müssen, dass sein Verhalten eine völlig inakzeptable arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstelle. Angesichts dessen sei das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien grundlegend zerstört. Sie habe es insbesondere zum Schutze der anderen Angestellten nicht bei einer bloßen Abmahnung belassen können. Vielmehr sei es ausgeschlossen, den Kläger künftig mit weiblichem Personal zusammenarbeiten zu lassen, geschweige denn es ihm zu unterstellen. Der pauschale Hinweis des Arbeitsgerichts darauf, dass nach § 12 Abs. 3 AGG auch andere Maßnahmen möglich seien, sei zwar rechtsdogmatisch zutreffend. Aus den dargestellten Umstände ergebe sich allerdings, dass ein Rückgriff darauf für sie nicht zumutbar gewesen sei. Vielmehr habe sie eine aus § 12 Abs.1 S. 1 AGG entstehende Pflicht, insbesondere das weibliche Personal vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Hierfür müsse sie gegenüber allen Mitarbeitern klarstellen, dass derartiges Verhalten unter keinen Umständen toleriert werde. Eine Abmahnung wäre vorliegend nicht geeignet gewesen, eine Wiederholung sicher auszuschließen, ebenso eine Ver- oder Umsetzung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Beklagten wird auf ihre Schriftsätze vom 1. September 2020 und 18. Februar 2021 verwiesen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 17. Juni 2020 – 4 Ca 320/20 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er erwidert, die wegen eines Vorfalls am 13. Februar 2020 ausgesprochene Kündigung sei unwirksam. Von einer schwerwiegenden sexuellen Belästigung könne keine Rede sein. Der in der Berufungsbegründung dargestellte Sachverhalt sei unzutreffend. Die Beklagte versuche nun zwanghaft, ein über einen Monat lang sich steigerndes Fehlverhalten zu konstruieren, was nicht vorgelegen habe. Sätze wie „Gib mir einen Kuss“ oder „Gib mal deine Telefonnummer, ich rufe dich dann an“ seien nicht gefallen. Es sei nicht ersichtlich, wann denn die Zeugin Y. irgendwelche Annäherungsversuche durch ihn abgelehnt haben solle. Die Zeugin Y. und er hätten sich immer gut verstanden, ohne dass er sexuell übergriffig geworden sei. Am 13. Februar 2020 habe sich die Zeugin Y. freiwillig zu seiner Pausenecke begeben, um Kaffee zu trinken, und habe den Vorfall am 13. Februar 2020 nicht zur Anzeige gebracht. Wenn diese sich durch ihn belästigt gefühlt hätte, wäre sie wohl einer Begegnung mit ihm ausgewichen und hätte ihre Pause an anderer Stelle abgehalten. Er habe sie auch nicht am Oberschenkel, sondern nur an den Knien angefasst am 13. Februar 2020. Er habe sie mit dem Bürostuhl, auf dem sie gesessen habe, zur Seite gerollt, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen, und habe kein weiteres Mal zugegriffen. Ein Ausnutzen einer Machtposition sei nicht ersichtlich. Die Zeugin Y. und er hätten ein rein kollegiales Verhältnis gehabt. Diese sei ihm nicht unterstellt gewesen. Er sei stellvertretender Teamkoordinator, also Vorarbeiter und damit keineswegs in einer Führungsposition. Seine Arbeit habe er im Betrieb der Beklagten über 25 Jahre lang ohne Beanstandung verrichtet. Nie sei er sexuell übergriffig geworden und es stehe zu erwarten, dass er dies auch in Zukunft nicht tun werde. Die Darstellung, bei ihm handele es sich um einen uneinsichtigen Wiederholungstäter sei lediglich vorgeschoben und entbehre jeder Grundlage. Eine Abmahnung wäre im vorliegenden Fall das geeignete Mittel gewesen, um den Betriebsfrieden wiederherzustellen. Die Beklagte habe den Sachverhalt und seine Rolle völlig falsch dargestellt. Ein vorsätzlicher sexueller Übergriff zum Nachteil der Zeugin Y. sei nicht gegeben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. b und c ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. 519, 520 ZPO).

Die Berufung der Beklagten hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben. Die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 25. Februar 2020 ist mangels wichtigen Grundes i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB unwirksam. Auch wenn man den von der Beklagten vorgetragenen Kündigungssachverhalt, der „an sich“ als wichtiger Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen vermag, als richtig unterstellt, hätte im Streitfall eine Abmahnung als Reaktion der Beklagten ausgereicht. Deshalb sind auch die jeweils hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigungen vom 25. Februar, 27. Februar und 30. April 2020 sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam (§ 1 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 KschG).

I. Die außerordentliche Kündigung vom 25. Februar 2020 ist unwirksam. Es fehlt an einem wichtigen Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB.

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16 – Rn. 11, NZA 2017, 1121).

2. Nach dem von der Beklagten vorgetragenen Kündigungssachverhalt, der im Streitfall zu ihren Gunsten als richtig unterstellt werden kann, hätte der Kläger am 13. Februar 2020 zwar seine arbeitsvertraglichen Pflichten in erheblicher Weise durch eine ihm dann vorzuwerfende sexuelle Belästigung von Frau Y. verletzt, was „an sich“ als wichtiger Grund i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Gleichwohl ist es der Beklagten – auch unter Zugrundelegung ihres Vortrags – zuzumuten, den Kläger weiterzubeschäftigen, weil nach den Umständen des Streitfalls eine Abmahnung als Reaktion von ihrer Seite ausgereicht hätte.

a) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere eine Abmahnung oder eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 i.V.m. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zudem durch § 12 Abs. 3 AGG konkretisiert. Danach hat der Arbeitgeber bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG, zu denen auch sexuelle Belästigungen i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG gehören, die geeigneten, erforderlichen und angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen – wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung – zu ergreifen. Welche Maßnahmen er als verhältnismäßig ansehen darf, hängt von den konkreten Umständen ab. § 12 Abs. 3 AGG schränkt das Auswahlermessen allerdings insoweit ein, als der Arbeitgeber die Benachteiligung zu „unterbinden“ hat. Geeignet i.S.d. Verhältnismäßigkeit sind daher nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, d.h. eine Wiederholung ausschließen (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 20 – 23, NZA 2015, 294)

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die Kündigung als unverhältnismäßig. Eine Abmahnung war im Streitfall nicht entbehrlich. Auch wenn man den vom Kläger bestrittenen Vortrag der Beklagten als richtig unterstellt, liegen weder Umstände vor, die zu der Annahme berechtigten, selbst nach einer Abmahnung sei von einer Wiederholungsgefahr auszugehen, noch wiegt die dem Kläger vorgeworfene Pflichtverletzung so schwer, dass eine Abmahnung aus diesem Grund entbehrlich gewesen wäre.

aa) Eine Abmahnung war im Streitfall nicht deshalb entbehrlich, weil bereits ex ante erkennbar gewesen wäre, dass eine Verhaltensänderung auch nach Abmahnung in Zukunft nicht zu erwarten stand.

Zwar soll es nach dem Vortrag der Beklagten bereits vor dem behaupteten Vorfall am 13. Februar 2020 seit ca. Mitte Januar 2020 und damit seit ca. einem Monat beinahe täglich zu verbalen Annäherungsversuchen des Klägers durch Äußerungen wie „Ich liebe dich doch“, „Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an“ und „Gib mir einen Kuss“ gekommen sein, wobei Frau Y. mehrfach zu erkennen gegeben haben soll, dass sie die Annäherungsversuche des Klägers ablehne. Das lässt aber unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falls noch nicht darauf schließen, dass der Kläger weder willens noch imstande wäre, sein Verhalten nach Erteilung einer Abmahnung ggf. zu ändern und zukünftig das ihm vorgeworfene Verhalten zu unterlassen. Der Kläger war bereits seit mehr als 24 Jahren bei der Beklagten beschäftigt. Unstreitig war das Arbeitsverhältnis zuvor vollkommen beanstandungslos verlaufen. Auch Frau Y. ist in etwa so lange im Unternehmen der Beklagten beschäftigt, d.h. ca. 25 Jahre. Vor dem Beginn der ihm vorgeworfenen Annäherungsversuche ab ca. Mitte Januar 2020 bis zu dem behaupteten Vorfall am 13. Februar 2020 hat es in der Vergangenheit zu keiner Zeit ein zu beanstandendes Verhalten gegenüber Frau Y. oder einer anderen Mitarbeiterin gegeben. Zwar spricht das geschilderte Verhalten des Klägers nach dem Vorfall am 13. Februar 2020 dafür, dass er sich der Pflichtwidrigkeit des ihm vorgeworfenen Fehlverhaltens nicht bewusst und dies ggf. als „Spaß“ angesehen hat. Das ändert aber nichts daran, dass ihm durch eine Abmahnung deutlich vor Augen geführt werden kann, dass er ein solches Verhalten zukünftig zu unterlassen hat. Im Hinblick darauf, dass es sich – unter Zugrundelegung des Vortrags der Beklagten – um den ersten Vorfall bzw. die ersten Vorkommnisse seit Mitte Januar 2020 nach der zuvor langjährigen, beanstandungsfreien Beschäftigung gehandelt und der Kläger zuvor sich weder gegenüber der in etwa genauso lange wie er selbst beschäftigten Frau Y. noch gegenüber einer anderen Mitarbeiterin pflichtwidrig verhalten hat, ist nach der Überzeugung des Berufungsgerichts davon auszugehen, dass bereits durch eine Abmahnung eine Wiederholung i.S.v. § 12 Abs. 3 AGG ausgeschlossen werden kann. Soweit die Beklagte angeführt hat, dass der Arbeitgeber nach § 12 Abs. 1 S. 1 AGG das weibliche Person vor sexuellen Übergriffen zu schützen habe und hierfür gegenüber allen Mitarbeitern klarstellen müsse, dass derartiges Verhalten unter keinen Umständen toleriert werde, ist dies nach den Umständen des vorliegenden Falls auch unter Zugrundlegung ihres Vortrags dadurch möglich, dass dem Kläger eine unmissverständliche Abmahnung erteilt wird, nach der eine entsprechende Verhaltensänderung in Zukunft bei dem langjährig, zuvor beanstandungsfrei beschäftigten Kläger zu erwarten ist. Zwar soll nach dem Vortrag der Beklagten Frau Y. bereits vor dem Vorfall mehrfach zu erkennen gegeben haben, dass sie die Annäherungsversuche des Klägers ablehne, und auch Herr M. im Zusammenhang mit einer Äußerung des Klägers gegenüber Frau Y. („Gib mir mal einen Kuss!“) gesagt haben, dass er dies unterlassen solle (sinngemäß: „Mach das nicht, lass das. Für dich ist es vielleicht Spaß, aber für die Frau nicht!“). Das besagt aber nicht, dass auch eine von Seiten seines Arbeitgebers erteilte Abmahnung zur Unterbindung zukünftiger Pflichtverletzungen als nicht erfolgversprechend angesehen werden kann. Vielmehr ist in Anbetracht der langjährigen und unbelasteten Betriebszugehörigkeit des Klägers davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten jedenfalls durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses durch eine von der Beklagten erteilte Abmahnung positiv beeinflusst und damit eine Wiederholung ausgeschlossen werden kann. Soweit der Kläger nach dem Vortrag der Beklagten in dem mit ihm geführten persönlichen Gespräch den ihm vorgehaltenen Sachverhalt bestritten und darauf verwiesen hat, dass „das doch alles nur Spaß gewesen sei“, lässt dies ebenso wie sein Verteidigungsvorbringen im Prozess nicht den Schluss darauf zu, dass der Kläger sich derart uneinsichtig verhält, dass sein künftiges Verhalten durch die Erteilung einer Abmahnung nicht mehr positiv beeinflusst werden kann. Vielmehr ist im Streitfall nach Auffassung des Berufungsgerichts davon auszugehen, dass der zuvor über mehr als 24 Jahre beanstandungsfrei beschäftigte Kläger sich eine Abmahnung als hinreichende Warnung gereichen lässt und sich künftig vertragsgerecht verhält.

bb) Weiterhin handelt es sich hier nicht um eine so schwere Pflichtverletzung, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen war.

Zwar soll der Kläger nach dem Vortrag der Beklagten Frau Y. am 13. Februar 2020 nicht nur verbal, sondern auch körperlich belästigt haben, indem er ihr an den Oberschenkel gefasst habe. Darauf soll Frau Y. ihn angeschrien („Lass mich in Ruhe!“ und „Mach deine Hand weg!“) und der Kläger danach noch einmal einen Versuch gestartet haben, Frau Y. ans Bein zu fassen, worauf diese aufgestanden und an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sei. Der von der Beklagten geschilderte Vorfall vom 13. Februar 2020, der sich im Beisein mehrerer Kollegen an der Pausenecke des Handarbeitsplatzes ereignet habe, woraufhin Frau Y. aufgestanden und an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sei, wäre zwar ggf. als erhebliche Pflichtverletzung zu bewerten, die „an sich“ zur Rechtfertigung einer außerordentlichen Kündigung geeignet ist. Das Berufungsgericht ist aber ebenso wie das Arbeitsgericht der Auffassung, dass diese – zugunsten der Beklagten unterstellte – Pflichtverletzung nach den dargestellten Umständen des Vorfalls auch unter Berücksichtigung der zuvor angeführten verbalen Annäherungsversuche über ca. einen Monat („Ich liebe dich doch“, „Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an“, „Gib mir einen Kuss“) nicht derart schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme der Beklagten nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Kläger erkennbar – ausgeschlossen war. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Kläger zuletzt als stellvertretender Teamkoordinator Handarbeit mit Vorgesetztenfunktion beschäftigt war, erscheint nach objektiven Maßstäben das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Klägers nicht als derart erschüttert, dass dessen vollständige Wiederherstellung nicht in Frage käme. In Anbetracht der langjährigen und beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit des Klägers von mehr als 24 Jahren ist vielmehr objektiv die Prognose berechtigt, dass sich der Kläger jedenfalls nach Erteilung einer Abmahnung künftig vertragsgerecht verhalten wird und das Vertrauen in den Kläger wiederhergestellt werden kann. Dabei kommt es nicht auf die subjektive Befindlichkeit und Einschätzung des Arbeitsgebers oder bestimmter für ihn handelnder Personen an, entscheidend ist ein objektiver Maßstab.

II. Im Hinblick darauf, dass es der Beklagten aus den dargelegten Gründen zuzumuten war, auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen, sind auch die hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigungen nicht i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt und damit rechtsunwirksam (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 36, NZA 2015, 294).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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