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Fristlose Kündigung bei Weiterleitung dienstlicher E-Mails

Landesarbeitsgericht Hamm – Az.: 15 Sa 2008/19 – Urteil vom 28.05.2020

Die Berufung der Klägerin und die Anschlussberufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 14. November 2019 – 4 Ca 1297/19 – werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 4/7, die Beklagte zu 3/7.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Rechtswirksamkeit einer arbeitgeberseitigen Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin, um deren Weiterbeschäftigung und um Zahlungsansprüche.

Die 1985 geborene Klägerin war seit September 2017 bei der Beklagten, die mit derzeit etwa 80 Arbeitnehmern ein Unternehmen für getrocknete Natur-Hundesnacks betreibt, im „Sales & Logistics Management / Projekt-Management“ als kaufmännische Mitarbeiterin zu einem Bruttomonatsentgelt von rund 4.600,00 Euro beschäftigt.

Da die Beklagte das Vertrauensverhältnis zu der Klägerin seit Anfang des Jahres 2019 als nachhaltig gestört ansah, kam es im März 2019 zu einem Gespräch u.a. zwischen der Klägerin und der Geschäftsführerin der Beklagten, bei dem der Klägerin mitgeteilt wurde, dass eine weitere Zusammenarbeit vermutlich schwierig werde. Die Klägerin erhielt den Rat, sich in anwaltliche Beratung zu begeben und gegebenenfalls über die Modalitäten einer Vertragsbeendigung zu verhandeln. Die Klägerin lehnte ab.

Mit E-Mail vom 11. Juni 2019 wurde die Klägerin aufgefordert, ihre Tätigkeit ab dem Folgetag wieder aufzunehmen. Mit E-Mail vom gleichen Tag teilte die Klägerin mit, sei erkrankt und werde demnächst eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung übermitteln.

Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 erhielt die Klägerin eine Abmahnung wegen eines aus Sicht der Beklagten gegebenen Verstoßes bezüglich der rechtzeitigen Mitteilung über die Arbeitsunfähigkeit bzw. die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Am 17. Juni 2019 nahm die Klägerin ihre Arbeitsleistung wieder auf.

Mit Schreiben vom 13. Juni 2019 erhielt die Klägerin eine Abmahnung wegen eines aus Sicht der Beklagten gegebenen Verstoßes gegen die Verpflichtung, die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen.

Mit Schreiben vom 21. Juni 2019 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung wegen eines während der Arbeitszeit getätigten Privattelefonats per Handy.

Die Klägerin gab zu den Abmahnungen eine Gegendarstellung ab.

Nach Wiederaufnahme ihrer Arbeit im Juni 2019 sollte die Klägerin eine Reklamationsanalyse erstellen. Diese Analyse leitete sie u.a. als Blindkopie an ihre eigene private E-Mail-Adresse (vgl. E-Mail vom 18. Juni 2019, Bl. 87 ff. d. A.). In Umsetzung einer mit Schreiben vom 19. Juni 2019 angekündigten stichprobenartigen Überprüfung des Internet-Browser-Verlaufs stellte sich heraus, dass die Klägerin mehrere E-Mails, die sie von der Geschäftsführerin der Beklagten oder anderen Mitarbeitern erhalten hatte, an ihre eigene private E-Mail-Adresse weitergeleitet hatte. Es befinden sich darunter auch Kalkulationen und Preislisten der Beklagten (vgl. Bl. 92 ff. d. A.); den Unterlagen sind ferner Preise und Gewinnmargen entnehmbar.

Mit Schreiben vom 26. Juni 2019, der Klägerin am 28. Juni 2019 zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich fristgerecht.

Gegen diese Kündigung hat sich die Klägerin mit einer am 9. Juli 2019 eingereichten Kündigungsschutzklage gewehrt.

Die Klägerin hat behauptet, das Übersenden der E-Mails als Blindkopie an ihre private E-Mail-Adresse sei nur zu Dokumentationszwecken erfolgt. Die Geschäftsführerin der Beklagten habe seinerzeit offenbar gezielt nach Anlässen gesucht, um ihr kündigen zu können. All dies habe sie dazu veranlasst, sich im Falle von weiteren (unberechtigten) Rügen über ihre Arbeit oder ihr Verhalten am Arbeitsplatz zu wappnen. Bei der Weiterleitung dienstlicher E-Mails in Blindkopie an ihr privates E-Mail-Postfach habe sie keine gezielte Auswahl vorgenommen, sondern auch Korrespondenz mit Kollegen und der Geschäftsführerin gesichert, die keinerlei Unternehmensdaten enthielten, sondern lediglich einzelne Arbeitsschritte dokumentierten. Sie habe nicht ausschließen können, dass ihr der Zugang zum dienstlichen E-Mail-Postfach zu irgendeinem Zeitpunkt gesperrt würde, da ihr auch der Zugriff auf Serverdaten verwehrt worden sei, nachdem sie nach der Freistellung ihre Arbeit wieder aufgenommen habe. Die Sicherung der E-Mails sei zu Beweiszwecken insbesondere deshalb notwendig gewesen, da ihr Arbeitsaufträge erteilt worden seien, die sie mangels Serverzugriffs zunächst nicht habe erledigen können. Sie habe befürchtet, in etwaigen arbeitsgerichtlichen Prozessen in Beweisnot zu geraten und daher in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt. Eine Verwendung der übermittelten Daten für andere Zwecke als zur Beweissicherung sei von ihr zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt gewesen. Die Klägerin hat gemeint, dass keine Umstände vorliegen, die eine fristlose oder fristgerechte Kündigung rechtfertigen könnten. Ihr Verhalten habe allenfalls die Beklagte dazu veranlassen können, ihr gegenüber eine weitere Abmahnung auszusprechen. Sie habe insbesondere auch keine Schädigungsabsicht gehabt, so dass eine anzustellende Interessenabwägung zu ihren Gunsten streite. Die hilfsweise erklärte fristgerechte Kündigung sei unverhältnismäßig.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 26. Juni 2019 aufgelöst worden ist,

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 26. Juni 2019 endet,

3. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin über den 26. Juni 2019 hinaus zu unveränderten Bedingungen vertragsgemäß als Mitarbeiterin im Sales & Logistics Management/Projekt-Management bis zum rechtskräftigen Abschluss des Bestandsschutzverfahrens weiter zu beschäftigen,

4. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 306,67 Euro brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 109,56 Euro netto nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 30. Juni 2019 zu zahlen,

5. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 4.600,00 Euro brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 1.643,40 Euro netto nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 31. Juli 2019 zu zahlen,

6. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 4.600,00 Euro brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 1.643,40 Euro netto nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 31. August 2019 zu zahlen,

7. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 4.600,00 Euro brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes in Höhe von 1.643,40 Euro netto nebst 5 Prozentpunkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 30. September 2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Fristlose Kündigung bei Weiterleitung dienstlicher E-Mails
(Symbolfoto: fizkes/Shutterstock.com)

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei den an die private E-Mail-Adresse weitergeleiteten Unterlagen um solche für den internen Gebrauch gehandelt habe. Keinesfalls sollten diese Wettbewerbern, Kunden oder sonstigen Dritten in die Hände fallen. In Anbetracht der zwischen den Parteien bestehenden Spannungen sei für sie nicht abzusehen, was mit den Daten in der Sphäre der Klägerin geschehe. Das Verhalten der Klägerin stelle einen erheblichen Pflichtverstoß und Vertrauensbruch dar. Es habe auch keine betriebliche Notwendigkeit gegeben, die Daten an den privaten E-Mail-Account weiterzusenden, weil die Klägerin bei ihr über einen vollständig eingerichteten Arbeitsplatz verfügte und weder eine Arbeit zuhause angeordnet worden sei noch dafür Veranlassung bestanden habe. Kalkulationsgrundlagen, Angebote und Kundendaten zählten zu denjenigen Geschäftsunterlagen, bei denen auch für einen Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar sei, dass diese nicht für die Öffentlichkeit, insbesondere nicht für potentielle Konkurrenten bestimmt seien. Im Rahmen der Gesamtabwägung überwiege ihr Beendigungsinteresse das Bestandsschutzinteresse der Klägerin angesichts einer weniger als zweijährigen Betriebszugehörigkeit und der Aussichten der Klägerin auf dem Arbeitsmarkt. Jedenfalls beende die hilfsweise erklärte ordentliche, fristgerechte Kündigung das Arbeitsverhältnis.

Das Arbeitsgericht Herne hat durch Urteil vom 14. November 2019 festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin aufgrund der fristgemäßen Kündigung der Beklagten mit Ablauf des 30. September 2019 endete und der Klägerin dementsprechend Ansprüche auf Vergütung für den Zeitraum Juni bis September 2019, abzüglich zwischenzeitlich bezogenen Arbeitslosengeldes, zustehen. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen.

Die außerordentliche, fristlose Kündigung vom 26. Juni 2019 habe das Arbeitsverhältnis nicht aufzulösen vermocht, weil in der Gesamtschau der Umstände unter Berücksichtigung der gebotenen Interessenabwägung keine Verhaltensweisen oder Umstände erkennbar seien, die als derart schwergewichtige Pflichtverletzungen der Klägerin bewertet werden könnten, als dass die Beklagte zur fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ohne vorangegangene Abmahnung berechtigt angesehen werden könnte.

Der Beklagten sei es infolge der Weiterleitung sogenannter Blindkopien von dienstlichen E-Mails an den privaten E-Mail-Account der Klägerin nicht unzumutbar, das Arbeitsverhältnis bis zum 30. September 2019, dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, fortzusetzen.

Zwar sei von einem wichtigen Grund „an sich“ auszugehen. Die Klägerin habe in erheblicher Weise gegen ihre arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht verstoßen, indem sie sich zumindest dienstliche E-Mails vom 18. Juni 2019 (Analyse über Kundenreklamation) sowie vom 24. Juni 2019 (Auswertung über Geschäftsbeziehungen mit drei Kunden) an ihre private E-Mail-Adresse zu betriebsfremden Zwecken übersendete. Ein objektiv nachvollziehbares Bedürfnis für die (ungezielte) Weiterleitung von dienstlichen E-Mails an den privaten E-Mail-Account der Klägerin sei nicht ersichtlich. Selbst wenn die Klägerin die E-Mails zu ihrer Rechtsverteidigung allein hätte verwenden wollen, könne daraus nicht ohne Weiteres auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen geschlossen werden. Dem Rechtsschutzinteresse einer Partei, die sich nicht im Besitz prozessrelevanter Unterlagen befindet, trage das Gesetz mit den Regelungen zur Vorlagepflicht Rechnung. Besondere Umstände, aufgrund derer die Klägerin hätte annehmen dürfen, ein entsprechendes prozessuales Vorgehen sei von vornherein aussichtlos, seien nicht festzustellen. Die allgemeinen Spannungen zwischen der Klägerin und der Geschäftsführerin der Beklagten ließen ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin mit konkreten Leistungs- oder Verhaltensvorhaltungen der Beklagten (unberechtigt) konfrontiert würde und sie zur Widerlegung dieser zwingend auf einen (vorherigen) Besitz einer unbestimmten Zahl von betrieblichen Daten angewiesen sei, eine Beweisnot nicht erkennen. Konkrete Verteidigungsnotwendigkeiten mittels der weitergeleiteten dienstlichen E-Mails habe die Klägerin aber nicht dargestellt. Sie könne sich daher für die Rechtsverteidigung ihres Verhaltens nicht auf eine Beweisnot stützen.

Die Beklagte sei nicht gehalten gewesen, die Klägerin vor Ausspruch der fristlosen Kündigung wegen ihres Verhaltens abzumahnen. Der Klägerin habe offensichtlich sein müssen, dass sie durch die Weiterleitung dienstlicher E-Mails als Blindkopie an ihren privaten E-Mail-Account Daten aus dem betrieblichen Kerngeschehen (Reklamationsberichte und Preiskalkulationen sowie Gewinnmargen) in einem so erheblichen Maß gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstieß, dass das nicht von der Arbeitgeberin toleriert werden würde.

Indessen wiege das Verhalten der Klägerin in der Gesamtschau der Umstände des Falles nicht so schwerwiegend, dass der Beklagten unter Abwägung der beiderseitigen Interessen ein Festhalten am Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der arbeitsvertraglichen Kündigungsfrist nicht zumutbar gewesen wäre. Unter Berücksichtigung des bis jedenfalls etwa März 2019 beanstandungsfrei und bis Juni 2019 praktizierten Arbeitsverhältnisses mit rund zweijähriger Betriebszugehörigkeit und ihrem unwiderlegten Vortrag, sie habe keine gezielte Auswahl von dienstlichen E-Mails an ihren privaten E-Mail-Account weitergeleitet und diese E-Mails keinem Dritten zugänglich gemacht sowie allein wegen der Spannungen zwischen ihr und der Geschäftsführerin der Beklagten zwecks Abwendung von Beweisnot und demgemäß ohne Schädigungsabsicht gehandelt, lasse dies die Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens in einem milderen Licht erscheinen. Hinzu komme, dass es sich dabei nicht gleichsam um eine Art systematische Pflichtverletzung gehandelt habe und dass dem Verhalten die irrige Vorstellung der Klägerin zugrunde gelegen habe, zur Selbsthilfe berechtigt zu sein. Demgegenüber wiege das Beendigungsinteresse der Beklagten nicht so schwer, als dass ihr die Fortführung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der arbeitsvertraglichen Kündigungsfrist von drei Monaten zum Monatsende unzumutbar sei. Letzteres gelte auch deshalb, weil die Beklagte durch drei Abmahnungen innerhalb von weniger als zwei Wochen nach vorangegangenem Scheitern von Verhandlungen zum Zwecke der von der Beklagten gewünschten Beendigung des Arbeitsverhältnisses ihren Teil zu der von den Parteien übereinstimmend als „angespannt“ beschriebenen Situation beigetragen habe. Demgemäß beende die hilfsweise erklärte fristgerechte Kündigung das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 30. September 2019.

Die Klägerin habe zudem gegen die Beklagte Anspruch auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung von 306,67 Euro brutto (anteilig) für Juni 2019 und weiterer jeweils 4.600,00 Euro brutto, abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeldes von je 1.643,40 Euro, für die Monate Juli, August und September 2019. Der Zinsanspruch folge aus dem Gesichtspunkt des Verzuges.

Gegen das ihr am 29. November 2019 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin am 19. Dezember 2019 Berufung eingelegt und diese – nach ihr bewilligter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. März 2020 – mit einem am 26. Februar 2020 eingereichten Schriftsatz begründet.

Am 16. April 2020 hat die Beklagte, der die Berufungsbegründungsschrift am 3. März 2020 zugestellt worden ist – nach ihr bewilligter Verlängerung der Beantwortungsfrist bis zum 4. Mai 2020 -, die Berufungsbeantwortungsschrift eingereicht und gleichzeitig mit dieser Anschlussberufung eingelegt.

Die Klägerin vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen und weist darauf hin, dass eine Trennung zwischen dienstlichen und privaten Kommunikationswegen bei der Beklagten nicht stattgefunden habe. Es sei üblich gewesen, dass die Geschäftsführerin sie am Wochenende und sogar während eines Urlaubs auf ihrem privaten Handy angeschrieben habe. Der ihr erteilte Arbeitsauftrag am 17. Juni 2019 hab ihr vor Augen geführt, dass es der Beklagten einzig und allein darum gegangen sei, sie möglichst schnell „abzuservieren“. Da sämtliche Aufzeichnungen und Notizen über die von ihr durchgeführten Store Checks verschwunden gewesen seien und sie überdies keinen Zugriff auf die von ihr an die Geschäftsführerin versandten E-Mails gehabt habe, habe sie sich in einem „Beweisnotstand“ befunden. Deshalb habe sie entschieden, sämtliche E-Mail-Korrespondenz zwischen ihr, der Geschäftsführerin und deren Assistentin an ihre private E-Mail-Adresse weiterzuleiten zur Dokumentation der Arbeitsbedingungen und um sich gegen zukünftige Vorwürfe zu wappnen. Sie habe insgesamt lediglich 41 E-Mails an ihre private E-Mail-Adresse weitergeleitet. Mit der E-Mail am 19. Juni 2019 um 15.19 Uhr, die sie um 15.58 Uhr an ihren privaten E-Mail-Account weitergeleitet habe, sei ihr eine Liste mit etwa 100 Artikeln übersandt worden. Die Liste habe auch Preise für die einzelnen Artikel enthalten. Die Preise seien jedoch völlig veraltet gewesen und stammten teilweise sogar aus dem Jahr 2016. Die mit E-Mail vom 24. Juni 2019 um 16.28 Uhr versandte Liste enthalte Verkaufspreise, die jedem Mitarbeiter im Vertrieb bekannt seien. Durch die Versendung dieser Liste an ihre private E-Mail-Anschrift seien keine Informationen abgeflossen, die sie sich nicht ohnehin jederzeit hätte notieren können.

Sie habe sich gerade nicht auf die Vorlagepflicht nach § 142 ZPO und § 424 ZPO verlassen können, denn sie habe damit rechnen müssen, dass als Beweise geeignete Unterlagen, die sich nicht in ihrer privaten Herrschaftssphäre befinden, plötzlich verschwinden würden. Sie habe daher gerade nicht E-Mails „prophylaktisch“ ohne Anlass an sich weitergeleitet. Auch habe sie nur belanglose E-Mails mit veralteten oder unwichtigen Zahlen sowie Bürokommunikation in sehr geringer Zahl an sich weitergeleitet; sensible Daten oder Gewinnmargen der Beklagten seien nicht darunter gewesen, was sich auf das Erfordernis einer Abmahnung ebenso auswirken müsse wie auf die vorzunehmende Interessenabwägung. Das Vertrauensverhältnis zu der Beklagten sei nicht unwiderruflich zerrüttet.

Auf das weitere Berufungsvorbringen der Klägerin in ihren Schriftsätzen vom 26. Februar (Bl. 159 ff. d. A.) und 20. Mai 2020 (Bl. 376 ff. d. A.) wird verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

1. unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Herne vom 14. November 2019, AZ 4 Ca 1297/19 festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung von 26. Juni 2019 beendet worden ist,

2. sowie festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 30.September 2019 hinaus fortbesteht,

3. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin zu unveränderten Bedingungen vertragsgemäß weiter zu beschäftigen,

4. die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

1. die Berufung der Klägerin zurückzuweisen,

2. auf die Anschlussberufung der Beklagten unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Herne vom 14. November 2019 (4 Ca 1297/19) die Klage abzuweisen.

Sie meint zunächst, dass die Berufungsbegründung nicht geeignet sei, zugunsten der Klägerin eine abändernde Entscheidung zu rechtfertigen. Die Berufungsbegründung beschränke sich bei Licht betrachtet einzig und allein darauf, ein (allzu) pauschales Bild von „Gut und Böse“ zu zeichnen. In dem Gespräch vom 21. März 2019 habe sie der Klägerin vorgehalten, dass sich Abweichungen hinsichtlich der gemeldeten Arbeitszeiten und tatsächlichen Anwesenheitszeiten im Betrieb ergäben hätten. Der Zeuge A. habe der Klägerin empfohlen, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden solle; die Klägerin möge sich von einem Rechtsanwalt beraten lassen. Anschließend habe sie die Klägerin widerruflich freigestellt. Ein am 15. April 2019 der Klägerin erteiltes Zwischenzeugnis habe eine gute bis sehr gute Leistungs- und Verhaltensbeurteilung enthalten. Sie habe das Beste aus der Situation machen wollen; nicht jedoch die Klägerin, was sich in den Tagen ab dem 17. Juni 2019 sehr dynamisch gezeigt habe. Die Beklagte trägt weiter vor, es sei zwischen den Parteien unstreitig, dass die Klägerin eine sehr hohe Anzahl von E-Mails mittels Blindkopie heimlich auf ihren privaten Mail-Account weitergeleitet habe, darunter Korrespondenz mit Arbeitsanweisungen und die Reaktion der Klägerin, aber auch E-Mails mit umfangreichen geschäftlichen Daten; dies räume die Klägerin selbst ein. Ob die Informationen aus den E-Mails bei Kunden oder Wettbewerbern „hohe Wellen geschlagen hätten“ oder nicht, müsse die Klägerin schon der Beklagte überlassen. Darauf, ob die elf E-Mails vom 19. Juni 2019 nicht mehr aktuell gewesen seien, komme es nicht an. Es lasse sich anhand dieser Preise jedenfalls eine Preisentwicklung nachvollziehen; keinesfalls dürften betriebliche Daten von der Klägerin privat „gehortet“ werden.

Zur Begründung ihrer Anschlussberufung führt die Beklagte aus: Die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts sei fehlerhaft. Es sei nicht zutreffend, dass sie – die Beklagte – das Arbeitsverhältnis (mit-)belastet habe. Die drei Abmahnungen seien berechtigt gewesen. Das Arbeitsgericht habe sich möglicherweise zu sehr von einer ex-post-Betrachtung leiten lassen. Für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung abzustellen. Zugunsten der Klägerin werte das Arbeitsgericht, dass diese ohne Schädigungsabsicht gehandelt habe. Doch es sei deren gesamtes Verhalten davon getragen gewesen, ihr – der Beklagten – einen späteren Prozessbetrug zu unterstellen. Die Klägerin habe systematisch und gezielt gehandelt, indem sie schlicht sämtliche Mail-Korrespondenz auf ihren Privat-Account weitergeleitet habe; dies lasse die Pflichtverletzung umso schwerwiegender erscheinen. Die Betriebszugehörigkeit der Klägerin sei von unterdurchschnittlicher Dauer. Es könne schließlich auch nicht zugunsten des Arbeitnehmers gereichen, dass er sich nicht ausschließlich E-Mails mit relevanten und sensiblen Unternehmensdaten weitergeleitet habe. Eine Pflichtverletzung sei auch die Weiterleitung von weniger sensiblen E-Mails. Die Beklagte bestreitet abschließend, dass die Klägerin sich tatsächlich subjektiv zu einer Selbsthilfe berechtigt gefühlt habe.

Wegen des weiteren tatsächlichen Vorbringens der Parteien wird verwiesen auf deren wechselseitige Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Protokolle der öffentlichen Sitzungen erster und zweiter Instanz, die insgesamt Gegenstand der letzten mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Berufung und Anschlussberufung sind zulässig, aber unbegründet.

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 14. November 2019 ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), als Rechtsstreitigkeit über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (§ 64 Abs. 2 lit. c ArbGG) zulässig sowie in gesetzlicher Form und Frist eingelegt (§ 519 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) und innerhalb der verlängerten Frist (§ 66 Abs. 1 Satz 1 und 5 ArbGG) ordnungsgemäß (§ 520 Abs. 3 iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG) begründet worden; sie ist damit zulässig.

Die Anschlussberufung der Beklagten vom 14. April 2020 ist statthaft und zulässig. Form und Frist für die Einlegung und Begründung der Anschlussberufung sind gewahrt (§§ 64 Abs. 6 ArbGG, 66 Abs. 1 ArbGG, § 524 Abs. 1 bis 3 ZPO).

II. In der Sache erweisen sich Berufung und Anschlussberufung als unbegründet.

Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Juni 2019 nicht außerordentlich fristlos, sondern fristgerecht zum 30. September 2019 beendet wurde. Die Anschlussberufung der Beklagten musste erfolglos bleiben.

1. Die von der Beklagten als „außerordenlich aus wichtigem Grund fristlos“ unter dem 26. Juni 2019 erklärte Kündigung hat das Arbeitsverhältnis nicht fristlos aufgelöst, weil unter Einbeziehung sämtlicher Umstände und Berücksichtigung der vorzunehmenden Interessenabwägung es der Beklagten nicht unzumutbar war, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.

a) § 626 Abs. 1 BGB regelt, dass das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden kann, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

aa) Hierzu ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Sodann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist (st. Rspr., vgl. nur etwa BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 597/16; BAG 19. Januar 2016 – 2 AZR 449/15; BAG 16. Juli 2015 – 2 AZR 85/15).

bb) Das für das Kündigungsrecht geltende ultima-ratio-Prinzip erkennt die Zulässigkeit einer außerordentliche Kündigung nur als quasi „letztes“ Mittel des Arbeitgebers an, und zwar für den Fall, dass weniger einschneidende ihm zur Verfügung stehende Gestaltungsoptionen nicht als hinreichend angesehen werden können. Auch vor Erklärung einer außerordentlichen Kündigung ist grundsätzlich eine erfolglose Abmahnung des monierten Fehlverhaltens erforderlich. Dieses Erfordernis gilt für Verstöße im Leistungsbereich ebenso wie für Verstöße, die den Vertrauensbereich betreffen, wenn diese auf einem steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers beruhen, mithin eine Wiederherstellung des Vertrauens zu erwarten ist (BAG 9. Februar 2006 – 6 AZR 47/05; BAG 11. März 1999 – 2 AZR 507/98). Allein dann ist eine Abmahnung entbehrlich, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft nicht erwartet werden kann oder es um so schwere Pflichtverletzungen geht, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich und für den Arbeitnehmer erkennbar ausgeschlossen ist (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13, NZA 2015, 294; BAG 31. Juli 2014 – 2 AZR 434/13, NZA 2015, 358).

cc) Als wichtiger Grund ist auch die schuldhafte Verletzung von Nebenpflichten „an sich“ geeignet (vgl. BAG 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, NZA 2014, 1258). Nach § 241 Abs. 2 BGB ist jede Arbeitsvertragspartei zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet. Die gesetzliche Regelung dient dem Schutz und der Förderung des Vertragszwecks. Der Arbeitnehmer hat seine Arbeitspflichten so zu erfüllen und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitgebers so zu wahren, wie dies von ihm unter Berücksichtigung seiner Stellung und Tätigkeit im Betrieb, seiner eigenen Interessen und der Interessen der anderen Arbeitnehmer des Betriebs nach Treu und Glauben verlangt werden kann (vgl. BAG vom 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, aaO). Aufgrund dieser Rücksichtnahmepflicht ist es dem Arbeitnehmer verwehrt, sich ohne Einverständnis des Arbeitgebers betriebliche Unterlagen oder Daten anzueignen oder diese für betriebsfremde Zwecke zu vervielfältigen (vgl. BAG 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, aaO; LAG Berlin-Brandenburg 16. Mai 2017 – 7 Sa 38/17, juris). Betreffen die Unterlagen Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, ist die Herstellung einer verkörperten Wiedergabe gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1b UWG sogar strafbewehrt, wenn dies zu Zwecken des Wettbewerbs, aus Eigennutz, zu Gunsten eines Dritten oder in der Absicht geschieht, dem Inhaber des Unternehmens Schaden zuzufügen. Verstößt der Arbeitnehmer rechtswidrig und schuldhaft gegen diese Vorgaben, kann darin ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegen. Ob es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragsparteien unzumutbar ist, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen, hängt insbesondere von der Motivation des Arbeitnehmers und möglichen nachteiligen Folgen für den Arbeitgeber ab (vgl. BAG 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, aaO, ihm folgend LAG Berlin-Brandenburg 16. Mai 2017 – 7 Sa 38/17, aaO).

b) Diese Grundsätze beachtend war im Streitfall mit dem Arbeitsgericht von einem wichtigen Grund „an sich“ auszugehen. Die Klägerin hat mit der Weiterleitung sogenannter Blindkopien dienstlicher E-Mails an ihre private E-Mail-Anschrift in schwerwiegender Weise gegen ihre arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht verstoßen.

aa) Es ist unstreitig, dass sich die Klägerin eine nicht geringe Anzahl dienstlicher E-Mails mittels Blindkopie zu betriebsfremden Zwecken auf ihren privaten E-Mail-Account weitergeleitet hat. Es sind dies insbesondere vier E-Mails vom 18. Juni 2019 (Analyse über Kundenreklamation), elf E-Mails vom 19. Juni 2019, darunter eine E-Mail um 15.58 Uhr, die auch Preise der Beklagten enthielt, sowie zwölf E-Mails vom 24. Juni 2019 (Auswertung über Geschäftsbeziehungen mit drei Kunden der Beklagten einschließlich einer Liste von Preisen der Hauptprodukte). Darüber hinaus hat die Klägerin eingeräumt, weitere, von ihr nicht gezielt ausgewählte dienstliche E-Mails an ihre private E-Mail-Adresse versandt zu haben.

bb) Eine dienstliche Notwendigkeit, sich Daten auf einen privaten E-Mail-Account zu übermitteln, bestand für die Klägerin nicht. Die Klägerin verfügte im Betrieb der Beklagten über einen eingerichteten Arbeitsplatz, an dem sie ihre Tätigkeiten zu verrichten hatte. Es gab seitens der Beklagten auch keine Anweisung, irgendwelche Arbeiten in der häuslichen Sphäre der Klägerin zu erbringen. Die Klägerin hat somit ohne Einverständnis der Beklagten heimlich Daten an ihre private E-Mail-Adresse weitergeleitet, ohne dass für diese Weiterleitung ein dienstliches Erfordernis gegeben gewesen wäre.

cc) Die Übersendung der Dateien war nicht von einer Erlaubnis der Beklagten gedeckt. Eine solche ergibt sich ersichtlich weder aus einem Einverständnis der Beklagten noch aus den arbeitsvertraglichen Regelungen. Auch ein irgendwie geartetes objektiv nachvollziehbares Bedürfnis für die letztlich ungezielte Weiterleitung geschäftlicher E-Mails an den privaten E-Mail-Account der Klägerin ist nicht ersichtlich.

Soweit die Klägerin darauf verweist, dass es bei der Beklagten üblich gewesen sei, auch über dienstliche Dinge per WhatsApp und SMS zu kommunizieren und dass eine Trennung zwischen dienstlichen und privaten Kommunikationswegen nicht stattgefunden den habe, mag dies zutreffend sei, vermag jedoch – da für die Wirksamkeit der Kündigung ohne Bedeutung – die Klägerin nicht zu entlasten. Ob die Beklagte dienstliche Angelegenheiten über (private) Nachrichtendienste kommuniziert, ist das Eine und letztlich Sache der Beklagten. Etwas völlig anderes ist es, wenn sich eine Arbeitnehmerin geschäftliche Daten ohne Wissen und Wollen des Arbeitgebers, also heimlich, an ihre private E-Mail-Adresse überspielt. Denn dies geschieht eben eigenmächtig durch die Arbeitnehmerin, während ein Kommunizieren dienstlicher Daten mittels privater Kommunikationswege durch die Beklagte oder etwa deren Geschäftsführerin, wie die Klägerin ausführt, willensgetragenes Verhalten der Beklagten und von dieser allein zu verantworten ist.

Die Weiterleitung der E-Mails war entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht dadurch gerechtfertigt, da sie keine andere Möglichkeit der Dokumentation der ihr vermeintlich widerfahrenen täglichen Schikane hinsichtlich der Aufgabenerteilung und Arbeitsbedingungen hatte. Zutreffend weist das Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang darauf hin, dass selbst wenn die Klägerin die E-Mails lediglich zu ihrer Rechtsverteidigung hätte verwenden wollen, schon nicht ohne Weiteres auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen geschlossen werden könne. Die Klägerin war insoweit auf die Regelungen zur Vorlagepflicht nach § 142 ZPO und § 424 ZPO zu verweisen. Es ist nicht erkennbar, dass ein entsprechendes prozessuales Vorgehen von vornherein aussichtlos gewesen wäre. Mehr als allgemeinen Spannungen zwischen der Klägerin und der Geschäftsführerin der Beklagten sind auch dem Berufungsvorbringen nicht zu entnehmen. Es ist ihm vor allem nicht entnehmbar, dass die Klägerin zwingend auf den Besitz einer unbestimmten Zahl beliebiger betrieblichen Daten angewiesen war; eine Beweisnot der Klägerin konnte mithin nicht angenommen werden. Die Berufungskammer bezieht sich weitergehend auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts und macht sich diese zu eigen.

dd) Es stellt damit die Übersendung der E-Mails an ihre private Adresse zu betriebsfremden Zwecken einen erheblichen Vertragsverstoß der Klägerin dar, der als wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung geeignet ist. Die übermittelten Daten betreffen Informationen, bei denen die Beklagte ein berechtigtes Interesse daran hat, dass diese nicht an Dritte weitergeleitet werden. Es betrifft dies insbesondere Daten zur Analyse über Kundenreklamation, zu Preislisten und zu Auswertungen über Geschäftsbeziehungen. Der Einwand der Klägerin, dass es sich bei den Preisen/Preislisten um solche gehandelt habe, die nicht mehr aktuell gewesen seien, kann nicht verfangen. Hierzu konnte die Beklagte zum einen unbestritten vortragen, dass sich anhand der Preise jedenfalls eine Preisentwicklung nachvollziehen lasse, zum andern ist der Beklagten zu folgen, wenn sie meint, es stehe der Klägerin nicht zu zu entscheiden, welche betrieblichen Daten ihr – der Beklagten – wichtig sind.

ee) Hingegen ist der Vorwurf gegenüber der Klägerin, den die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 14. April 2020 (dort S. 11 = Bl. 362 d. A.) als weiteren Kündigungsrund nachschiebt, die Klägerin habe ihrem Ehemann berufliche Korrespondenz mit Preisen gezeigt, nicht geeignet, die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Für ihren Vortrag, die WhatsApp- und SMS-Nachrichten enthielten teilweise einzelne Preise der Beklagen, hat sie zwar ihren Ehemann als Zeugen benannt. Die Klägerin hat indes in diesem Zusammenhang nicht eingeräumt, ihrem Ehemann berufliche Korrespondenz mit Preisen gezeigt zu haben, dies vielmehr in Abrede gestellt. Die Beklagte hat ihren Vorwurf zudem nicht substantiiert darzulegen vermocht.

c) Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Vertragsinteressen war es der Beklagten zumutbar, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.

Die dagegen gerichtete Anschlussberufung ist unbegründet.

aa) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesses des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Die Abwägung erfordert eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, sind nicht abschließend festgelegt. Zu berücksichtigen sind jedenfalls regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen der in Rede stehenden Pflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (BAG 8. Mai 2014 – 2 AZR 249/13, aaO). Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind (BAG 21. November 2013 – 2 AZR 197/11, EzA § 1 KSchG Verdachtskündigung Nr. 5).

bb) Nach diesen Grundsätzen führt die Interessenabwägung mit dem Arbeitsgericht dazu, dass es der Beklagten zumutbar war, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.

Zwar stellt sich die Pflichtverletzung der Klägerin wie ausgeführt als erheblich dar, da die geschäftlichen Interessen der Beklagten in schwerwiegender Weise unabhängig davon beeinträchtigt sind, ob die Klägerin die an sich selbst übersandten Daten Dritten gegenüber zugängliche gemacht hat oder nicht.

(1) Zugunsten der Klägerin war demgegenüber zu berücksichtigen, dass das Arbeitsverhältnis seit seinem Beginn bis jedenfalls etwa März 2019 bei einer knapp zweijährigen Betriebszugehörigkeit beanstandungsfrei verlief. Ebenso war zu würdigen der Vortrag der Klägerin, keine gezielte Auswahl von dienstlichen E-Mails an ihre private E-Mail-Adresse weitergeleitet, sondern dorthin auch allgemeine Korrespondenz ohne Unternehmensdaten übermittelt zu haben. Dass die Klägerin die E-Mails nach ihrem Vortrag keinem Dritten zugänglich gemacht, sondern aus ihrer Sicht zur Abwendung einer vermeintlichen Beweisnot und somit ohne Schädigungsabsicht gehandelt hat, lässt den Vorwurf des erheblichen Pflichtverstoßes zwar nicht entfallen, relativiert ihn jedoch. Es erschließt sich auch nicht die Darstellung der Beklagten, dass das gesamte Verhalten der Klägerin davon getragen war, der Beklagten einen späteren Prozessbetrug zu unterstellen und dass die Klägerin nachhaltig annimmt, die Beklagte hätte in einem solchen Prozess vorsätzlich bzw. lückenhaft vorgetragen. Hier arbeitet die Beklagte mit Mutmaßungen und unterstellt potentielle Sachverhalte. Zudem lässt sich der Klägerin keine systematische Pflichtverletzung in der Weise vorwerfen, dass das System ihres Handelns darin bestand, im Zweifelsfall lieber zu viel an betrieblichen Daten zu sammeln als zu wenig. Die Klägerin agierte vielmehr in der rechtlich unzutreffenden, irrigen Vorstellung, zur Selbsthilfe berechtigt zu sein. Der Gesichtspunkt eines nicht gegebenen Moment- oder Augenblicksversagens kann dem nicht entgegengesetzt werden, denn die Beklagte leitete sich die E-Mails verteilt über mehreren Tage auf ihren privaten Account weiter, nicht gezielt und nicht systematisch. Der Beklagten ist allerdings darin zu folgen, dass auch die Weiterleitung von E-Mails, die keine (relevanten) Unternehmensdaten enthielten, eine Pflichtverletzung darstellt. Allerdings erreicht diese Pflichtverletzung unter Berücksichtigung des dem gesamten Kündigungsrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Ergebnis nicht die rechtliche Qualität eines wichtigen Grundes. Letztlich wiegt das Beendigungsinteresse das Beklagte nicht so schwer, als dass ihr die Fortführung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der dreimonatigen ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar ist. Mit in die Abwägung einzubeziehen ist entgegen der Auffassung der Beklagten durchaus auch, dass diese selbst durch die Erteilung von drei Abmahnungen innerhalb von weniger als zwei Wochen nach vorangegangenem Scheitern von Verhandlungen zum Zwecke der von der Beklagten gewünschten Beendigung des Arbeitsverhältnisses beigetragen hat zu der von den Parteien übereinstimmend als „angespannt“ beschriebenen betrieblichen Situation. Hierin folgt die Berufungskammer dem Arbeitsgericht. Die Beklagte musste bei dieser Sachlage und mangels weiterreichender Erkenntnisse auch nicht befürchten, dass es bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zu weiteren Pflichtverletzungen der Klägerin kommen würde. Eine zu starke ex-post-Betrachtung des Arbeitsgerichts kann unter Berücksichtigung des Ausgeführten insgesamt nicht angenommen werden.

(2) Mildere Mittel vor Ausspruch der Kündigung waren nicht gegeben. Insbesondere bedurfte es keiner vorherigen Abmahnung der Klägerin.

Bei einer verhaltensbedingten Kündigung ist eine Abmahnung jedenfalls dann nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 BGB iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entbehrlich, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es um so schwere Pflichtverletzungen geht, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – und auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (st. Rspr., vgl. etwa BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13, NZA 2015, 294; BAG 31. Juli 2014 – 2 AZR 434/13, NZA 2015, 358; APS/Vossen KSchG § 1 Rn. 369).

Diese Grundsätze berücksichtigend war die Beklagte nicht verpflichtet, die Klägerin vor Erklärung der Kündigung vom 26. Juni 2019 wegen ihres Verhaltens abzumahnen. Für die Klägerin musste klar auf der Hand liegen, dass sie durch die Weiterleitung zahlreicher das betriebliche Kerngeschehen betreffende (Kundenanalysen, Preislisten und -kalkulationen, Auswertungen von Geschäftsbeziehungen) dienstlicher E-Mails als Blindkopie an ihre private E-Mail-Adresse in einem derart erheblichen Maß gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstieß, dass dies von ihrer Arbeitgeberin unter keinen Umständen toleriert werden würde.

Im Ergebnis löst die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende des Kalendermonats und damit zum 30. September 2019 auf.

2. Infolge der rechtswirksamen Kündigung zum 30. September 2019 hat die Klägerin gegen die Beklagte Entgeltansprüche aus Annahmeverzug in Höhe von 306,67Euro brutto (anteilig) für Juni 2019 sowie weiteren jeweils 4.600,00 Euro brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds in Höhe von je 1.643,40 Euro für die Monate Juli, August und September 2019, §§ 611 a, 615 BGB.

Die Berechnung der Entgelte ist auch im Berufungsrechtzug ohne Einwendungen geblieben.

Der Zinsanspruch aus dem Gesichtspunkt des Verzugs besteht gemäß §§ 280 Abs. 2, 286, 288, 291 BGB.

3. Der allgemeine Feststellungsantrag der Klägerin gemäß Ziffer 3 ist mangels bestehenden Feststellungsinteresses unzulässig.

4. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch der Klägerin über den 30. September 2019 hinaus besteht wegen der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu diesem Zeitpunkt nicht.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Kosten waren entsprechend des wechselseitigen Obsiegens und Unterliegens der Parteien zwischen ihnen zu quoteln.

IV. Gründe gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG für eine Zulassung der Revision waren nicht gegeben.

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