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Fristlose Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer

Nachschieben von Kündigungsgründen

Landesarbeitsgericht Köln – Az.: 3 Sa 736/19 – Urteil vom 15.07.2020

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 12.11.2019 – 4 Ca 2303/19 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen arbeitgeberseitigen Kündigung vom 27.08.2019 sowie über den Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 01.02.2006 beschäftigt. Er war zunächst in der Personalabteilung als Personalreferent tätig und wechselte mit Wirkung zum 17.04.2013 in das Qualitätsmanagement der Beklagten und ist dort als Qualitätsmanager mit einem monatlichen Bruttoverdienst von zuletzt 7.452,00 EUR tätig. Er ist im Jahr 1969 geboren, einem Kind zum Unterhalt verpflichtet und seit dem 07.06.2013 bei einem GdB von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.

Die Beklagte ist ein international tätiger Hersteller von Drogerieartikeln mit ca. 2.000 Mitarbeitern. Sie hat ihren Hauptstandort in S und betreibt in ca. 2 bis 3 km Entfernung ein sogenanntes Dienstleistungszentrum (DLZ), in dem auch der Kläger arbeitet. Außerdem verfügt die Beklagte über Niederlassungen in den N in H und Ho . Bei ihr besteht ein Betriebsrat.

Mit Schreiben vom 27.08.2019 (Bl. 38 d. A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich und fristlos aus wichtigem Grund. Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger im vorliegenden Rechtsstreit.

Wegen des gesamten weiteren erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Teilanerkenntnis- und Schlussurteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 12.11.2019 Bezug genommen. Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht unter anderem festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche und fristlose Kündigung vom 27.08.2019 nicht aufgelöst worden ist und hat des Weiteren die Beklagte verurteilt, den Kläger zu unveränderten Bedingungen über den 31.10.2019 hinaus auf dem bisherigen Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei weder als Tat-, noch als Verdachtskündigung rechtswirksam. Für die Tatkündigung fehle es an einer hinreichenden Darlegung bzw. an einem entsprechenden Nachweis, dass der Kläger vorsätzlich gegen das Verbot der Privatnutzung der Poolfahrzeuge verstoßen habe. Zur Begründung der Verdachtskündigung gebe es zwar Indizien für eine Privatnutzung durch den Kläger, die eingereichten Dokumente ließen nach Auffassung der Kammer jedoch einen solchen Rückschluss nicht erkennen. Der indizierte Verdacht sei abschließend nicht hinreichend stark, um zu einer wirksamen Kündigung zu gelangen. Insgesamt habe die Beklagte nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung ihres gesamten Vorbringens keinen Sachverhalt geschildert, der einen hinreichend dringenden, nicht anderweitig erklärbaren Verdacht begründe. Der bloße Vorwurf etwaiger Fehleintragungen des Klägers ins Fahrtenbuch reiche als wichtiger Grund ohne vorherige Abmahnung nicht aus. Wegen der weiteren Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 255 ff. d. A.) Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 09.12.2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30.12.2019 Berufung eingelegt und hat diese nach entsprechender Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist am 10.03.2020 begründet.

Die Beklagte trägt vor, sie habe im Hinblick auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils weitere Ermittlungen zu den erstinstanzlich bereits benannten Vorfällen aus den Monaten Mai bis Juli 2019 durchgeführt. Diese hätten die bereits erstinstanzlich vorgetragenen Kündigungsgründe und insbesondere den dringenden Verdacht strafbarer Handlungen seitens des Klägers weiter bestätigt.

Das gelte zunächst für den Vorfall vom 27. bis 29.05.2019. Der Kläger habe – seinem eigenen Eintrag im Fahrtenbuch entsprechend – das Fahrzeug am 27.05.2019 um 14.00 Uhr in Empfang genommen und am 29.05.2019 um 20.30 Uhr abends zurückgegeben. Im Outlook-Kalender habe er das Fahrzeug für die Fahrt vom DLZ nach H , Ho gebucht und dies genauso im Fahrtenbuch eingetragen. Unerklärt blieben dabei die vom Kläger eingetragenen 407 km, bei einer Entfernung von S nach H und Ho bzw. von S nach H zurück von ca. 480 km. Nicht nachvollziehbar sei auch die vom Kläger eingetragene besuchte Person „W „, der auf Nachfrage einen Termin mit dem Kläger nicht bestätigt habe. Schließlich liege eine Privatnutzung des Fahrzeugs nahe, da dem Kläger für den 27.05.2019 Gleitzeit und für den 28.05.2019 Homeoffice bewilligt worden sei. Hierzu passe auch der Umstand, dass der Kläger am 29.05.2019 zwischen 9.16 Uhr und 12.49 Uhr die Drehkreuze am Standort der Beklagten in S passiert, das Fahrzeug aber erst um 20.30 Uhr zurückgebracht habe. Schließlich sei der vermutete Besuch des R -Konzerts in G am 27.05.2019 ein weiteres starkes Indiz für eine unzulässige Privatnutzung des Klägers.

Weiter gelte dies für die Vorfälle am 12./13.06.2019. Hier sei die vom Kläger angegebene Fahrtstrecke von insgesamt 278 km bei den nach seinen Angaben angefallenen Fahrten zwischen dem Stammsitz in S und dem DLZ nicht nachvollziehbar. Das gelte umso mehr als der Kläger seine Arbeitszeit für den 12.06.2019 mit 7.50 Uhr bis 17.20 Uhr und für den 13.06.2019 von 6.55 Uhr bis16.50 Uhr in S erfasst habe. Außerdem habe der Kläger das Fahrzeug unerlaubter Weise über Nacht in Besitz gehabt und auch hier bestehe der dringende Verdacht, dass der Kläger das Fahrzeug jedenfalls am 13.06.2019 zwischen16.50 Uhr und 20.20 Uhr privat genutzt habe.

In ähnlicher Weise habe der Kläger vom 03.07.2019 bis 04.07.2019 ein Fahrzeug ausgeliehen, als Zielort das 3 km entfernte DLZ angegeben und insgesamt eine Fahrtstrecke von 213 km verbucht. Auch hier ergebe sich aus den durch die Zeiterfassung belegten Anwesenheitszeiten des Klägers in S bzw. im DLZ, dass er während seiner Arbeitszeit keine längeren Fahrtstrecken absolvieren konnte und dass er das Fahrzeug mangels Dienstreises am 03.07. oder 04.07.2019 vorschriftswidrig über Nacht in Besitz gehabt habe.

Schließlich lasse sich ein ähnliches Fehlverhalten des Klägers auch für die Zeit vom 04.07.2019 bis 08.07.2019 belegen. Erneut seien die vom Kläger eingetragenen, gefahrenen Kilometer nicht mit den ebenfalls von ihm angegebenen Fahrtzielen vereinbar. Auch die angeblich im externen Werk besuchten Personen arbeiteten nicht dort, sondern im Stammsitz in S . Zudem ließen die Eintragungen im Fahrtenbuch sowie die übrigen relevanten Daten wiederum den Verdacht zu, dass der Kläger das Fahrzeug vorschriftswidrig über das Wochenende in Besitz gehabt habe.

Ferner trägt die Beklagte vor, dass neben den oben geschilderten Tatsachen im Rahmen der weitergehenden Ermittlungen neue Tatsachen zu Tage getreten seien, die bereits vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung vorgelegen hätten, allerdings erst jetzt festgestellt worden seien. Diese beträfen den 09.04, 12.04. und 15.04.2019. Zu sämtlichen neu ermittelten Vorfällen habe sie den Kläger am 17.12.2019 schriftlich angehört und die Anhörung sei in der Folge aufgrund mehrerer schriftlicher Stellungnahmen des klägerischen Prozessbevollmächtigten mehrfach ergänzt worden. Auch der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung seien nachträglich mit schriftlichen Anhörungen vom 05.03.2020 umfassend beteiligt worden.

Zusammenfassend hält die Beklagte dem Kläger vor, er habe in Kenntnis der Bedeutung des Fahrtenbuchs und der bestehenden Richtlinien die Kilometerstände nach seinem eigenen Vorbringen nicht überprüft, so dass angesichts des erheblichen Umfangs der gefahrenen Kilometer im Hinblick auf die nur wenige Kilometer entfernten, eingetragenen Fahrtziele ein dringender Manipulationsverdacht entstehe. Vor allem sei aufgrund des Vorbringens der Beklagten und der nichtssagenden Einlassungen des Klägers belegt, dass der Kläger Fahrzeuge unerlaubt privat genutzt und diese Nutzung durch Manipulationen verschleiert habe. Davon unabhängig ergebe die vorzunehmende Gesamtschau und Gesamtwürdigung des klägerischen Verhaltens, dass zumindest der auf objektiven Tatsachen begründete Verdacht einer systematischen unerlaubten Privatnutzung der Poolfahrzeuge durch den Kläger bestehe. Angesichts der Schwere und des Gewichts der Pflichtverletzungen des Klägers sei der Beklagten die Einhaltung einer Kündigungsfrist nicht zuzumuten.

Die Beklagte beantragt, das Teilanerkenntnis- und Schlussurteil des Arbeitsgerichts Aachen, verkündet am 12.11.2019, zugestellt am 09.12.2019 – 4 Ca 2303/19 – teilweise abzuändern und die Klage insoweit abzuweisen, als das Teilanerkenntnis- und Schlussurteil in Ziffer2. und 3. des Tenors festgestellt hat, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche und fristlose Kündigung vom 27.08.2019 nicht aufgelöst worden ist und die Beklagte verurteilt wird, den Kläger zu unveränderten Bedingungen über den 31.10.2019 hinaus auf dem bisherigen Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger tritt der angefochtenen Entscheidung des Arbeitsgerichts bei und beschreibt zunächst im Einzelnen seine berufliche Tätigkeit und das Erfordernis kurzfristiger Dienstfahrten und von immer wieder anfallender Sonntagsarbeit. Im jährlichen Durchschnitt habe er Poolfahrzeuge für 5.000 bis 7.000 km im Umfang von ca. 2,5 Tagen in der Woche genutzt. Die Eintragungen im Fahrtenbuch erläutert er dahingehend, dass aufgrund der begrenzten Platzverhältnisse (nur eine Zeile pro Fahrt) von mehreren Fahrtzielen an einem Tag jeweils nur eins exemplarisch eingetragen worden sei. Daher sei die mangelnde Kongruenz von eingetragenen Fahrtzielen und Kilometerangaben praktisch systemimmanent. Hinsichtlich der Eintragungen im Outlook-Kalender trägt der Kläger vor, dass diese nur die ursprüngliche Reservierungssituation widergäben und oftmals vorkommende spätere, kurzfristige Änderungen nicht abgebildet seien. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass aufgrund der vom Kläger über Jahre entwickelten Routine kaum verlangt werden könne, dass er sich an einzelne Arbeitstage, gefahrene Strecken oder besuchte Mitarbeiter erinnern könne. Erschwerend komme hinzu, dass häufig spontane Einsätze die Tagesordnung des Klägers in der Vergangenheit bestimmt hätten. Schließlich sei der Kläger im streitbefangenen Zeitraum emotional besonders belastet gewesen, da sein Mutter im Sterben gelegen habe.

Wegen der zweitinstanzlich neu erhobenen Vorwürfe bezüglich der Vorfälle im April 2019 rügt der Kläger, dass hierzu nicht der Betriebsrat von vornherein angehört worden sei und nimmt im Übrigen näher Stellung. Er meint, dieses neue Vorbringen sei rechtlich für die Kündigung nicht relevant, da es sich um Tatsachen handele, die zum Zeitpunkt des arbeitsgerichtlichen Verfahrens bereits vorgelegen hätten und der Beklagten bekannt gewesen seien. Die Beklagte hätte alle Vorwürfe rechtzeitig sammeln und präzisieren müssen, anstatt eine Kündigung auszusprechen, bevor der Sachverhalt ausermittelt gewesen sei. Im Übrigen verweist der Kläger wegen der bereits erstinstanzlich geltend gemachten Vorwürfe auf sein erstinstanzliches Vorbringen sowie seine Stellungnahmen im Rahmen der Anhörungen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.   Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.   Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht in dem zweitinstanzlich von der Beklagten angegriffenen Umfang stattgegeben.

1.   Die außerordentliche Kündigung vom 27.08.2019 ist sowohl als Tat-, wie auch als Verdachtskündigung rechtsunwirksam und hat das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht mit sofortiger Wirkung beendet, denn sie ist unverhältnismäßig.

a)   Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis außerordentlich aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Diese Voraussetzung ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in einer zweistufigen Prüfung zu ermitteln. Zunächst ist zu prüfen, ob ein wichtiger Grund vorliegt, der ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls überhaupt „an sich“ geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Alsdann bedarf es gegebenenfalls der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (zuletzt BAG, Urteil vom 13.12.2018- 2 AZR 370/18, NZA 2019, 445 mit weiteren Nachweisen).

Handelt es sich dabei um eine sogenannte Verdachtskündigung, so kann diese nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektive Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende Tatsachen gestützt sein. Es muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermochte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus (vgl. BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 611/17, NZA 2018, 1405; BAG, Urteil vom 02.03.2017- 2 AZR 698/15 -, NZA 2017, 1051; BAG, Urteil vom 17.03.2016 – 2 AZR 110/15, BeckRS 2016, 72235).

b)   Wendet man diese Grundsätze im vorliegenden Fall an, so erweist sich die außerordentliche, fristlose Kündigung jedenfalls als unverhältnismäßig, denn der Beklagten ist bei Abwägung der Gesamtumstände die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar.

aa)   Der beklagtenseitige Kündigungsvorwurf der mehrfachen unerlaubten Privatnutzung von Poolfahrzeugen durch den Kläger stellt eine schwere Vertragspflichtverletzung des Klägers und damit unzweifelhaft auf der ersten Prüfungsstufe einen „an sich“ zur außerordentlichen Kündigung berechtigenden Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB dar. Das gilt sowohl für die Tat-, als auch für die Verdachtskündigung.

bb) Allerdings erweist sich die außerordentliche Kündigung im Rahmen der auf der zweiten Prüfungsstufe vorzunehmenden umfassenden Abwägung sämtlicher Einzelfallumstände und der beiderseitigen Interessen als unverhältnismäßig, denn der Beklagten steht mit der Möglichkeit der ordentlichen Kündigung ein angemessenes, verhältnismäßiges und milderes Mittel zur Sanktionierung des klägerseitigen Fehlverhaltens zur Verfügung.

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die dem Kläger von der Beklagten vorgeworfenen Vertragspflichtverletzungen insgesamt oder nur in Teilen zutreffen. Selbst bei einem insgesamt unterstellten Kündigungsvorwurf sieht die erkennende Kammer in dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung eine Verletzung des ultima-ratio-Prinzips. Bei dieser Beurteilung bleiben weder die Schwere des Pflichtverletzungsvorwurfs noch die besonderen Umstände des klägerischen Arbeitsverhältnisses außer Betracht. Denn neben den zugunsten des Klägers sprechenden Umständen einer im Zeitpunkt der Kündigung mehr als 13-jährigen Betriebszugehörigkeit sowie einer bestehenden Unterhaltspflicht fallen zu seinen Lasten seine langjährige Erfahrung als Personalreferent sowie seine herausgehobene Funktion als Qualitätsmanager ins Gewicht. Gerade ein Arbeitnehmer, der täglich mit der Bewertung fremder Arbeitsbedingungen beschäftigt ist, sollte über eine hinreichende Sensibilität für die korrekte Wahrnehmung seiner eigenen vertraglichen Pflichten verfügen. Das ist beim Kläger ausweislich seiner äußerst pauschalen Einlassungen zu den konkreten arbeitgeberseitigen Vorwürfen, wie beispielsweise der privaten Nutzung des Poolfahrzeugs für den Besuch eines Musikkonzerts, offensichtlich nicht der Fall. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hält die erkennende Kammer in Anbetracht der Schwere der vorgeworfenen Pflichtverletzung eine vorherige Abmahnung des Klägers für entbehrlich.

Die gesetzliche Kündigungsfrist des Klägers beträgt gemäß § 622 Abs. 2 BGB fünf Monate zum Ende eines Kalendermonats. Unter Berücksichtigung der außerordentlichen Kündigung als schärfstes und in seinen Auswirkungen gravierendstes Sanktionsmittel für arbeitnehmerseitig begangene Vertragsverstöße hält die Kammer eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger für die Dauer dieser Kündigungsfrist grundsätzlich für zumutbar. Das gilt insbesondere insofern, als die vorgeworfene Vertragspflichtverletzung nicht die unmittelbare Arbeitsleistung des Klägers betrifft. Vielmehr geht es ausschließlich um eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, nämlich die vertragsgerechte, dienstliche Nutzung der Poolfahrzeuge. Damit wäre es dem Kläger problemlos möglich, seine Arbeitsleistung weiterhin – also auch für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist – ordnungsgemäß zu erbringen. Andererseits könnte die Beklagte die Gefahr einer erneuten gleichgelagerten Vertragspflichtverletzung des Klägers durch einen sofortigen Entzug der Berechtigung zur Nutzung von Poolfahrzeugen beseitigen. Auf diese Weise wäre ein erneuter gleichartiger Verstoß des Klägers ausgeschlossen und der Kläger könnte für die Dauer der Kündigungsfrist beschäftigt werden. Hierauf hat die Kammer im Rahmen der Erörterungen in der mündlichen Berufungsverhandlung hingewiesen.

Dieses Abwägungsergebnis ändert sich auch unter Berücksichtigung der schwerbehinderungsmäßigen Gleichstellung des Klägers nicht. Denn einerseits ist selbst nach dem Vortrag des Klägers kein Zusammenhang zwischen seiner Schwerbehinderung und dem Kündigungsvorwurf erkennbar. Zum anderen bleibt auch unter Berücksichtigung des durch die vorgeschriebene Beteiligung des Inklusionsamts bedingte verzögerte Möglichkeit der Kündigungserklärung der ordentlichen Kündigung die hierdurch verlängerte Kündigungsfrist bei einer Abwägung gegenüber der sofortigen, fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses für die Beklagte zumutbar. Zwar ist der Beklagten einzuräumen, dass im vorliegenden Fall eine außergewöhnlich lange, im Zeitpunkt der mündlichen Berufungsverhandlung immer noch nicht abgeschlossene Bearbeitungsdauer des Inklusionsamts zu reklamieren ist. Allerdings kann diese bei der vorliegenden Abwägungsentscheidung keine Berücksichtigung finden. Denn maßgeblich ist insoweit alleine die im Zeitpunkt der Kündigungserklärung zu treffende Prognoseentscheidung, die sich ihrerseits an der gesetzlichen Regelung des § 171 Abs. 1 SGB IX, also einer Sollvorgabe einer einmonatigen Frist zur Entscheidung über den Antrag für eine ordentliche Kündigung an das Inklusionsamt, ausrichtet. In Betracht käme allenfalls die Berücksichtigung einer beim konkreten Inklusionsamt üblichen, der gesetzlichen Sollvorgabe nicht entsprechendem, längeren Bearbeitungsfrist. Hierfür fehlt es entsprechendem Parteivortrag.

c)   Außerdem ist die Beklagte mit den neuen, erstmalig zweitinstanzlich vorgetragenen Vorwürfen bezüglich der behaupteten Pflichtverletzungen des Klägers im Zusammenhang mit der vertragswidrigen Nutzung von Poolfahrzeugen am 09.04., 12.04. und 15.04.2019 ohnehin präkludiert, denn es fehlt insoweit an einer vorherigen Zustimmung bzw. eingetretenen Fiktion gemäß § 174 SGB IX.

Nach dieser Vorschrift bedarf auch die außerordentliche Kündigung – ebenso wie die ordentliche Kündigung nach § 168 SGB IX – der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX wird die Zustimmung fingiert, wenn das Integrationsamt innerhalb von zwei Wochen nach Antragstellung keine Entscheidung getroffen hat. Dabei muss der Antrag eine detaillierte Darstellung des gesamten Kündigungssachverhalts enthalten, denn in einem späteren Kündigungsschutzprozess können nicht mitgeteilte Sachumstände nicht zur Begründung der Kündigung herangezogen werden (vgl. OVG NW vom 13.11.2012- 12 A 1903/12 -, juris). Das gilt in gleicher Weise für sogenannte nachgeschobene Sachumstände, die im Zeitpunkt der Kündigung bereits vorgelegen haben, vom Arbeitgeber aber erstmals im Kündigungsschutzprozess zur Unterstützung der Kündigung vorgebracht werden. Diese Umstände waren nicht Gegenstand des ursprünglichen Antrags an das Integrationsamts und sind daher von der Zustimmung bzw. Fiktionswirkung nicht erfasst (a.A. LAG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24.11.1999- 3 Sa 164/99-, BehindertenR 2001, 31). Das gilt unabhängig davon, ob sie im Zusammenhang mit der Behinderung stehen (so aber BAG, Urteil vom 19.12.2991- 2 AZR 367/91 -, juris; BAG, Urteil vom 20.01.1984 – 7 AZR 143/82 -, juris). Jegliche arbeitsrechtliche Berücksichtigung von nicht dem Integrationsamt mitgeteilten Gründen ließe die gesetzlich vorgegebene, strikte verfahrensmäßige Trennung von Verwaltungs- und Arbeitsgerichtsverfahren außer Acht (Düwell in: LPK-SGB IX, § 91 Rn. 42; Kreitner in: jurisPK SGB IX, 3. Aufl., § 174 Rn. 48). Gesetzeskonform ist daher allein ein generelles Verbot des Nachschiebens von Kündigungsgründen (so im Ergebnis: VGH Baden-Württemberg vom 05.08.1996 – 7 S 483/95- , juris; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 22.06.2006 – 1 Sa 96/06 -, juris; ArbG Lüneburg vom 18.05.2000 – 2 Ca 726/00 -, NZA-RR 2000, 530; Nägele-Berkner, NZA 2016, 19; Trenk-Hinterberger in: HK-SGB IX, 4. Aufl., § 91 Rn 45).

2.   Der Kläger hat gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Wirksamkeit der streitbefangenen Kündigung im vorliegenden Kündigungsschutzrechtstreit.

Die Tenorierung durch das Arbeitsgericht bedarf insoweit der Klarstellung, dass der Kläger keinen unbeschränkten Beschäftigungsanspruch, sondern lediglich eine Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits geltend macht. Dies folgt zweifelsfrei aus der diesbezüglichen Begründung in der Klageschrift vom 30.07.2019, die den Anspruch ausdrücklich auf § 102 Abs. 5 BetrVG stützt. In der Sache folgt die Kammer mit dem Arbeitsgericht insoweit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach der Grundsatzentscheidung des Großen Senats vom 27.02.1985 (GS 1/84, BAGE 48, 122). Danach ist der Anspruch aufgrund der vorstehenden Ausführungen zur Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung und im Hinblick darauf, dass eine ordentliche Folgekündigung noch nicht erklärt worden ist, begründet.

III.   Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des von ihr erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Gründe für eine Revisionszulassung gemäß 72 Abs. 2 ArbGG bestehen nicht. Alle erheblichen Rechtsfragen sind höchstrichterlich geklärt; die Ausführungen der Kammer zu § 174 SGB IX sind nicht tragend. Im Übrigen beruht die Entscheidung auf den Umständen des Einzelfalls.

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