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Fristlose Kündigung – Verstoß gegen Anzeigepflicht bei Arbeitsunfähigkeit

ArbG Berlin, Az.: 48 Ca 5036/16

Urteil vom 05.10.2016

I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung noch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 29.03.2016 beendet worden ist.

II. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Gruppenleiter im handwerklichen Erziehungsdienst weiter zu beschäftigen.

III. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

IV. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 9.818,00 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlich und hilfsweise ordentlich ausgesprochenen Kündigung sowie um einen Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers.

Der am …. 1970 geborene, ledige und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 1. Februar 2008 bei der Beklagten, die regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, als Gruppenleiter, zuletzt im handwerklichen Erziehungsdienst, tätig. Sein Arbeitsentgelt beträgt bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden 2.454,00 Euro brutto monatlich.

Fristlose Kündigung – Verstoß gegen Anzeigepflicht bei Arbeitsunfähigkeit
Symbolfoto: fizkes/Bigstock

Bei der Beklagten handelt es sich um eine von mehreren Gesellschaften des Mosaik-Unternehmensverbundes, die im Bereich der Integration behinderter Menschen tätig sind. Die Beklagte betreibt Werkstätten für behinderte Menschen und unterhält verschiedene Abteilungen, in denen die bei ihr beschäftigten Menschen mit Behinderung jeweils in unterschiedlichen Bereichen tätig sind.

Die Tätigkeit des Klägers als Gruppenleiter im handwerklichen Erziehungsdienst umfasst die umfängliche Betreuung der Werkstattbeschäftigten, u.a. die Durchführung pflegerischer Maßnahmen, die Durchführung pädagogischer Gruppen- und Einzelangebote, Medikamentenvergabe, Kooperation mit dem sozialen Umfeld, Konfliktverhütung, Konfliktbewältigung, Hilfestellung bei handwerklichen Problemstellungen, Erstellung und Fortschreibung der individuellen Förderplanung.

Am 2. April 2015 blieb der Kläger ohne seinen Vorgesetzten, den Leiter der Betriebsstätte Herrn B. oder dessen Stellvertreterin hierüber zu informieren, der Arbeit fern.

Die Beklagte sprach ihm aus diesem Grund eine auf den 8. April 2014 datierte Ermahnung aus, wegen deren Inhalts im Einzelnen auf Bl. 70 d.A. verwiesen wird.

Mit Schreiben vom 11. September 2015 forderte die Beklagte nach vorherigen ähnlich gelagerten Vorfällen den Kläger durch ihren Personalleiter auf, in Fällen der Arbeitsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am ersten Tag der Erkrankung bei seinem nunmehrigen Vorgesetzten, Herrn W., einzureichen.

Im Oktober 2015 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Er legte der Beklagten anlässlich dieser Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 29. Oktober 2015 bescheinigte.

Am 30. Oktober und 2. November 2015 nahm der Kläger seine Arbeit nicht auf, er unterrichtete über sein Fernbleiben auch nicht seinen Vorgesetzten oder dessen Stellvertretung.

Am 3. November 2015 erhielt der Vorgesetzte des Klägers, Herr W., eine E-Mail, mit der sich der Kläger für die gesamte Woche weiterhin arbeitsunfähig krank meldete.

Die Beklagte sprach dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 3. Dezember 2015 eine Abmahnung aus, wegen deren Inhalts im Einzelnen auf Bl. 72 d.A. verwiesen wird.

Am 22. Februar 2016 erschien der Kläger erneut nicht zur Arbeit. Er informierte über sein Fernbleiben weder seinen Vorgesetzten noch dessen Stellvertretung.

Am folgenden Tag, dem 23. Februar 2016 erschien der Kläger wieder an seinem Arbeitsplatz. Er erklärte Herrn W. in einem Telefonat, dass er am 22. Februar 2016 einen Arzttermin vergessen und sein Mobiltelefon nicht dabei gehabt habe.

Am 24. Februar 2016 reichte der Kläger für den 22. Februar 2016 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Herrn W. ein.

Ebenfalls am 24. Februar 2016 leitete die Beklagte bei dem bei ihr gebildeten Betriebsrat ein Anhörungsverfahren zu einer beabsichtigten außerordentlichen und hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers ein. Wegen des Inhalts des Anhörungsschreibens im Einzelnen wird auf Bl. 76 – 80 d.A. verwiesen.

Der Betriebsrat hörte den Kläger am 1. März 2016 zu den ihm vorgeworfenen Pflichtverletzungen an. In einer danach abgegebenen Stellungnahme an die Beklagte bat er, von einer Kündigung des Klägers Abstand zu nehmen und diesem nochmals eine Chance einzuräumen. Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der Kläger unter Depressionen leide.

Die Beklagte nahm daraufhin von ihrer Kündigungsabsicht Abstand und führte mit dem Kläger ein Gespräch über ein betriebliches Eingliederungsmanagement durch.

Der Kläger erklärte in diesem Gespräch, depressive Störungen zu haben, sich nunmehr aber in Therapie zu befinden. Ob er zudem angab, an einer Alkoholerkrankung zu leiden, ist zwischen den Parteien streitig.

Wegen des Vorfalls vom 22. Februar 2016 sprach die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung aus, die dem Kläger am 18. März 2016 zuging.

Wegen des Inhalts dieses Schreibens im Einzelnen wird auf Bl. 73 und 74 d.A. verwiesen.

Am 4. März 2016 erschien der Kläger krankheitsbedingt nicht zur Arbeit. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reichte er an diesem Tag nicht ein, sondern legte diese erst am 8. März 2016 vor.

Die Beklagte sprach dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 16. März 2016 eine weitere Abmahnung aus, wegen deren Inhalts im Einzelnen auf Bl. 75 d.A. verwiesen wird.

Am 17. März 2016 nahm der Kläger krankheitsbedingt seine Arbeit erneut nicht auf. Er meldete sich für diesen Tag bei seinem Vorgesetzten Herrn W. per E-Mail krank. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung legte er nicht vor.

Auch am 18. März 2016 erschien der Kläger nicht zur Arbeit, die Beklagte informierte er hierüber nicht. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung legte er nicht vor.

Mit Schreiben vom 22. März 2016 hörte die Beklagte den Betriebsrat daraufhin erneut zu einer beabsichtigten außerordentlichen und hilfsweise ordentlichen Kündigung des Klägers an. Wegen des Inhalts der dem Betriebsrat in diesem Zusammenhang mitgeteilten Kündigungsbegründung im Einzelnen wird auf Bl. 81 – 85 d.A. verwiesen.

Der Betriebsrat äußerte sich hierzu nicht.

Mit Schreiben vom 29. März 2016, dem Kläger zugegangen am 2. April 2016, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich und hilfsweise ordentlich.

Gegen die Wirksamkeit dieser Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner am 15. April 2016 bei Gericht eingegangenen Klage, mit der er zudem einen Weiterbeschäftigungsanspruch geltend macht sowie hilfsweise Urlaubsabgeltungsansprüche.

Der Kläger beruft sich darauf, dass er unter einer Depression leide, die mit Antriebslosigkeit, Erschöpfung, massiven Schlafschwierigkeiten, Konzentrationsproblemen und ständigem Grübeln verbunden sei. Er leide zudem an einer Alkoholerkrankung. Sowohl Depression als auch Alkoholerkrankung seien der Beklagten bekannt gewesen. Durch seine Erkrankungen sei er nicht mehr in der Lage gewesen, alltägliche Pflichten zu erfüllen. Er sei jedoch therapiewillig. Vom 2. – 15. Juni 2016 habe er eine stationäre Alkoholentgiftung durchgeführt. In der Folgezeit habe er die Therapie fortgeführt und weitere Angebote zur Stabilisierung wahrgenommen.

Der Kläger beantragt,

1.

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 29. März 2016 beendet worden ist;

2.

im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Gruppenleiter im handwerklichen Erziehungsdienst weiter zu beschäftigen; hilfsweise zum Antrag zu 1., die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.171,96 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klageerweiterung vom 7. Juni 2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich darauf, dass der Kläger am 2. April, 30. Oktober, 2. November 2015, 22. Februar, 4., 17. und 18. März 2016 nicht zur Arbeit erschienen sei, ohne dies seinem Vorgesetzten oder dem Personalbüro zu melden bzw. ohne rechtzeitig eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Neben den erteilten Abmahnungen wiege besonders schwer, dass der Kläger durch seine Anhörung durch den Betriebsrat am 1. März 2016 gewusst habe, dass die Beklagte sein Verhalten bis zu diesem Zeitpunkt bereits als ausreichend für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung ansah. Gleichwohl habe er sein Verhalten nicht gebessert, sondern nur drei Tage später am 4. März 2016 erneut gegen die Verpflichtung zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung verstoßen. Dieses Verhalten des Klägers mache deutlich, dass er nachhaltig nicht bereits sei, Weisungen seines Arbeitgebers zu befolgen. Das Verhalten des Klägers erweise sich als besonders schwerwiegend, weil eine wichtige Komponente in der Arbeit mit dem Werkstattbeschäftigten als Menschen mit Behinderung Kontinuität sei. Die Menschen mit Behinderung seien auf einen täglichen Gleichlauf ihrer Beschäftigung bei der Beklagten angewiesen. Dazu gehöre nicht nur ein gleichmäßiger Tätigkeitsablauf, sondern vor allem auch eine kontinuierliche Betreuung durch dieselben Personen. Dies seien die pädagogischen Mitarbeiter in den Fördergruppen, zu denen auch der Kläger als Gruppenleiter gehöre. Soweit sich der Kläger darauf berufe, dass er an Depressionen und einer Alkoholerkrankung leide, so sei darauf zu verweisen, dass die Beklagte erstmals durch den Betriebsrat anlässlich der ersten Kündigungsanhörung davon erfahren habe, dass der Kläger unter Depressionen leiden solle. Dies sei der Grund dafür gewesen, zunächst von der Kündigungsabsicht Abstand zu nehmen. In dem deshalb geführten Gespräch habe der Kläger lediglich eingeräumt, depressive Störungen zu haben, von einer Alkoholerkrankung habe er nichts erwähnt. Ob der Kläger pathologisch an einer Depression leide, wisse die Beklagte nicht. Ebenso wenig könne sie einschätzen, ob dieses Krankheitsbild so ausgeprägt sei, dass es den Kläger daran hindere, seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nachzukommen. Eine etwaige Alkoholsucht des Klägers bestreite die Beklagte mit Nichtwissen.

Wegen des Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze sowie auf das Protokoll über die Kammersitzung vom 31. August 2016 nebst jeweiligen Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist zulässig und begründet, soweit sich der Kläger mit ihr gegen die Wirksamkeit der ihm mit Schreiben vom 29. März 2016 ausgesprochenen außerordentlichen und hilfsweise ordentlichen Kündigung wendet. Trotz der von der Beklagten zur Begründung der Kündigung angeführten zahlreichen Verstöße des Klägers gegen die ihm im Zusammenhang mit einer eingetretenen Arbeitsunfähigkeit obliegenden Anzeigepflichten sowie des von der Beklagten zur Begründung der Kündigung des Weiteren angeführten Verstoßes gegen die Nachweispflicht anlässlich einer Erkrankung vom 17. und 18. März 2016 erweist sich die ausgesprochene Kündigung sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche Kündigung als unwirksam.

1.

Eine schwere, schuldhafte Vertragspflichtverletzung kann die außerordentliche oder ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nach § 626 Abs. 1 BGB bzw. § 1 Abs. 2 KSchG rechtfertigen. Ein Grund zur Kündigung kann dabei nicht nur in der Verletzung einer vertraglichen Hauptleistungspflicht, sondern auch in der Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht liegen. Dabei gilt das Prognoseprinzip. Zweck einer verhaltensbedingten Kündigung ist nicht eine Sanktion für die begangene Pflichtverletzung, sondern die Vermeidung künftiger Pflichtverstöße – ggf. selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Die fragliche Pflichtverletzung muss sich deshalb noch für die Zukunft belastend auswirken. Eine entsprechende Prognose ist berechtigt, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag auch künftig erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzt deshalb regelmäßig eine einschlägige Abmahnung voraus. Diese dient der Objektivierung der negativen Prognose. Liegt eine solche Abmahnung vor und verletzt der Arbeitnehmer gleichwohl erneut seine vertraglichen Pflichten, so kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch künftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen (BAG v. 26.11.2009 – 2 AZR 751/08 – zitiert nach juris). Die Verletzung einer Nebenpflicht anlässlich einer Arbeitsunfähigkeit, nämlich die Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung der Arbeitsunfähigkeit oder die Pflicht zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit, kann dementsprechend nach erfolgloser Abmahnung grundsätzlich eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen (LAG Köln v. 07.01.2008 – 14 Sa 1311/07 – zitiert nach juris). Eine außerordentliche Kündigung kommt dagegen bei derartigen Nebenpflichtverletzungen nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht. Angesichts des regelmäßig geringeren Gewichts der Nebenpflichtverletzungen bedarf es für eine außerordentliche Kündigung der Feststellung besonders erschwerender Umstände des Einzelfalls, die ausnahmsweise die Würdigung rechtfertigen, dem Arbeitgeber sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar (LAG Köln v. 07.01.2008 a.a.O.). Solche erschwerenden Gründe können insbesondere angenommen werden, wenn der Arbeitnehmer bereits mehrfach einschlägig abgemahnt worden ist und sich das Fehlverhalten infolge dessen als beharrliche Arbeitspflichtverletzung darstellt.

2.

Ausgehend hiervon erweisen sich sowohl die von der Beklagten mit Schreiben vom 29. März 2016 ausgesprochene außerordentliche Kündigung als auch die in diesem Schreiben hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung als unwirksam.

Zwar ist nicht zu verkennen, dass der Kläger – unstreitig – beginnend mit dem Monat April 2015 in verschiedenen Fällen im Zusammenhang mit aufgetretenen Arbeitsunfähigkeiten gegen die ihm als Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis obliegende Anzeigepflicht bei Erkrankungen verstieß, indem er sich gar nicht oder teilweise erst mit erheblicher Verspätung bei der Beklagten meldete, um seine Verhinderung infolge einer Erkrankung anzuzeigen, trotz dieser – insbesondere ab Februar 2016 – verstärkt auftretenden Pflichtverletzungen scheitert die ausgesprochene Kündigung sowohl als außerordentliche als auch als ordentliche jedoch daran, dass die Beklagte dem Kläger anlässlich der Pflichtverstöße vom 22. Februar und 4. März 2016 Abmahnungen aussprach, die dem Kläger erst am 18. März 2016 und damit nach den zur Kündigung angeführten Pflichtverstößen vom 17. und 18. März 2016 zuging.

Wie die Beklagte selbst vortrug, entschloss sich die Beklagte zunächst, anlässlich des Verstoßes des Klägers gegen die ihm obliegende Anzeigepflicht vom 22. Februar 2016, dem Kläger eine außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung auszusprechen. Wegen dieses Verstoßes leitete die Beklagte am 24. Februar 2016 daher beim Betriebsrat ein Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG zu einer Kündigung des Klägers ein. Nach einer Intervention des Betriebsrates führte die Beklagte im Folgenden mit dem Kläger jedoch ein Gespräch, in dem der Kläger der Beklagten mitteilte, dass er an Depressionen leide. Die Beklagte entschloss sich aus diesem Grund, von ihrer Kündigungsabsicht Abstand zu nehmen und dem Kläger zunächst eine weitere Abmahnung auszusprechen.

Sie ging dementsprechend selbst davon aus, dass Umstände vorlagen, auf Grund derer dem Kläger vor Ausspruch einer Kündigung nochmals zu verdeutlichen war, dass weitere Verstöße gegen die Anzeige- oder Nachweispflicht eine Kündigung nach sich ziehen würden, und sprach dem Kläger aus diesem Grund mit Schreiben vom 16. März 2016 wegen des Vorfalls vom 22. Februar 2016 eine Abmahnung aus.

Auch wegen des nochmaligen Pflichtverstoßes des Klägers vom 4. März 2016 entschloss sich die Beklagte zum Ausspruch einer weiteren Abmahnung.

Die Abmahnungen gingen – wie im Kammertermin erörtert und zumindest für die Abmahnung betreffend den 22. Februar 2016 durch die Betriebsratsanhörung belegt – dem Kläger am 18. März 2016 zu.

Hinsichtlich der bereits davor liegenden weiteren Pflichtverstöße des Klägers vom 17. und 18. März 2016 konnten die Abmahnungen damit keine Warnfunktion entfalten. Eine kündigungsrelevante Wirkung hatten die von der Beklagten selbst für notwendig erachteten Abmahnungen anlässlich der Vorfälle vom 22. Februar und 4. März 2016 hinsichtlich der Vorfälle vom 17. und 18. März 2016 angesichts ihres späten Zugangs nicht. Obwohl die Beklagte nach dem Gespräch mit dem Kläger vor Kündigungsausspruch weitere Abmahnungen für erforderlich hielt und den Betriebsrat in der Anhörung zur nunmehrigen Kündigung auch über den Ausspruch dieser Abmahnung informierte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis des Klägers ohne vorherigen Zugang dieser Abmahnungen nach Ausspruch nur einer Ermahnung und einer Abmahnung.

Die ausgesprochene Kündigung erweist sich damit als unwirksam.

Entgegen der vom Beklagtenvertreter im Kammertermin vom 31. August 2016 vertretenen Auffassung ändert der Umstand, dass der Kläger im Rahmen der ersten Anhörung zu einer – dann nicht ausgesprochenen – Kündigung vom Betriebsrat über die Kündigungsabsicht der Beklagten informiert und zu dem entsprechenden Sachverhalt angehört wurde, an der Rechtslage nichts.

Die Anhörung eines Arbeitnehmers durch den Betriebsrat im Rahmen eines Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG ist bereits von ihrem Sinn und Zweck her nicht geeignet, Verpflichtungen des Arbeitgebers im Zusammenhang mit dem Ausspruch von verhaltensbedingten Kündigungen und insbesondere das Abmahnerfordernis zu erfüllen. Unabhängig davon ändert die vom Betriebsrat durchgeführte Anhörung des Klägers zudem auch nichts daran, dass sich die Beklagte nach der Intervention des Betriebsrats dazu entschloss, dem Kläger vor dem Ausspruch einer erneuten Kündigung weitere Abmahnungen auszusprechen.

Gerade diese Abmahnungen, die die Beklagte nach der Stellungnahme des Betriebsrats und nach der Anhörung des Klägers selbst für erforderlich hielt, gingen dem Kläger jedoch erst nach seinen nun zur Kündigungsbegründung herangezogenen weiteren Verstößen gegen die Anzeige- und Nachweispflicht zu. Ihre Warnfunktion konnten sie damit, selbst wenn man auch der vom Betriebsrat durchgeführten Anhörung des Klägers eine zu Gunsten des Arbeitgebers wirkende Warnfunktion zubilligen wollte, nicht entfalten.

II.

Hinsichtlich des zu Ziffer 2. gestellten Weiterbeschäftigungsantrags ist die Klage ebenfalls zulässig und begründet.

Angesichts der Tatsache, dass die Kündigung vom 29. März 2016 entsprechend den Ausführungen unter I. unwirksam ist, konnte der Kläger die Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens verlangen. Der entsprechende Anspruch folgt aus §§ 611, 613 BGB i.V.m. § 242 BGB und kann nach ständiger Rechtsprechung des BAG auch unmittelbar mit der Kündigungsschutzklage geltend gemacht werden (BAG v. 26.05.1977 – 2 AZR 632/76 – AP Nr. 5 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht; BAG v. 27.02.1985 – GS 1/84 – AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht).

Gründe, die gegen den Beschäftigungsanspruch sprechen könnten, wurden von der Beklagten im Laufe des Rechtsstreits nicht geltend gemacht.

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO, wobei der Beklagten angesichts ihres Unterliegens die Kosten in vollem Umfang aufzuerlegen waren.

IV.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 42 Abs. 2 GKG, 46 Abs. 2 ArbGG, 3 ZPO, wobei der Kündigungsschutzantrag mit drei Monatsbruttoverdiensten zu bewerten war und der Weiterbeschäftigungsantrag mit einem Monatsbruttoverdienst.

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