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Fristlose Kündigung wegen Drohung mit Krankschreibung

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: 5 Sa 319/20 – Urteil vom 04.05.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 14.10.2020 – 4 Ca 904/20 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung, die auf die Drohung mit einer Krankschreibung gestützt wird.

Die im November 1987 geborene Klägerin nahm am 01.06.2010 bei der Beklagten, die eine Bäckerei mit vier Filialen sowie einem Verkaufswagen betreibt und rund 40 Arbeitnehmer beschäftigt, eine Tätigkeit als Verkäuferin auf. Der Arbeitsvertrag vom 17./18.05.2020 sieht eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 36 Stunden bei einer 6-Tage-Woche vor. Die Beklagte hat sich im Arbeitsvertrag vorbehalten, die Klägerin im Bedarfsfall in anderen Abteilungen, ggf. auch an einem anderen Ort einzusetzen. Der Stundensatz betrug zuletzt € 9,31 brutto, was ein durchschnittliches Monatsbruttogehalt von € 1.300,- ergab.

Die Klägerin ist verheiratet und hat ein minderjähriges Kind, das im Sommer 2020 die Schulstartergruppe „E.“ der örtlichen DRK-Kindertagesstätte besuchte. Die Schulstartergruppe befindet sich in einer Außenstelle, die von 06:30 bis 17:00 Uhr geöffnet ist, während in dem etwa 1 km entfernten Haupthaus eine Betreuung bis 18:00 Uhr angeboten wird. Der Ehemann der Klägerin ist in einem Baubetrieb beschäftigt und arbeitet auf verschiedenen Baustellen.

Die Klägerin war zuletzt in der Filiale am Markt, in der sich ein Café befindet, eingesetzt. Dort kam es vermehrt zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitarbeiterinnen. Diese Spannungen waren Anfang Juni 2020 Gegenstand eines Gesprächs zwischen dem Geschäftsführer sowie der Filialbetreuerin, Frau K., und der Klägerin.

Die Filiale am Markt war im Juni 2020 montags bis freitags von morgens 05:30 Uhr bis abends 16:30 Uhr und samstags von 05:30 bis 12:30 Uhr geöffnet. Im Ferienmonat Juli 2020 verlängerte die Beklagte die abendliche Öffnungszeit montags bis freitags auf 17:30 Uhr.

Am 09.06.2020 bat die Klägerin per WhatsApp ihre Filialleiterin, Frau P., sie in der Woche ab 20.07. zur Frühschicht einzuteilen. Dieser Bitte kam die Filialleiterin jedoch nicht nach. Während der Dienstplan in den ersten beiden Juliwochen noch ein regelmäßiges Arbeitsende um 16:30 Uhr vorsah, sollte die Klägerin in der Woche vom 20. – 25.07.2020 von Montag bis Freitag jeweils bis 17:30 Uhr arbeiten. Als die Klägerin am 19.06.2020 den Dienstplan für Juli 2020 erhielt, sandte sie um 12:04 Uhr und 12:05 Uhr die folgenden WhatsApp-Nachrichten an ihre Filialleiterin:

„Die Woche vom 20 mach ich definitiv

keine spät dann bin ich krank

geschrieben“

„Ich habe dich um Frühschicht gebeten“

Um 12:20 Uhr telefonierte sie mit der Filialbetreuerin, um eine Änderung des Dienstplans zu erreichen. Als die Filialbetreuerin darauf nicht einging, kündigte die Klägerin eine Krankschreibung in der Woche vom 20. – 25.07.2020 an.

Fristlose Kündigung wegen Drohung mit Krankschreibung
(Symbolfoto: smy96/Shutterstock.com)

Der Geschäftsführer erfuhr von diesen Vorgängen am 22.06.2020. Die Klägerin ging zunächst ihrer Arbeit weiter nach. Am 29.06.2020 suchte sie einen Arzt auf, der ihr mit der Diagnose F 32.9 G (Depressive Episode, nicht näher bezeichnet) eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 29.06. – 04.07.2020 ausstellte. Diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung übergab die Klägerin dem Geschäftsführer noch am selben Tag gegen 8:30 Uhr zugleich mit ihrem Schreiben vom 22.06.2020, mit dem sie ihr Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.07.2020 kündigte. Etwa 3 Stunden später erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 29.06.2020, das der Klägerin am selben Tag zuging, die außerordentliche Kündigung unter Bezugnahme auf die angedrohte Krankschreibung. Hilfsweise bestätigte sie die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.07.2020 auf Grundlage der Eigenkündigung.

Am 01.08.2020 nahm die Klägerin bei einem ortsansässigen Discounter eine neue Beschäftigung als Verkäuferin auf.

Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die außerordentliche Kündigung unwirksam sei, da es kein Grund hierfür gebe. Die Klägerin habe sich schon seit längerer Zeit dem psychischen Belastungsdruck bei der Arbeit nicht mehr gewachsen gefühlt und sei aufgrund dessen bereits in ärztlicher Behandlung gewesen. Deswegen habe sie um eine Dienstplanänderung gebeten. Sie habe keine Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht, sondern sei tatsächlich arbeitsunfähig gewesen. Bei Übergabe der Kündigung habe sie dem Geschäftsführer nicht erklärt, sich bis zum Ende der Kündigungsfrist krankschreiben lassen zu wollen, sondern lediglich, dass sie am Freitag, 03.07.2020, nochmals zum Arzt müsse. Zudem fehle es an einer Abmahnung. Darüber hinaus sei die außerordentliche Kündigung angesichts der bereits feststehenden, zeitnahen Beendigung des Arbeitsverhältnisses unverhältnismäßig.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29.06.2020, zugestellt am 29.06.2020, nicht aufgelöst worden ist, sondern bis zum 31.07.2020 fortbesteht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, dass die außerordentliche Kündigung wirksam sei. Zwar habe es in der bisherigen Zusammenarbeit keine nachhaltigen Störungen gegeben. Aufgrund der versuchten Nötigung sei jedoch das Vertrauensverhältnis massiv beeinträchtigt, weshalb der Beklagten eine Beschäftigung bis zum Datum der Eigenkündigung nicht mehr zuzumuten sei. Das Verhalten der Klägerin sei schlichtweg inakzeptabel. Eine Abmahnung sei deshalb entbehrlich. Von einer psychischen Erkrankung der Klägerin habe die Beklagte keine Kenntnis gehabt. Die Klägerin habe zwar darum gebeten, in der Woche ab 20.07.2020 zur Frühschicht eingeteilt zu werden. Einen Grund für diesen Wunsch habe sie jedoch nicht angegeben. Eine Dienstplanänderung sei aus betrieblichen Gründen nicht infrage gekommen. Außerdem habe sich die Klägerin bei Übergabe der Eigenkündigung mit den Worten verabschiedet, sich bis zum Ende der Kündigungsfrist krankschreiben lassen zu wollen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung angeführt, dass eine Pflichtverletzung nicht erwiesen sei. Es sei nicht auszuschließen, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert sei, in der Spätschicht zu arbeiten. Ggf. hätte ihr ein leidensgerechter Arbeitsplatz angeboten werden müssen. Unabhängig davon überwiege aber das Interesse der Klägerin an einer Fortbeschäftigung bis zum 31.07.2020 das arbeitgeberseitige Interesse an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Angesichts der rund 10-jährigen, unbeanstandet verlaufenen Zusammenarbeit sei es der Beklagten zumutbar, die Klägerin noch einige wenige Wochen weiterzubeschäftigen, zumal sie auch nach dem Vorfall mit Kenntnis des Geschäftsführers unbeanstandet weitergearbeitet habe.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer frist- und formgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Die Klägerin habe ihre Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis schwerwiegend verletzt. Mit der WhatsApp vom 19.06.2020 habe sie zum Ausdruck gebracht, dass sie notfalls bereit sei, ihre Rechte aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz zu missbrauchen, um sich einen unberechtigten Vorteil zu verschaffen. Das Vertrauensverhältnis sei in seinem Kern verletzt, weshalb eine vorherige Abmahnung entbehrlich sei. Zwischen einer psychischen Erkrankung der Klägerin und dem Dienstplan gebe es überhaupt keinen Zusammenhang. Die Klägerin habe auch schon zuvor in unterschiedlichen Schichten gearbeitet. Es stelle sich die Frage, weshalb eine psychische Erkrankung gerade eine Tätigkeit in der Spätschicht ausschließen solle. Die Klägerin habe dies zu keiner Zeit gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Vielmehr habe sie die Spätschicht in dieser Juliwoche mit der Begründung abgelehnt, mehr Zeit mit ihrem Ehemann verbringen zu wollen, da er in dieser Woche Urlaub habe.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 14.10.2020 – 4 Ca 904/20 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts und nimmt ebenfalls Bezug auf ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie habe nicht wegen des Urlaubs ihres Ehemanns um Einteilung zur Frühschicht in der Woche ab 20.07. gebeten, sondern um ihr Kind rechtzeitig aus der Kita abholen zu können. Der Ehemann habe ausweislich der vorgelegten Urlaubskartei in dieser Woche überhaupt keinen Urlaub gehabt, sondern erst in der Zeit vom 27.07. – 08.08.2020 anlässlich der Einschulung des Kindes. Die Klägerin habe eine rechtzeitige Abholung ihres Kindes aus der Kita nicht sicherstellen können. Bemühungen um einen Schichttausch seien auch schon in der Vergangenheit erfolglos geblieben. Beispielsweise habe die Klägerin um einen freien Tag für eine Kindergeburtstagsfeier gebeten, was ihr ohne Begründung verwehrt worden sei. Im Übrigen sei schon im Juni 2020 abzusehen gewesen, dass die Klägerin für den Zeitraum ab 20.07.2020 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten werde, da der behandelnde Hausarzt ihr seit längerem aufgrund der psychischen Erkrankung eine Auszeit empfohlen habe. Letztlich habe sich die Beklagte gar nicht wegen der WhatsApp zur außerordentlichen Kündigung entschieden, sondern erst nachdem die Klägerin selbst gekündigt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zurecht stattgegeben.

Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 29.06.2020 ist unwirksam und hat deshalb das Arbeitsverhältnis nicht beendet.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG, Urteil vom 27. Juni 2019 – 2 AZR 50/19 – Rn. 12, juris = NZA 2019, 1345; BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15, juris = NZA 2019, 445; BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17 – Rn. 26, juris = NZA 2018, 845).

Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der – fiktiven – Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 28, juris = NZA 2019, 445). Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein „schonenderes“ Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 29, juris = NZA 2019, 445).

Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 30, juris = NZA 2019, 445).

Die Rechtmäßigkeit einer Kündigung ist anhand der zum Zeitpunkt des Zugangs gegebenen objektiven Verhältnisse zu beurteilen (BAG, Urteil vom 17. Februar 2016 – 2 AZR 613/14 – Rn. 26, juris = ZTR 2016, 418; BAG, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 2 AZR 644/13 – Rn. 21, juris = NJW 2015, 1403). Ausschlaggebend ist, wie sich die Situation in dem betroffenen Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt bei objektiver Betrachtung darstellt.

Versucht der Arbeitnehmer, einen ihm nicht zustehenden Vorteil durch eine unzulässige Drohung zu erreichen, so verletzt er bereits hierdurch seine arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB). Diese verbietet es, die andere Seite unzulässig unter Druck zu setzen (BAG, Urteil vom 12. März 2009 – 2 AZR 251/07 – Rn. 22, juris = NZA 2009, 779; BAG, Urteil vom 17. Juni 2003 – 2 AZR 123/02 – Rn. 16, juris = ZTR 2004, 161; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Juli 2020 – 8 Sa 430/19 – Rn. 111, juris = ArbRB 2021, 40; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10. Februar 2017 – 6 Sa 1758/16 – Rn. 37, juris = AE 2017, 125; LAG Hamm, Urteil vom 14. August 2015 – 10 Sa 156/15 – Rn. 35, juris = PflR 2015, 848).

Die Pflichtwidrigkeit der Ankündigung einer Krankschreibung bei objektiv nicht bestehender Erkrankung im Zeitpunkt der Ankündigung liegt in erster Linie darin, dass der Arbeitnehmer mit einer solchen Erklärung zum Ausdruck bringt, er sei notfalls bereit, seine Rechte aus dem Entgeltfortzahlungsrecht zu missbrauchen, um sich einen unberechtigten Vorteil zu verschaffen. Mit einem solchen Verhalten verletzt der Arbeitnehmer seine aus der Rücksichtnahmepflicht folgende Leistungstreuepflicht erheblich. Zugleich wird durch die Pflichtverletzung das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit und Loyalität des Arbeitnehmers in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, so dass in einer solchen Erklärung regelmäßig auch ohne vorausgehende Abmahnung ein die außerordentliche Kündigung an sich rechtfertigender verhaltensbedingter Grund zur Kündigung liegt. Da der wichtige Grund zur Kündigung in der ausdrücklich oder konkludent erklärten Bereitschaft des Arbeitnehmers zu sehen ist, sich die begehrte Freistellung notfalls durch eine in Wahrheit nicht vorliegende Arbeitsunfähigkeit zu verschaffen, kommt es nicht mehr darauf an, ob der Arbeitnehmer später (zufällig) tatsächlich erkrankt oder nicht (BAG, Urteil vom 12. März 2009 – 2 AZR 251/07 – Rn. 23, juris = NZA 2009, 779). Auch bei tatsächlich bestehender Erkrankung ist es dem Arbeitnehmer aufgrund des Rücksichtnahmegebots verwehrt, die Krankheit und ein sich daraus ergebendes Recht, der Arbeit fern zu bleiben, gegenüber dem Arbeitgeber als „Druckmittel“ einzusetzen, um den Arbeitgeber zu einem vom Arbeitnehmer gewünschten Verhalten zu veranlassen (BAG, Urteil vom 12. März 2009 – 2 AZR 251/07 – Rn. 24, juris = NZA 2009, 779).

Die Klägerin hat ihre arbeitsvertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme erheblich verletzt, indem sie mit einer Krankschreibung gedroht hat, falls es bei der Spätschicht in der Woche ab dem 20.07.2020 bleibt. Sie hat es nachdrücklich abgelehnt, in dieser Woche in der Spätschicht zu arbeiten („… definitiv keine spät …“), und angekündigt, dieses Ziel ggf. mithilfe der Möglichkeiten aus dem Entgeltfortzahlungsgesetz durchsetzen zu wollen. Damit hat sie die Beklagte in unzulässiger Weise unter Druck gesetzt und versucht, eine Änderung des Dienstplans zu erzwingen.

Der Arbeitgeber kann gemäß § 106 Satz 1 GewO Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Ob die Einteilung der Klägerin zur Spätschicht in der Woche ab 20.07.2020 unter Berücksichtigung der persönlichen Situation der Klägerin und derjenigen der anderen Mitarbeiterinnen sowie der betrieblichen Belange billigem Ermessen entsprach, kann dahinstehen. Ein Dienstende um 17:30 Uhr mit ggf. noch zu erledigenden Nacharbeiten gestattete es der Klägerin nicht, ihr Kind rechtzeitig in der Außenstelle der Kindertagesstätte abzuholen. Sie hätte die Abholung bzw. Betreuung ihres Kindes anderweitig sicherstellen müssen. Dass ihr dies unmöglich oder unzumutbar war, hat sie nicht geltend gemacht, wenn auch die Beweggründe der Klägerin verständlich erscheinen. Die Arbeit in einem Schichtsystem bringt jedoch regelmäßig für alle Arbeitnehmer Erschwernisse mit sich, die sich nicht immer zur Zufriedenheit aller ausräumen lassen.

Dennoch war es der Beklagten unter Abwägung der wechselseitigen Interessen zumutbar, das Arbeitsverhältnis noch rund einen Monat bis zum Datum der Eigenkündigung fortzusetzen. Das Interesse der Beklagten an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwog nicht das Interesse der Klägerin an einer Fortführung des Arbeitsverhältnisses bis zum Datum der Eigenkündigung.

Die Klägerin hat zwar eine schwerwiegende Pflichtverletzung begangen. Diese Pflichtverletzung stellt sich jedoch – zumindest auch – als Reaktion auf die Spannungen zwischen den Mitarbeiterinnen der Filiale am Markt dar. Diese Spannungen waren dem Geschäftsführer bekannt, ohne dass diese durch arbeitsrechtliche Maßnahmen, wie z. B. durch Umsetzung der Klägerin oder anderer Mitarbeiterinnen, beseitigt werden konnten. Aus dieser Situation heraus hatte die Klägerin sodann von sich aus die Konsequenz gezogen, ihr langjähriges Arbeitsverhältnis aufzugeben und den – auch gesundheitlich belastenden – Spannungen dadurch aus dem Weg zu gehen. Damit war der Konflikt gelöst bzw. eine Lösung in greifbarer Nähe, sodass eine Wiederholungsgefahr nicht mehr oder nur noch eingeschränkt bestand. Angesichts der in Kürze anstehenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses war mit einer erneuten gleichartigen Eskalation nicht mehr zu rechnen. Die Klägerin ist über annähernd 10 Jahre ihren arbeitsvertraglichen Pflichten ordnungsgemäß nachgekommen. Das Arbeitsverhältnis ist bisher ungestört verlaufen. Die WhatsApp mit der Androhung der Krankschreibung stellt sich als spontane und unüberlegte Reaktion dar, in der sich letztlich die schon länger schwelenden Spannungen entluden. Nachdem die Klägerin jedoch ihrerseits die Konsequenzen aus dem Konflikt in ihrem Team gezogen hatte, war eine nochmalige Überreaktion in derartiger Weise nicht mehr zu befürchten. Das gilt erst recht unter Berücksichtigung eines ggf. möglichen, jedenfalls arbeitsvertraglich zulässigen Einsatzes in einer anderen Filiale während der letzten 4 Wochen des Arbeitsverhältnisses.

Mit Störungen des Betriebsfriedens oder erheblichen Beeinträchtigungen der betrieblichen Abläufe, denen die Beklagte nur mit einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätte begegnen können, war in der verbleibenden Zeit des Arbeitsverhältnisses nicht zu rechnen. Eine Weiterbeschäftigung der Klägerin über den begrenzten Zeitraum von rund einem Monat ließ keine Nachteile oder Belastungen auf Seiten der Beklagten erwarten, die sie aus wirtschaftlichen Gründen oder zum Schutz ihrer Belegschaft nicht hinnehmen konnte. Angesichts des ohnehin zeitnah endenden Arbeitsverhältnisses konnte die Pflichtverletzung der Klägerin – selbst bei Bekanntwerden innerhalb des Betriebs – den Betriebsfrieden zum Zeitpunkt der außerordentlichen Kündigung nicht mehr nachhaltig stören und die Stellung der Betriebsleitung untergraben oder schwächen.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

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