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Fristlose Kündigung wegen körperlicher Gewalt

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 3 Sa 178/12 – Urteil vom 26.09.2012

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Neumünster vom 02.05.2012 – 3 Ca 1369 d/11 – teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 19.11.2011 nicht außerordentlich, vielmehr mit Ablauf des 31.01.2012 beendet worden ist.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 74 % und die Beklagte 26 %.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung mit dem Vorwurf, der Kläger habe eine Heimbewohnerin geohrfeigt, ferner über die Vergütung von Überstunden.

Der Kläger ist am ….1957 geboren und seit dem 01.01.2011 bei dem Beklagten als Heimleiter beschäftigt. Er erhielt 4.155,34 € brutto monatlich. Darin ist ausweislich des schriftlichen Arbeitsvertrages enthalten eine monatliche Pauschale für Nachtbereitschaftsdienste in Höhe von 110,00 €. Vereinbart ist laut Arbeitsvertrag eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden auf Basis einer 5-Tage-Woche. Mehrarbeit bis zu 10 Stunden monatlich sollten mit der Vergütung abgegolten sein. Die Kündigungsfrist beträgt laut Vertrag 6 Wochen zum Monatsende (Anlage K 1 – Bl. 5 bis 9 d. A.).

fristlose Kündigung wegen körperlicher Gewalt
Symbolfoto: Von Diego Cervo/Shutterstock.com

Auf das Arbeitsverhältnis ist das Kündigungsschutzgesetz nicht anwendbar. In der von dem Beklagten geführten Einrichtung werden insgesamt 7 Behinderte betreut, darunter die Bewohnerin W. T.. Sie lebt seit rund 15 Jahren in der Einrichtung des Beklagten und leidet an einer chronischen psychischen Erkrankung. In unregelmäßigen Zeitabständen erleidet sie eine Art „Anfall“. Insoweit gerät sie in Erregungszustände, die zur Folge haben, dass sie zu schreien beginnt und sich auf den Boden wirft. Es tritt aber keine Ohnmacht ein. In der Vergangenheit kam es bei der Regelung derartiger Vorfälle nie zu körperlichen Übergriffen.

Am Montag des 09.11.2011 kam es im Laufe des Vormittags zu einem Wutausbruch/Anfall dieser Heimbewohnerin. Der Kläger eilte herbei, redete auf sie ein und versuchte, sie zu beruhigen. Er gab ihr schließlich eine Ohrfeige – mit welcher Stärke ist streitig -, hob sie hoch und stellte sie vor den Spiegel. Welche Worte er dabei sagte, ist ebenfalls streitig. Eine äußere Verletzung trat nicht auf. Dem Kläger gelang es schließlich, die Betreute T. zu beruhigen. Nachmittags traf diese auf das Vorstandsmitglied Sch. und berichtete ihm von dem Vorfall. Sie gab u.a. an, der Kläger habe sie heftig geohrfeigt. Letzterer trat hinzu, schilderte den Vorfall aus seiner Sicht, wobei er hervorhob, dass er der Betreuten nur eine leichte Ohrfeige versetzt habe, um den Anfall zu stoppen. Der Sachverhalt blieb seitens des Vorstandsmitgliedes unkommentiert.

Am 11.11.2011 informierte der Kläger die Mutter der Betroffenen telefonisch über den Vorfall, der konkrete Inhalt des Telefonats ist streitig. Am 19.11.2011 erhielt der Kläger die Kündigung und erhob am 22.11.2011 Kündigungsschutzklage. Am 06.12.2011 übermittelte er der Mutter der Betroffenen ein vorformuliertes, seine Vorgehensweise respektierendes Schreiben (Bl. 35 d. A.) mit der Bitte um Unterschriftsleistung, was diese am 08.12.2011 (Bl. 36 d. A.) empört zurückwies.

Der Kläger hat stets die Ansicht vertreten, diese Ohrfeige sei nicht als Körperverletzung, vielmehr als „medizinische“ Hilfestellung einzuordnen, die er in der Situation als einzig möglichen Weg gesehen habe.

Der Kläger macht in diesem Verfahren auch Überstundenvergütung für 731,49 Stunden geltend. Er war nach Dienstplänen eingesetzt. Diese befinden sich in der Akte. Im Januar 2011 war das Heim in Bezug auf Betreuer unterbesetzt. Der Beklagte ist nach dem Heimaufsichtsgesetz verpflichtet, an 365 Tagen im Jahr jeweils 24 Stunden täglich die Betreuung der Heimbewohner zu gewährleisten. Ab 20.01.2011 war die Mitarbeiterin P., eine Erzieherin, dauerhaft arbeitsunfähig und schied zum 31.03.2011 aus. Die Stelle wurde nicht wiederbesetzt. Der Beklagte beschäftigte neben dem Kläger, wenn überhaupt, nur noch eine weitere Betreuungsfachkraft im Sinne des Gesetzes mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 32 Stunden pro Woche. Daneben kommen zwei angelernte Betreuungskräfte und eine Bürokraft im Homeoffice zum Einsatz.

In Folge des ersatzlosen Ausscheidens der Erzieherin P. musste unter anderem der Kläger erhöhten Arbeitseinsatz erbringen. Er wurde auch ausweislich der Dienstpläne sich ständig steigernd, zuletzt nahezu täglich für Nachtbereitschaftsdienste eingeplant, in denen er sich in der Dienstwohnung aufhalten konnte, aber abrufbereit sein musste. Als Anerkennung für die erhöhte Arbeitsleistung anlässlich des Ausscheidens der Mitarbeiterin P. erhielt u. a. der Kläger im November 2011 eine Einmalzahlung in Höhe von 400,00 € brutto. Ausgehend von seinen Anwesenheitszeiten errechnet der Kläger unter Zugrundelegung der Dienstpläne einen Anspruch auf Vergütung von noch 731,49 Überstunden. Auch die Nachtbereitschaftsdienstzeiten bezieht er als volle Überstunden ein. Er errechnet auf Basis eines Stundensatzes von 14,91 € brutto noch eine geschuldete Überstundenvergütung in Höhe von 10.906,52 € brutto.

Das Arbeitsgericht hat die gegen die Kündigung gerichtete Klage und das Zahlungsbegehren in vollem Umfang abgewiesen. Das ist im Wesentlichen mit der Begründung geschehen, auch eine leichte Ohrfeige stelle eine Körperverletzung dar. Die Betreute sei nicht ohnmächtig gewesen, so dass dem Gericht das Handeln des Klägers nicht nachvollziehbar sei. Auch habe der Kläger sich nicht an die Mutter der Betreuten wenden dürfen, so dass die fristlose Kündigung gerechtfertigt sei. Einen Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung habe der Kläger nicht substantiiert dargelegt.

Gegen dieses dem Kläger am 23.05.2012 zugestellte Urteil hat er am 29.05.2012 Berufung eingelegt, die am 18.07.2012 begründet wurde. Er ergänzt und vertieft im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen. In Bezug auf die Kündigung trägt er vor, er habe die Betreute nur leicht geohrfeigt, um sie aus dem Anfall zurückzuholen. Er habe für sich keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Sein Handeln sei situationsgerecht gewesen, da Frau T. bei dem Anfall geistig weggetreten sei und auf keinerlei Ansprache mehr reagiert habe. Er selbst sei, da er eine Ohnmacht befürchtet habe, ganz aufgeregt gewesen und habe sich dann entschieden, ihr eine leichte Ohrfeige zu geben, um sie zurückzuholen. Unter Umständen habe er die Situation auch falsch eingeschätzt. Er habe sich jedenfalls nicht anders zu helfen gewusst. Er habe die Betreute T. sodann vor den Spiegel gestellt, sinngemäß mit den Worten „schau dich an“. Diese Vorgehensweise sei keine Maßregelung gewesen, sondern in der Psychiatrie üblich. Der Beklagte schulde ihm auch noch nach Abzug der gesetzlichen Pausenzeiten und der pauschal abgegoltenen 10 Überstunden monatlich die Vergütung für 731,49 Überstunden. Er habe beispielsweise während der Nachtbereitschaft administrative Arbeiten ausgeführt, z. B. Dienstpläne erstellt oder Verhandlungen mit Vertragspartnern vorbereitet. Diese Aufgaben hätten in der regulären Arbeitszeit nicht erledigt werden können.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des am 02.05.2012 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Neumünster, 3 Ca 1369 d/11,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung vom 19.11.2011, dem Kläger am 19.11.2012 zugegangen, nicht beendet worden ist, sondern fortbesteht,

2. Die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 10.906,52 € brutto nebst Zinsen von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht für zutreffend. Die Ohrfeige sei auch nicht ansatzweise gerechtfertigt gewesen. Das Vorbringen des Klägers sei eine reine Schutzbehauptung. Der Kläger habe der Betreuten T. grundlos eine heftige Ohrfeige versetzt und sie darüberhinaus noch mit den Worten „magst du das Mädchen leiden“ maßregelnd vor den Spiegel gestellt. Das habe die Betreute T. der als Zeugin benannten Mitarbeiterin F. kurz nach dem Vorfall berichtet. Erhärtend sei die Briefkorrespondenz des Klägers mit der Mutter der Betreuten zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sei dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar gewesen. Der Beklagte bestreitet ferner die Überstunden dem Grunde und der Höhe nach. Sie seien nicht hinreichend dargelegt und auch nicht angeordnet worden. Nachtbereitschaft sei nicht mit Arbeitszeit gleichzusetzen. Die Bereitschaftsdienste seien auch mit der vertraglichen Nachtbereitschaftspauschale von 110,00 € abgegolten. Nach den ausgewerteten Einsatzprotokollen sei der Kläger in diesen Nachtbereitschaftsdiensten auch tatsächlich nicht zum Arbeitseinsatz herbeigerufen worden. Das Vorbringen zu weiteren Arbeitsleistungen, die der Kläger während der Nachtbereitschaft erbracht haben wolle, werde bestritten und sei unsubstantiiert.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der Berufungsbegründungsfrist auch begründet worden.

Die Berufung ist jedoch nur teilweise begründet. Die Kündigung des Beklagten vom 19.11.2011 hat das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht außerordentlich fristlos, vielmehr lediglich fristgemäß mit Ablauf des 31.01.2012 beendet. Überstundenvergütung schuldet der Beklagte nicht, da der Kläger das Bestehen eines solchen Anspruches nach wie vor nicht hinreichend substantiiert dargelegt hat.

A.

Die außerordentliche Kündigung ist unwirksam. Es fehlt an einem wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB.

I.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Das Gesetz kennt folglich keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, das heißt typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – zitiert nach Juris Rz 16 mit einer Vielzahl von Nachweisen).

Dem Sinn und Zweck des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses entspricht es, dass auch bei einem abstrakt durchaus erheblichen Verhalten doch noch in jedem konkreten Einzelfall eine Abwägung aller für und gegen die Lösung des Arbeitsverhältnisses sprechenden Gründe erfolgt (BAG vom 23.01.1963 – 2 AZR 278/62 = AP Nr. 8 zu § 124 a GewO). Bei der Prüfung des wichtigen Grundes kommt es nicht darauf an, wie ein bestimmtes Verhalten strafrechtlich zu würdigen ist, sondern darauf, ob der Gesamtsachverhalt die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht (BAG vom 27.01.1977 – 2 ABR 77/96 = AP Nr. 7 zu § 103 BetrVG 1972; BAG AP Nr. 13 zu § 626 BGB). Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung darf regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein. Die Kündigung dient der Vermeidung des Risikos weiterer Vertragsverletzungen (BAG vom 23.06.2009 – 2 AZR 103/08 – zitiert nach Juris). Das ist unter dem Gesichtspunkt der negativen Zukunftsprognose zu betrachten. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes trägt der Arbeitgeber.

Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung und Einzelfallprüfung sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören u.a. das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung von Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie ggf. die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes. Ferner können das Bestehen einer Wiederholungsgefahr, das Maß der dem Arbeitgeber entstandenen Schädigung und auch die Frage in Betracht kommen, ob dem Verhalten des Arbeitnehmers eine besondere Verwerflichkeit innewohnt (BAG vom 27.04.2006 – 2 AZR 415/05 – zitiert nach Juris, Rz 19 mwN). Eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann auch eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens ausreichen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken (BAG vom 10.06.2010 – 2 AZR 551/09 – zitiert nach Juris Rz 35 ff).

II.

Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 19.11.2011 unwirksam. Die gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe rechtfertigen eine fristlose Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht. Unter Berücksichtigung der konkreten Einzelfallsituation ist dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Auslaufen der Kündigungsfrist zumutbar. Das Arbeitsgericht hat die Einzelfallsituation und die dem Beklagten als Arbeitgeber obliegende Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes nicht hinreichend berücksichtigt.

1. Der Kläger hat das Recht der Betreuten T. auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Dass er sie geohrfeigt hat, ist unstreitig. Ob es sich insoweit um eine strafrechtlich relevante Körperverletzung handelt, ist arbeitsrechtlich unbeachtlich.

Wendet ein Heimleiter körperliche Gewalt gegenüber einer pflegebedürftigen Heimbewohnerin an, ist eine solche Vorgehensweise „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung abzugeben.

2. Streitig sind allerdings zwischen den Parteien der Zweck der Ohrfeige und deren Heftigkeit. Das gilt es im Rahmen der Einzelfallprüfung zu würdigen. Diese Fakten lassen sich nicht abschließend aufklären. Ausschließlich die Betroffene dieser Ohrfeige, die Betreute T. hat diesen Vorgang unmittelbar erlebt. Ausweislich des zur Akte gereichten ärztlichen Attestes ist sie aber aufgrund der chronisch, psychischen Erkrankung nicht in der Lage, eine Befragung ohne evtl. Nachteile für ihre Gesundheit zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund hat der Klägervertreter in der Berufungsverhandlung auf einer Vernehmung derselben nicht beharrt.

Die vom Beklagten benannte Zeugin F. ist lediglich eine Zeugin vom Hörensagen. Ihr hat die Betroffene kurz nach Ende des Anfalls nur von der Ohrfeige berichtet. Frau F. war beim eigentlichen Vorfall nicht anwesend.

3. Der Beklagte wirft dem Kläger zudem vor, er habe die Betroffene mit maßregelnden Worten zudem vor den Spiegel gestellt. Dadurch potenziere sich der Unrechtsgehalt der aus seiner Sicht nicht gerechtfertigten Ohrfeige. Auch wenn die Kammer zu Gunsten des Beklagten das bestrittene Vorbringen unterstellt, der Kläger habe die Betroffene mit den Worten „magst du dieses Mädchen leiden“ vor den Spiegel gestellt, ist dieser Sachverhalt kein Kündigungsgrund, der an sich eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt. Ob der Tonfall des Klägers maßregelnd war, ist streitig und nicht nachweisbar. Unstreitig sind in der Einrichtung des Beklagten, wie allgemein in der Psychiatrie üblich, Ganzkörperspiegel aufgestellt, damit die psychisch erkrankten Betreuten mit sich selbst konfrontiert werden können. Die Konfrontation mit dem Spiegelbild ist mithin im weitesten Sinne eine „medizinische Maßnahme“. Sollte der Kläger diese mit der von ihm benutzten Wortwahl und dem von ihm benutzten Tonfall etwas überzogen eingeleitet haben, rechtfertigt ein solches Vorgehen keine außerordentliche Kündigung, allenfalls eine Abmahnung verbunden mit dem Erfordernis einer Supervision/Qualifikation. Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Rahmen einer Gesamtschau beider Vorwürfe.

4. Die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles keine angemessene Reaktion auf die Vertragsstörung, die durch die unstreitige Ohrfeige und etwaige Äußerungen des Klägers im Zusammenhang mit dem Spiegel eingetreten ist. Ein verständiger, auch die Interessen des Arbeitnehmers angemessen würdigender Arbeitgeber hätte aufgrund der Gesamtumstände des vorliegenden Falles eine fristgemäße Beendigung des Arbeitsverhältnisses als angemessen und ausreichend angesehen.

a) Der Kläger hat die Betroffene T. nicht geschlagen, um sie einzuschüchtern, zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen oder anlasslos zu maßregeln. Er hat vorgebracht, er habe die Ohrfeige quasi „als medizinische Maßnahme“ eingesetzt, um die Betroffene aus ihrem Wutanfall herauszuholen. Die Kammer verkennt nicht, dass derartige Vorgehensweisen – wenn sie denn überhaupt gerechtfertigt sein könnten – eher bei Ohnmacht angewendet werden, die Betroffene aber unstreitig nicht ohnmächtig war. Gleichwohl ist das konkrete Handeln des Klägers nicht einer Züchtigung gleichzustellen. Die Existenz des Anfalls der Betroffenen kann bei der Bewertung des Handelns des Klägers nicht ausgeblendet werden. Der Kläger wollte nach seinem Vorbringen die Betroffene nicht schlagen, sie nicht maßregeln, ihr nicht schaden. Er wollte ihr vielmehr „helfen“. Das ist sein „Rechtfertigungsgrund“. Der Beklagte hat vorgetragen, die Ohrfeige sei grundlos erfolgt. Er ist aber insoweit darlegungs- und beweisbelastet. Die unstreitige Existenz des Anfalls spricht gegen sein Vorbringen. Jedenfalls ist der Beklagte nicht in der Lage, Anlasslosigkeit, Schädigungsabsicht und Grundlosigkeit der Vorgehensweise des Klägers substantiiert darzulegen und zu beweisen. Hierfür stehen ihm keine Zeugen zur Verfügung.

b) Zwar erscheint auch der Kammer die Erteilung der Ohrfeige durch den Kläger als unprofessionell. Diese Vorgehensweise bei einem Anfall ist keine geeignete, geschulte Maßnahme, um einen Anfall zu beenden. Der Kläger hätte abwarten, ausharren oder andere Maßnahmen ergreifen müssen, um sein Ziel zu erreichen. Er hätte die Betroffene ggf. erschrecken, u. U. anbrüllen können, um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit möglichst zu wahren. Er ist Heimleiter in einer Einrichtung, in der psychisch kranke Menschen leben. Er verfügt über eine langjährige Berufserfahrung und eine entsprechende Ausbildung. Der Anfall der Betroffenen war kein Einzelfall. Derartige Erregungszustände traten unstreitig bei ihr vier bis fünfmal pro Jahr auf. Der Kläger hatte derartige Anfälle auch bereits vorher erlebt. Diese Anfälle fanden bei der Betroffenen in der Vergangenheit immer ohne eine derartige Ohrfeige ein Ende. Der Kläger hätte das wissen und auch während der konkreten Situation aktuell erkennen müssen.

c) Der Kläger hat jedoch vorgetragen, dass er die Betroffene nicht zur Ruhe bringen konnte und sich nicht anders zu helfen wusste. Der Kläger hat noch in der Berufungsverhandlung betont, dass er bei der Betroffenen vorher noch nie einen derart heftigen Anfall erlebt hat. Er hat vorgetragen, dass er selbst ganz aufgeregt wurde und bei ihr eine Ohnmacht befürchtete. Der Kläger hat das Geschehen ggf. falsch gewichtet. Das hat er selbst im Nachhinein eingeräumt. Die aktuelle Stresssituation, der Schreianfall und ein etwaiger dadurch für den Kläger ausgelöster Handlungsdruck können aber nach der Überzeugung der Kammer nicht unberücksichtigt bleiben. Dabei geht es nicht darum, die Ohrfeige zu entschuldigen. Vielmehr geht es darum, der Einzelfallsituation Rechnung zu tragen.

d) Die Heftigkeit der Ohrfeige steht zudem weder fest noch ist sie aufklärbar. Der Beklagte hat vorgebracht, die Betroffene T. habe von einer heftigen Ohrfeige berichtet. Auch soll sie der Kläger mit Worten gemaßregelt haben. Ob diese Schilderung objektiv ist, erscheint fraglich. Nicht ausgeblendet werden kann insoweit, dass sich die Betroffene unstreitig vor dem Gespräch mit der Zeugin F. in einem hochgradigen körperlichen Erregungszustand befand, nämlich den die Ohrfeige auslösenden Schreianfall hatte. Die Betroffene kann in Folge der Erregung die Vorgehensweise des Klägers im Nachhinein heftiger empfunden haben, als sie tatsächlich war.

e) Die Kammer verkennt nicht, dass die Außenwirkung der Vorgehensweise des Klägers für den Beklagten als Betreuungseinrichtung negativ ist. Ihr kann man jedoch durch entsprechende detaillierte Sachverhaltsdarstellung entgegenwirken und insoweit Schadensbegrenzung betreiben.

f) Entgegen der Ansicht des Beklagten und auch des Arbeitsgerichts kann jedoch das Schreiben des Klägers vom 06.12.2011 an die Mutter der Betreuten keine Berücksichtigung bei der Bewertung der Wirksamkeit der Kündigung finden. Maßgeblich für die Überprüfung der Wirksamkeit einer Kündigung ist der Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung. Die Kündigung datiert vom 19.11.2011. Zu diesem Zeitpunkt lag das Schreiben des Klägers an die Mutter der Betreuten noch nicht vor. Es hat mithin den Kündigungsentschluss des Beklagten nicht beeinflusst.

g) Zu berücksichtigen ist weiter, dass eine Kündigung keine Sanktion einer Vertragsverletzung sein darf, vielmehr der Vermeidung des Risikos weiterer Vertragsverletzungen dient. Angesichts dessen und der Tatsachen, der Kläger aber nicht blind geohrfeigt hat, vielmehr dachte, hierfür einen Rechtfertigungsgrund zu haben; die darlegungs- und beweisbelastete Beklagte nicht besondere Heftigkeit oder anderweitige Unkontrolliertheit nachweisen kann; die Vorgehensweise des Klägers im Zusammenhang mit dem Spiegel psychotherapeutisch nicht abwegig ist und auch die nachweisbare Wortwahl das Übermaßverbot nicht überschreitet, ist die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 19.11.2010 unverhältnismäßig und daher unwirksam.

5. Entgegen der Ansicht des Klägers hält die Kammer jedoch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten eine Abmahnung als milderes Mittel nicht für ausreichend, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken. Der Beklagte betreut in seiner Einrichtung nur sieben behinderte Menschen. Damit ist es nicht vermeidbar, dass der Kläger auch die Betroffene betreut. Der Umgang mit der Betroffenen ist nicht auf andere Kollegen delegierbar. Der Kläger verfügt auch noch nicht über eine lange Betriebszugehörigkeit. Er war noch nicht einmal ein Jahr lang für den Beklagten tätig. Er hätte das Mittel der Ohrfeige „an sich“ nicht in Erwägung ziehen dürfen. Er ist Heimleiter, vertritt die Einrichtung des Beklagten damit auch mit einer entsprechenden Außenwirkung.

B.

Die vom Beklagten am 19.11.2011 hilfsweise fristgemäß ausgesprochene Kündigung hat das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Ablauf des 31.01.2011 beendet. Der Beklagte führt einen Kleinbetrieb im Sinne des § 23 KSchG. Das Kündigungsschutzgesetz ist deshalb nicht anwendbar. Ausreichend ist daher ein irgendwie einleuchtender Grund für die Rechtfertigung einer fristgemäßen Kündigung. Ein solcher steht dem Beklagten angesichts des Vorfalls vom 09.11.2011 zweifelsfrei zur Seite.

C.

Der Beklagte schuldet dem Kläger keine Vergütung von Überstunden. Der Kläger hat das Bestehen eines Anspruchs auf Arbeitsvergütung für 731,49 Überstunden auch unter Berücksichtigung seines neuen zweitinstanzlichen Vortrags nicht hinreichend dargelegt.

I.

Verlangt ein Arbeitnehmer Arbeitsvergütung für Überstunden, hat er darzulegen und – im Bestreitensfall – zu beweisen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden zeitlichen Umfang verrichtet hat. Dabei genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast, indem er vorträgt, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereit gehalten hat. Auf diesen Vortrag muss der Arbeitgeber im Rahmen einer gestuften Darlegungslast substantiiert erwidern und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat. Insoweit bedarf es jedoch stets der Berücksichtigung der im jeweiligen Streitfall zu verrichtenden Tätigkeit und der konkreten betrieblichen Abläufe. Für die Darlegung und den Beweis der Leistung von Überstunden gelten die Grundsätze wie für die Behauptung des Arbeitnehmers, die geschuldete Normal-arbeit verrichtet zu haben. Ausgehend von den Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts in Verbindung mit § 614 BGB gilt im Arbeitsverhältnis der Grundsatz „ohne Arbeit kein Lohn“. Verlangt der Arbeitnehmer gemäß § 611 BGB Arbeitsvergütung für Arbeitsleistungen, hat er deshalb darzulegen ggf. zu beweisen, dass er Arbeit verrichtet hat (BAG vom 16.05.2012 – 5 AZR 347/11 – zitiert nach Juris, Rz 26 f mwN).

II.

In Anwendung dieser rechtlichen Voraussetzungen hat der Kläger sein Begehren auf Arbeitsvergütung für Überstunden nicht substantiiert dargelegt.

a) Er hat zwar in zweiter Instanz sein Vorbringen konkretisiert, indem er nicht nur pauschal auf die zur Akte gereichen Dienstpläne verwiesen, sondern dieses schriftsätzlich ausgewertet hat. Der Kläger hat jedoch fälschlicherweise Anwesenheitszeiten und Bereitschaftsdienstzeiten mit vergütungspflichtiger Arbeitszeit gleichgesetzt. Das ist fehlerhaft, denn ohne geschuldete Arbeit besteht auch kein Vergütungsanspruch.

b) Die vom Kläger dargelegten – der Höhe nach bestrittenen – 731,49 nicht vergüteten Anwesenheitsstunden sind schwerpunktmäßig auf dienstplanmäßig zugewiesene Nachtbereitschaft zurückzuführen. Geleisteter Bereitschaftsdienst ist jedoch keine volle Arbeitsleistung, sondern eine Aufenthaltsbeschränkung, die mit der Verpflichtung verbunden ist, bei Bedarf unverzüglich tätig zu werden (BAG vom 28.01.2004 – 5 AZR 503/02 – zitiert nach Juris Rz 59 mwN). Dieser qualitative Unterschied rechtfertigt es, für Bereitschaftsdienst eine andere Vergütung vorzusehen als für Vollarbeit. Eine solche Vergütung bedarf jedoch der Vereinbarung. Auch die unter Umständen rechtswidrige und gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßende Anordnung von Bereitschaftsdienst hat nicht zur Folge, dass die Zeit des Bereitschaftsdienstes vergütungsrechtlich wie reguläre Arbeit zu behandeln ist. Bereitschaftsdienst, den der Arbeitgeber nicht hätte anordnen dürfen und den der Arbeitnehmer dennoch geleistet hat, bleibt Bereitschaftsdienst und wird nicht etwa von selbst zu voller Arbeitsleistung mit einem entsprechenden Vergütungsanspruch (BAG vom 28.01.2004 – 5 AZR 503/02 – zitiert nach Juris Rz 62 mwN).

c) Angesichts dessen ist das Vorbringen des Klägers in Bezug auf die verlangte Arbeitsvergütung für Überstunden nicht hinreichend substantiiert. Der Beklagte hat sich detailliert mit den vom Kläger in der Berufungsbegründung dargelegten Anwesenheitszeiten und einer etwaigen Arbeitsleistung auseinandergesetzt. Er hat auf die arbeitsvertraglich vereinbarte Pauschalvergütung von Nachtbereitschaftsdiensten mit 110,00 € brutto monatlich verwiesen und zudem die konkreten Einsatzzeiten des Klägers während der Nachtbereitschaftsdienste überprüft. Seinem Vorbringen, dass der Kläger nicht während der Nachtbereitschaftsdienste zur Arbeitsleistung herbeigerufen wurde, ist der Kläger nicht entgegengetreten. Der Kläger hat vielmehr lediglich dahingehend erwidert, er habe während der Nachtbereitschaft administrative Arbeiten ausgeführt. Dieses Vorbringen ist pauschal und nicht einlassungsfähig. Der Kläger ist daher hinsichtlich der begehrten Arbeitsvergütung für 731,49 Überstunden darlegungs- und beweisfällig geblieben.

D. Aus den genannten Gründen war die Berufung des Klägers nur teilweise begründet. Das angefochtene erstinstanzliche Urteil war teilweise abzuändern, soweit es die fristlose außerordentliche Kündigung für wirksam erachtet hat. Insoweit war der Berufung stattzugeben. Die Kündigung des Beklagten vom 19.11.2011 hat das Arbeitsverhältnis nur fristgemäß zum 31.01.2012 beendet. Die weitergehende Berufung des Klägers war unbegründet. Insoweit ist die Klage zu Recht abgewiesen worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO und entspricht dem Verhältnis von obsiegen und unterliegen.

Die Revision war nicht zuzulassen. Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor. Vorliegend handelt es sich ausschließlich um eine Einzelfallentscheidung.

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