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Fristlose Kündigung wegen Mitnahme von Arbeitgebereigentum

LAG Berlin-Brandenburg, Az.: 5 Sa 190/15, Urteil vom 04.06.2015

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 9. Dezember 2014 – 5 Ca 1355/14 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung und die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers für die Dauer des vorliegenden Rechtsstreits.

Der am ……1954 geborene und verheiratete Kläger ist bei der Beklagten, die ein Unternehmen mit ca. 650 Arbeitnehmern betreibt, seit dem 05.02.1997 als Arbeitsvorbereiter Repair bei einer Bruttomonatsvergütung inklusive Sonderzahlungen in Höhe von zuletzt 5.458,00 € beschäftigt. Die Beklagte ist Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie, der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft IG-Metall. Die Parteien haben die Arbeitsverträge vom 19./20.12.1996 (Bl. 10 ff. d. A.) und vom 08.12.2000 (Bl. 13 ff. d. A.) vereinbart.

Fristlose Kündigung wegen Mitnahme von Arbeitgebereigentum
Symbolfoto: Von Elnur /Shutterstock.com

Bei der Beklagten besteht eine Arbeitsanweisung bezüglich der Abgabe von nicht mehr verwendungsfähigem Material an Mitarbeiter (im Folgenden: Arbeitsanweisung), wegen deren Einzelheiten auf Bl. 52 – 55 d. A. verwiesen wird. Entsprechend den Vorschriften dieser Arbeitsanweisung erwarb der Kläger mit einem Materialpassierschein Eigentum der Beklagten, zuletzt im März 2014.

Am 24.07.2014 gegen 19.00 Uhr trug der Kläger ein längliches Teil, bei welchem es sich um eine Schaumstoffmatte handelte, die im Eigentum der Beklagten stand, durch das von ihm auch sonst als Eingang zum Betriebsgelände der Beklagten genutzte Westtor zu seinem auf einem dahinter befindlichen Parkplatz abgestellten Pkw. Dabei wurde er durch eine am Westtor befindliche Videokamera aufgezeichnet. Der Kläger verbrachte die Schaumstoffmatte sodann in seinen Pkw.

Am 28.07.2014 wurde der Kläger vom Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrates, den Zeugen W. und J., über die Kameraaufnahme und darüber unterrichtet, dass die Personalleitung diesen Vorfall mit ihm klären wolle. Alle drei begaben sich daraufhin gegen 15.30 Uhr das Büro des Personalleiters der Beklagten. In dem sodann in Anwesenheit der Zeugen stattfindenden Gespräch mit dem Personalleiter räumte der Kläger ein, dass er eine Schaumstoffmatte aus einem Container der Beklagten in sein Auto gebracht hatte. Der weitere Hergang des Gesprächs ist zwischen den Parteien streitig.

Mit Schreiben vom 29.07.2014 (Bl. 97 f. d. A.) teilte die Beklagte dem Betriebsrat mit, sie beabsichtige, das Arbeitsverhältnis des Klägers mit einer Tat- und Verdachtskündigung außerordentlich fristlos und hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 28.02.2015 zu kündigen. Hierzu nahm der Betriebsrat mit Schreiben vom 31.07.2014 (Bl. 24 d. A.) Stellung. Nach Erhalt dieser Stellungnahme übergab ein Personalreferent der Beklagten dem Kläger am 31.07.2014 ein Schreiben der Beklagten vom gleichen Tage, mit dem diese das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 28.02.2015 kündigte (Bl. 9 d. A.).

Gegen diese Kündigung richtet sich die am 05.08.2014 beim Arbeitsgericht eingegangene und der Beklagten am 07.08.2015 zugestellte Klage. Der Kläger hat vorgetragen, er habe die Schaumstoffmatte am 24.07.2014 auf seinem Arbeitsweg aus einer am zentralen Abfallplatz aufgestellten Abfalltonne entnommen, die zur Entsorgung durch eine Fremdfirma bereitgestellt gewesen sei. Es habe sich um eine zur Vernichtung vorgesehene Dämmstoffmatte ohne messbaren wirtschaftlichen Wert gehandelt. Der Kläger hat zur Veranschaulichung Lichtbilder einer Schaumstoffmatte zu den Gerichtsakten gereicht (Bl. 73 – 75 d. A.). Der Kläger hat weiter vorgetragen, dass er in dem Gespräch mit dem Personalleiter am 28.07.2014 auf die Frage, warum er den erforderlichen Materialpassierschein nicht dabei gehabt habe, geantwortet habe, dass er spontan und unüberlegt gehandelt habe und sein Verhalten bedauere. Er habe versichert, dass er die Verhaltensregeln jederzeit einhalten werde.

Der Kläger hat beantragt,

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch das Kündigungsschreiben vom 31.07.2014 weder außerordentlich fristlos noch hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 28.02.2015 aufgelöst werden wird.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Arbeitsvorbereiter Repair über den 31.07.2014 hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe in dem Gespräch vom 28.07.2014 auf die Frage des Personalleiters, warum er keinen Materialpassierschein gehabt habe, geantwortet: „Hierzu war ich zu faul“.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugen W. und J.. Wegen des Beweisthemas und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 09.12.2014, Bl. 129 – 133 d. A. verwiesen.

Mit Urteil vom 09.12.2014 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass an sich ein wichtiger Grund zur Kündigung vorliege und auch die Betriebsratsanhörung ordnungsgemäß durchgeführt worden sei, jedoch in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Abmahnung nicht entbehrlich gewesen sei. Dem Kläger sei zwar bewusst gewesen, dass die Beklagte mit der Mitnahme der Schaumstoffmatte ohne Einhaltung der Arbeitsanweisung nicht einverstanden sei, ferner habe die Beweisaufnahme ergeben, dass der Kläger dem Personalleiter erklärt habe, dass er zu faul gewesen sei, die betrieblichen Abläufe einzuhalten. Der Kläger habe aber 17 Jahre beanstandungsfrei für die Beklagte gearbeitet und bis zu dem Vorfall durch die Einhaltung der betrieblichen Abläufe nach der Arbeitsanweisung Loyalität zur Beklagten gezeigt. Angesichts dieses Umstandes und des Lebensalters des Klägers habe dieser sich ein Maß an Vertrauen erworben, so dass es der Beklagten zumutbar sei, den Kläger trotz seines Pflichtverstoßes weiter zu beschäftigen. Das Verhalten des Klägers im Prozess stehe dem nicht entgegen.

Wegen der weiteren Begründung des Arbeitsgerichts und des Parteivortrages erster Instanz wird auf das erstinstanzliche Urteil (Bl. 141 – 161 d. A.) verwiesen.

Gegen dieses der Beklagten am 27.01.2015 zugestellte Urteil richtet sich die am 02.02.2015 beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingegangene und mit am 27.03.2015 beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingegangenem Schriftsatz begründete Berufung. Die Beklagte trägt vor, das Arbeitsgericht sei von einem vorsätzlichen Verstoß gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers und die Arbeitsanweisung überzeugt gewesen. Dass es die Kündigung aufgrund der Betriebszugehörigkeit von 17 Jahren und des beanstandungsfreien Verlaufs des Arbeitsverhältnisses gleichwohl für unwirksam gehalten habe führe im Ergebnis dazu, dass jeder langjährig beanstandungsfreie tätige Arbeitnehmer trotz besseren Wissens vorsätzlich eine zur Kündigung geeignete Vertragsverletzung begehen könne, ohne über eine Abmahnung hinausgehende Konsequenzen fürchten zu müssen. Ein solches Signal an die Belegschaft sei für die Beklagte nicht hinnehmbar. Ferner habe das Arbeitsgericht festgestellt, dass der Kläger gesagt habe, er sei zu faul für die Ausfüllung der erforderlichen Papiere gewesen und habe sein Fehlverhalten nicht unbedingt eingesehen. Das zeige, dass er sich nicht an die betrieblichen Spielregeln halten wolle und sich auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht vertragstreu verhalten werde. Zumindest hätte aber das Arbeitsgericht festzustellen gehabt, dass es der Beklagten allenfalls zumutbar gewesen sei, bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist am Arbeitsverhältnis festzuhalten.

Die Beklagte beantragt, unter Abänderung des Urteils der I. Instanz die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor, es sei im Rahmen des Verfahrens unstreitig, dass sich die Schaumstoffmatte in einem Abfallcontainer befunden habe und zur Vernichtung freigegeben worden sei. Es handele sich zwar auch insoweit um eine vorsätzlich vertragswidrige Handlung, die entsprechend zu sanktionieren sei. Im Rahmen der am Einzelfall vorzunehmenden Interessenabwägung ergebe sich aber die Unwirksamkeit der Kündigung.

Wegen des weiteren Parteivorbringens zweiter Instanz wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 27.03.2015 (Bl. 185 – 188 d. A.), dem Schriftsatz des Klägers vom 08.05.2015 (Bl. 200 – 204 d. A.) und das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 04.06.2015 (Bl. 205, 206 d. A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung ist gemäß den §§ 8Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. c und Abs. 6,66 Abs. 1 ArbGG, § 519 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 520 Abs. 3 ZPO ausreichend begründet worden. Sie ist jedoch unbegründet und daher zurückzuweisen. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die zulässige Klage für begründet gehalten. Die angegriffene außerordentliche Kündigung vom 31.07.2014 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien weder mit sofortiger Wirkung noch mit Ablauf der Auslauffrist zum 28.02.2015 aufgelöst. Der Kläger kann auch verlangen, von der Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Rechtsstreites vorläufig weiter beschäftigt zu werden.

1. Der Beklagten steht kein wichtiger Grund zur Seite, welcher sie gemäß § 626 Abs. 1 BGB berechtigt, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit sofortiger Wirkung oder unter Einhaltung einer der fiktiven Kündigungsfrist entsprechenden sozialen Auslauffrist aufzulösen.

a. Der Kläger hat die streitgegenständliche Kündigung mit seiner Kündigungsschutzklage innerhalb der Frist der §§ 13Abs. 1 S. 2, 4,7 KSchG angegriffen. Es ist daher nicht bereits aufgrund der Versäumung der Klagefrist davon auszugehen, dass der Beklagten ein wichtiger Grund zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit sofortiger Wirkung zur Seite steht.

b. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Das Gesetz kennt folglich keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (BAG vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09, Rz. 16).

c. Vorliegend stützt die Beklagte die angegriffene Kündigung nicht auf einen Verdacht, sondern darauf, dass der Kläger nach ihrer Überzeugung am 24.07.2014 ein längliches Teil, bei welchem es sich um eine Schaumstoffmatte handelte, die im Eigentum der Beklagten stand, vom Betriebsgelände getragen und in sein Privatfahrzeug verbracht hat.

Insoweit ist festzustellen, dass der Kläger am 24.07.2014 auf dem Arbeitsweg einer auf dem Betriebsgelände der Beklagten aufgestellten Abfalltonne eine Schaumstoffmatte entnahm, die zur Vernichtung freigegeben war. Er verbrachte diese sodann durch das mit einer Videokamera überwachte Westtor des Betriebsgeländes in seinen Pkw, der auf einem dahinter befindlichen Parkplatz abgestellt war. Diesen Vortrag des Klägers hat die Beklagte zwar zumindest erstinstanzlich bestritten, jedoch hat sie keinen anderen Sachverhalt vorgetragen, also etwa, dass der Kläger die Schaumstoffmatte woanders entnommen hatte, dass diese ggf. nicht zur ersatzlosen Vernichtung freigegeben war oder dass der Kläger am fraglichen Tag anderweitige Gegenstände durch das Westtor in sein Auto verbracht hat. Gemäß § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO ist dieser Vortrag des Klägers daher als unstreitig anzusehen.

d. In der Mitnahme der Schaumstoffmatte liegt eine an sich zur außerordentlichen Kündigung seitens der Beklagten berechtigende Handlung des Klägers.

Begeht der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit rechtswidrige und vorsätzliche – ggf. strafbare – Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen seines Arbeitgebers, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Ein solches Verhalten kann auch dann einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB darstellen, wenn die rechtswidrige Handlung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder zu einem nur geringfügigen, möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat (BAG vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09, Rz. 26). Dies gilt auch für Eigentum des Arbeitgebers, das zur Entsorgung vorgesehen ist (LAG Schleswig-Holstein vom 13.01.2010, 3 Sa 324/09; LAG Baden-Württemberg vom 10.02.2010, 13 Sa 59/09).

Nach dem wie vorstehend festgestellten unstreitigen Sachverhalt hat der Kläger am 24.07.2014 eine im Eigentum der Beklagten stehende Schaumstoffmatte einem Abfallcontainer entnommen und in sein Privatfahrzeug verbracht. Darin liegt eine rechtswidrige und vorsätzliche, unmittelbar gegen das Vermögen der Beklagten gerichtete Handlung. Eine rechtswidrige Handlung scheidet vorliegend nicht aufgrund einer konkludenten Einwilligung der Beklagten in die Mitnahme der Schaumstoffmatte aus. Gemäß Ziff. 3.1, 4.1 S. 4 der Arbeitsanweisung kann zur Entsorgung bereitgestelltes, wertloses Material zwar ohne Erklärung des Kostenstellenverantwortlichen zum fehlenden betrieblichen Bedarf und zum Preisvorschlag abgegeben werden, jedoch ist unstreitig jedenfalls der Materialpassierschein (FO-SB-068) auszufüllen, gemäß Ziff. 4.5 der Arbeitsanweisung an der Hauptwache abzugeben und nach Kontrolle der Materialien zu archivieren. Eine Einwilligung der Beklagten, wertloses und zur Entsorgung vorgesehenes Material ohne Materialpassierschein und entsprechenden Kontrollen abzugeben, kann demnach nicht angenommen werden.

e. Zu Recht ist das Arbeitsgericht aber davon ausgegangen, dass es der Beklagten unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zuzumuten war, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist von sechs Monaten bis zum Monatsende fortzusetzen.

aa. Gemäß Ziff. 12.5 des kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1 TVG) auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anzuwendenden Manteltarifvertrages für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg, Tarifgebiet II (im Folgenden: MTV) kann das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht ordentlich gekündigt werden. In den Fällen einer tarifvertraglich geregelten ordentlichen Unkündbarkeit ist bei der gem. § 626 Abs. 1 BGB erforderlichen Prüfung der Zumutbarkeit, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen auf die Frist abzustellen, die der Arbeitgeber im Falle der ordentlichen Kündbarkeit einzuhalten hätte (BAG vom 27.04.2006, 2 AZR 386/05, Rz. 34). Aufgrund einer Betriebszugehörigkeit des Klägers von mehr als 15 Jahren wäre dies gem. Ziff. 12.4 MTV hier eine Frist von sechs Monaten zum Ende eines Kalendermonats.

bb. Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung – etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlustes und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere Reaktionen sind insbesondere Abmahnung und ordentliche Kündigung anzusehen. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen – zu erreichen. Einer Abmahnung bedarf es hierbei in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt selbst bei Störungen des Vertrauensbereichs durch Straftaten gegen Vermögen oder Eigentum des Arbeitgebers. Auch in diesem Bereich gibt es keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Stets ist konkret zu prüfen, ob nicht objektiv die Prognose berechtigt ist, der Arbeitnehmer werde sich jedenfalls nach einer Abmahnung künftig wieder vertragstreu verhalten (BAG vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09, Rz. 34, 37, 38).

cc. In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass bereits eine Abmahnung geeignet und ausreichend war, das Risiko künftiger Störungen des Vertragsverhältnisses durch gleichartige Pflichtverletzungen des Klägers auszuräumen. Weder musste die Beklagte davon ausgehen, dass eine Verhaltensänderung des Klägers selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten war, noch wog die Pflichtverletzung unter Würdigung der hier vorliegenden Einzelfallumstände so schwer, dass der Kläger auf jeden Fall mit einer Vertragsbeendigung seitens der Beklagten rechnen musste.

(1) Entgegen der Auffassung der Beklagten folgt daraus, dass der Kläger, wie durch die vom Arbeitsgericht vernommenen Zeugen bestätigt, gegenüber dem Personalleiter sagte, er sei „zu faul“ gewesen, den erforderlichen Materialpassierschein auszufüllen, nicht, dass er sich auch nach Ausspruch einer Abmahnung zukünftig nicht vertragstreu verhalten werde. Dagegen spricht der Umstand, dass der Kläger unstreitig bislang die Arbeitsanweisung bei der Abnahme von Material befolgt hat. Es gibt keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass der Kläger mit seiner Aussage gegenüber dem Personalleiter nicht bloß sein Motiv für sein Verhalten am 24.07.2014 beschreiben, sondern generell zum Ausdruck bringen wollte, ihm sei das von ihm bislang gefolgte betriebliche Verfahren nunmehr egal, er werde zukünftig aus Faulheit und sogar auch nach Kündigungsandrohung davon absehen, bei Mitnahme von Material der Beklagten, die erforderlichen Begleitpapiere zu verwenden. Derartige Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus den von den vom Arbeitsgericht vernommenen Zeugen gemachten Angaben zum Hergang des Gesprächs vom 28.07.2014. Zwar hat es der Kläger hiernach unterlassen, sich bei dem Personalleiter zu entschuldigen, obwohl ihn die Zeugen zuvor dazu aufgefordert hatten. Auch das aber ist kein ausreichendes Indiz dafür, dass der Kläger nunmehr auch nach Kündigungsandrohung die Arbeitsanweisung missachten werde. Der Personalleiter hat den Kläger nach den Aussagen der Zeugen nicht aufgefordert, sich zu entschuldigen. Zudem war der Kläger nach Angabe des Zeugen W. aufgeregt und war von den Zeugen vor dem Gespräch aufgefordert worden, die Wahrheit zu sagen. Daraus könnte mindestens ebenso gut geschlossen werden, dass der Kläger in dem Gespräch in seiner Aufregung nur die konkreten Fragen des Personalleiters wahrheitsgemäß beantwortete, es im Übrigen aber unterließ, auch unaufgefordert eine von den Zeugen vorher angeregte ausdrückliche Entschuldigung abzugeben. Ein zwingendes Indiz dafür, dass er demgegenüber zum Ausdruck bringen wollte, die von der Beklagten aufgestellten Regeln bei der Abgabe von Material seien ihm nunmehr und im Gegensatz zum früheren Verhalten egal und er werde diese auf jedem Fall nicht mehr befolgen, folgt aus seinem von den Zeugen dargestellten Verhalten nicht.

(2) Auch in Anbetracht des Gewichts der Pflichtverletzung des Klägers war eine Abmahnung hier nicht entbehrlich. Dies ergibt eine Abwägung der beiderseitigen Interessen. Dabei ist zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen, dass er aufgrund seiner Kenntnisse über das Verfahren bei Abnahme von nicht mehr verwendungsfähigem Material nicht davon ausgehen konnte, die Beklagte könne mit seinem Verhalten einverstanden sein, sich aber nach den Bekundungen der Zeugen nach eigenen Angaben trotzdem aus Faulheit nicht an die ihm bekannten Verfahrensregelungen hielt. Gleichwohl ist in Abwägung der Einzelfallumstände davon auszugehen, dass die Beklagte mit einer Abmahnung auf die Vertragsverletzung ausreichend reagieren konnte.

(a) Der Kläger hat der Beklagten keinen messbaren Schaden zugefügt. Nach dem festzustellenden Sachverhalt handelte es sich bei der Schaumstoffmatte nicht um geringwertiges oder gar bestandsgeführtes Material, welches nur gegen einen Kaufpreis abgegeben werden konnte. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass eine zur Entsorgung vorgesehenen Schaumstoffmatte der vom Kläger entwendeten Art für sie noch irgendein wirtschaftlicher Wert zukommt. Die Matte befand sich in einem Abfallcontainer und war zur Vernichtung freigegeben. Damit ist Ziff. 3.1 der Arbeitsanweisung einschlägig, wonach entsprechendes Material kostenlos an Mitarbeiter abgegeben wird.

(b) Der Kläger hat durch seine Handlung auch nicht den Kernbereich seiner vertraglichen Pflichten verletzt. Er hat nicht bei Ausübung seiner Tätigkeit als Arbeitsvorbereiter ihm anvertraute Arbeitsmittel entwendet, sondern auf dem Arbeitsweg bereits zur Entsorgung vorgesehenes Dämmmaterial.

(c) Der Kläger hat zudem nicht heimlich gehandelt. Dass der Kläger einen Ausgang wählte, an dem lediglich eine Videoüberwachung vorgesehen war, spricht nach den hier vorliegenden Umständen nicht dafür, dass er die Mitnahme der Schaumstoffmatte bewusst vor der Beklagten verbergen wollte. Es ist unstreitig geblieben, dass der Kläger den Ausgang – wie auch sonst – deshalb wählte, weil er auf dem hinter dem Tor gelegenen Parkplatz sein Auto geparkt hatte. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger das Auto dort bereits im Hinblick darauf geparkt hatte, dass er auf dem Arbeitsweg Material der Beklagten an sich nehmen und dann über das Westtor ohne Kontrolle in sein Auto bringen könne, sind von der Beklagten nicht vorgetragen worden.

(d) Das Gewicht der Pflichtverletzung ist auch unter Berücksichtigung der bisherigen unbeanstandeten Betriebszugehörigkeit zu bemessen. Eine für lange Jahre ungestörte Vertrauensbeziehung zweier Vertragspartner wird nicht schon durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört. Je länger eine Vertragsbeziehung ungestört bestanden hat, desto eher kann die Prognose berechtigt sein, dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen nicht vollständig aufgebraucht wird (BAG vom 10.06.2010, 2 AZR 541/09, Rz. 47). Vorliegend hat die Vertragsbeziehung der Parteien zum Zeitpunkt der Kündigung unbeanstandet über 17 Jahre bestanden. Auch dies lässt das Gewicht der Pflichtverletzung des Klägers nicht so hoch erscheinen, dass durch eine Abmahnung zerstörtes Vertrauen nicht mehr wiederhergestellt werden kann.

(e) Soweit die Beklagte einwendet, der Ausspruch einer Abmahnung gegenüber dem Kläger käme einem für sie nicht hinnehmbaren Signal an die Belegschaft gleich, wonach langjährig tätige Arbeitnehmer trotz besseren Wissens vorsätzlich ein Vermögensdelikt begehen dürfen, ohne über den Ausspruch einer Abmahnung hinausgehende Konsequenzen fürchten zu müssen, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Mit dem Ausspruch einer Abmahnung macht der Arbeitgeber deutlich, dass er das gerügte Fehlverhalten auch bei einem langjährig tätigen Arbeitnehmer für kündigungsrelevant hält. Ein Signal an die Belegschaft, im Falle langjährig unbeanstandeter Tätigkeit habe ein Arbeitnehmer auch bei vorsätzlichen Vermögensdelikten nichts zu befürchten, folgt daraus nicht. Im Übrigen ist fraglich, ob derartige Gesichtspunkte der Generalprävention im Rahmen der Interessenabwägung von ausreichender Tragfähigkeit sind (BAG vom 16.12.2004, 2 ABR 7/04, Rz. 33).

(e) Ob auch das Lebensalter des zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung sechzigjährigen Klägers bei der Bewertung der Zumutbarkeit künftiger Vertragsfortsetzung zu seinen Gunsten herangezogen werden kann, wie das Arbeitsgericht gemeint hat, kann hier dahinstehen. Das Ausmaß der Verletzung bestehenden Vertrauens ist zunächst einmal unabhängig vom Lebensalter zu bewerten, es sei denn, dass aufgrund bestimmter Umstände das Gewicht einer Pflichtverletzung nur unter Berücksichtigung des Lebensalters abschließend festgestellt werden kann. Bereits ohne Berücksichtigung des Alters des Klägers ergibt sich aus den vorgenannten Gründen hier, dass nach den Einzelfallumständen keine vollständige und unwiederbringliche Zerstörung des Vertrauens der Beklagten in die Vertragstreue des Klägers angenommen werden kann, die den Ausspruch einer Abmahnung entbehrlich machen würde. Das Lebensalter des Klägers vermag an diesem Befund jedenfalls nichts zu ändern.

f. Die angegriffene Kündigung hat das Arbeitsverhältnis auch nicht mit Ablauf der sozialen Auslauffrist auflösen können.

Dies ergibt sich bereits daraus, dass eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist aus verhaltensbedingten Gründen gegenüber ordentlich unkündbaren Arbeitnehmern ohnehin nicht auf § 626 BGB gestützt werden kann (BAG vom 21.06.2012, 2 AZR 343/11, Rz. 20; LAG Baden-Württemberg vom 25.06.2014, 4 Sa 35/14). Der Arbeitgeber gibt durch die Einräumung einer der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist zu erkennen, dass ihm bis dahin eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers als zumutbar erscheint. Der tarifliche Alterskündigungsschutz soll gerade in diesen Fällen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aber verhindern. Lässt man die außerordentliche Kündigung mit einer der Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist zu, wird in den Fällen verhaltensbedingter Gründe, in denen – anders als betriebsbedingten oder personenbedingten Gründen – die außerordentliche Kündigung in der Regel nicht ausgeschlossen ist, die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in den Fällen zugelassen, in denen sie nach Sinn und Zweck des tariflichen Alterskündigungsschutzes gerade ausgeschlossen sein soll. Der Schutz der tariflichen Alterssicherung würde damit unterlaufen (LAG Baden-Württemberg, a.a.O.).

Unabhängig davon, ist der Beklagten aber vorliegend die Weiterbeschäftigung des Klägers auch über die fiktive Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Monatsende hinaus zuzumuten. Es gilt hier aufgrund der gleichsam anzustellenden Interessenabwägung nichts anderes als zur außerordentlichen fristlosen Kündigung. Der Beklagten war es zuzumuten, auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen.

2. Da erst- wie zweitinstanzlichen festzustellen ist, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden ist und auch keine sonstigen Umstände erkennbar sind, die es der Beklagten unzumutbar machen, den Kläger vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens weiter zu beschäftigen, kann der Kläger gem. § 242 BGB, Art. 1, 2 GG auch verlangen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits als Arbeitsvorbereiter Repair weiter beschäftigt zu werden.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 72 Abs. 2 ArbGG). Der Entscheidung liegen höchstrichterliche Rechtsgrundsätze und im Übrigen die Umstände des Einzelfalls zugrunde.

Die Beklagte wird auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde hingewiesen (§ 72 a ArbGG).

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