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Fristlose Kündigung wegen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr bei Dienstfahrt

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 5 Sa 172/20 – Urteil vom 22.07.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 27.05.2020, Az. 12 Ca 3823/19, wird zurückgewiesen.

2. Auf die Anschlussberufung des Klägers wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger weitere

a) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2020,

b) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2020,

c) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2020,

d) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2020,

e) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020,

f) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.11.2020 zu zahlen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten sowie Vergütung wegen Annahmeverzugs und dabei insbesondere darüber, ob der Kläger es böswillig unterlassen hat, anderweitigen Verdienst zu erzielen.

Der im 1958 geborene, ledige Kläger ist Diplom-Bauingenieur (FH). Er ist bei der Beklagten seit dem 15.11.2011 als Bauleiter zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt € 5.700,00 beschäftigt. Ferner wurde ihm ein Dienstwagen zur privaten Nutzung gestellt, dessen geldwerter Vorteil mit € 155,00 monatlich versteuert wurde. Mit Bescheid vom 21.11.2017 wurde beim Kläger wegen einer seelischen Erkrankung ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannt. Die Beklagte, eine Gesellschaft für Baubetreuung, beschäftigt regelmäßig 14 Arbeitnehmer in Vollzeit.

Am 15.11.2019 fuhr der Kläger mit dem Dienstwagen (Ford Focus) von einer Baustelle in M-Stadt aus dienstlichem Anlass zum Sitz der Beklagten nach C-Stadt; er nahm zwei Arbeitskollegen mit. Auf der Autobahn A 61 wurde gegen 10:45 Uhr einer Zivilstreife der Verkehrsdirektion K-Stadt auf den Kläger aufmerksam. In einem Vermerk hielt der sachbearbeitende Polizeibeamte – auszugsweise – folgendes fest:

„Auf der W. Brücke … wurden wir im Bereich des letzten Teilstücks … von einem Ford Focus … überholt. Nachdem POK … die Geschwindigkeit an den Ford angepasst hatten fuhren wir ca. 160 km/h schnell bei erlaubten 100 km/h. Die Videoaufzeichnung wurde gestartet. Da das Messvideo ein paar Sekunden braucht bis es aufzeichnet, konnte dieser Verstoß nicht videografiert werden bevor die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h angehoben wurde.

Im weiteren Verlauf konnten weitere Messungen durchgeführt werden. Das Fahrzeug wurde mehrfach bis zu einer Geschwindigkeit von über 170 km/h bei erlaubten 130 km/h geführt. Die rasante Fahrweise wurde durch andere Verkehrsteilnehmer unterbrochen, welche auch die linke Fahrspur nutzten. Diesen fuhr der Ford Focus regelmäßig bis zu Abständen von unter 3/10 des halben Tachowertes auf.

Auf dem Parkplatz T. … sollte der Ford einer Verkehrskontrolle unterzogen werden. Hierzu fuhr POK … zunächst links neben das Fahrzeug, sodass ich Blickkontakt zu dem Fahrer hatte. Ich zeigte ihm die Polizeikelle. Der Fahrer blickte jedoch nur stur nach vorne. …

Anschließend überholte POK … das Fahrzeug, setzte sich vor ihn und schaltete das LED-Anhaltesignal ein. Statt uns zu folgen, setzte der Fahrer des Ford zum Überholen an. Ich setze das eingeschaltete magnetische Blaulicht auf das Dach und POK … zog vor ihn, nun folgte er.

Auf dem Rastplatz wies ich mich mit meinem Dienstausweis aus und eröffnete den Insassen die Verkehrskontrolle.

Ich eröffnete [dem Kläger], dass er mehrfach die Geschwindigkeit massiv überschritten habe. Weiter eröffnete ich ihm, dass er auch den Abstand zu vorausfahrenden Fahrzeugen unterschreitet und diese somit auch bedrängt. … [Der Kläger] blickte mich während diesem Gespräch nicht an, sondern schaute geradeaus. Er erschien mir irgendwie abwesend.

Anschließend begab ich mich in das [Polizeifahrzeug], um die Daten für die spätere Anzeige aufzunehmen.

Nachdem ich alles notiert hatte und mich wieder [zum Kläger] begeben wollte, stieg dieser aus seinem Fahrzeug und ging an mir vorbei in Richtung des Grünstreifens. Hierbei öffnete er den Reißverschluss seiner Hose.

Ich fragte ihn, auch wenn es offensichtlich war, was er jetzt vorhatte. Er antwortete mit „ich muss pinkeln“. Ich gab ihm zu verstehen, dass dies hier nicht geht, da der Parkplatz keine Toilette habe. Er antwortete mir „ist mir egal“ und ging weiter, ca. 4 Meter vom Bordstein entfernt wollte er sein „Geschäft“ verrichten.

Auf dem Parkplatz pausierten auch andere Verkehrsteilnehmer, durch das zivile Polizeifahrzeug mit dem Blaulicht auf dem Dach hätte dieser Verstoß auch Außenwirkung.

Ich stellte mich ca. 3 Meter entfernt, schräg versetzt hinter [den Kläger] und sprach zu ihm, dass dies nicht in Ordnung sei. Er befinde sich in einer Polizeikontrolle und können nicht einfach „Wildpinkeln“. Dies sei zudem auch Bußgeldbewährt und es könne gegen ihn separat eine Anzeige gefertigt werden.

Nun verlor [der Kläger] komplett die Fassung. Er begann mich laut anzubrüllen und wiederholte mehrfach „gehen sie weg, gehen sie weg“ und fügte dann noch „sie Spanner“ hinzu. Hierbei bebte er so sehr, dass er sich über seine Hände urinierte.

[Der Kläger] entschuldigte sich anschließend für sein Verhalten und dass er mich beleidigt habe.

Da er mich mit seinen Worten nicht tangiert hatte, erklärte ich, keine Strafanzeige zu fertigen. Für die Verkehrsverstöße müsse er sich aber verantworten.“

Am 19.11.2019 sprach der Geschäftsführer der Beklagten den Kläger auf diesen Vorfall in einem Besprechungscontainer auf einer Baustelle in M-Stadt an. Einzelheiten sind streitig. Der Kläger verließ den Container und begab sich an seinen Arbeitsplatz im darüberliegenden Bürocontainer. Der Geschäftsführer folgte ihm, um das Gespräch fortzusetzen. Der Kläger verließ sodann das Büro und die Baustelle. Er übersandte der Beklagten eine am 20.11.2019 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 19.11. bis 04.12.2019, später Folgebescheinigungen bis einschließlich 23.01.2020.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 25.11.2019 außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Das Kündigungsschreiben lautet auszugsweise:

„Die Kündigung erfolgt aufgrund Ihres Verhaltens am 15.11.2019. Sie haben bei der Fahrt mit dem Firmen-Pkw … rücksichtslos gegen Verkehrsvorschriften verstoßen und im Anschluss daran die Polizeibeamten beleidigt.

Ferner haben sie am Dienstag, den 19.11.2019, als Sie von mir zur Klärung des Vorfalls angesprochen worden sind, ausfallend reagiert. Sie sind im Besprechungscontainer aufgestanden und haben erklärt: „Ich haue jetzt ab“. Anschließend sind Sie in Ihren darüberliegenden Baucontainer gegangen. Als ich Ihnen in den Container gefolgt bin, um die Sache in Ruhe mit Ihnen zu besprechen, haben Sie sofort geschrien und sind „ausgeflippt“. Sie haben mir gegenüber erneut erklärt: „Ich haue jetzt ab“. Daraufhin habe ich Ihnen angekündigt, dass das Arbeitsverhältnis dann fristlos wegen Arbeitsverweigerung gekündigt werde. Daraufhin haben Sie geantwortet: „Die nehme ich hiermit sofort an“. Anschließend haben Sie unerlaubt die Baustelle verlassen.“

Später stütze die Beklagte die Kündigung auch darauf, dass sämtliche Arbeitskollegen nicht mehr mit dem Kläger zusammenarbeiten wollten. Diese hätten bereits angekündigt, ihre Arbeitsverhältnisse zu beenden, wenn der Kläger erneut beschäftigt werden sollte.

Der Kläger hat gegen die Kündigung am 12.12.2019 beim Arbeitsgericht Koblenz Klage erhoben. Mit mehrfacher Klageerweiterung machte er ein qualifiziertes Zwischenzeugnis sowie Zahlungsansprüche für die Monate von November 2019 bis April 2020 unter Berücksichtigung des vom 26.11.2019 bis zum 23.01.2020 bezogenen Krankengelds und des ab 24.01.2020 bezogenen Arbeitslosengelds geltend.

Mit Schreiben vom 24.03.2020 ließ die Beklagte diverse Stellenausschreibungen für die Position eines Bauleiters in der Region N-Stadt an den Kläger übersenden. Der Kläger bewarb sich auf diese und andere Stellen, konnte jedoch – auch über die Bundesagentur für Arbeit – keinen neuen Arbeitsplatz finden. Seinen Bewerbungsschreiben fügte er neben einem Lebenslauf jeweils noch folgende Anlage bei:

„Was Sie sonst noch über mich wissen sollten

Meine Handlungsweise ist geprägt vom Streben nach optimaler Dienstleistung.

Zuverlässigkeit sowie Verantwortungsbewusstsein sind für mich selbstverständlich.

Meine Arbeitsweise zeichnet sich durch ausgeprägte Leistungsbereitschaft und einem hohen Leistungsanspruch an mich selbst aus.

Ich arbeite gerne eigenständig, habe aber auch großen Spaß daran, mich problemlos und erfolgreich in ein kollegiales Team einzubringen.

Ich freue mich, wenn ich erlebe, wie mein Engagement zum Erfolg für das Unternehmen beiträgt. Das gibt mir Bestätigung und Zufriedenheit.

Meine Gehaltsvorstellung liegt bei 79.200, – Euro brutto jährlich.

Ich bitte um Berücksichtigung, dass ich ab Erreichen des 63. Lebensjahres in den Ruhestand wechseln möchte.“

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 25.11.2019, zugegangen am 25.11.2019, nicht aufgelöst worden ist,

2. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 25.11.2019, zugegangen am 25.11.2019, nicht aufgelöst wird,

3. die Beklagte zu verurteilen, ihm ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen,

4. für den Fall des Unterliegens mit den Feststellungsanträgen, die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 6.050,77 brutto (Urlaubsabgeltung) nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.12.2019 zu zahlen,

5. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 1.480,43 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 510,32 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.02.2020 zu zahlen,

6. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.03.2020 zu zahlen,

7. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.04.2020 zu zahlen,

8. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Krankengelds iHv. € 443,65 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.12.2020 zu zahlen,

9. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Krankengelds iHv. € 2.661,90 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.01.2020 zu zahlen,

10. die Beklagte zu verurteilen, an ihn € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.05.2020 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils vom 27.05.2020 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Koblenz hat der Klage (bis auf einen Teil der Zahlungsforderung) stattgegeben und zur Begründung zusammengefasst ausgeführt, die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 25.11.2019 sei unwirksam. Die von der Beklagten behaupteten Verkehrsverstöße des Klägers während der Fahrt mit dem Dienstwagen am 15.11.2019 stellten keinen wichtigen Grund nach § 626 Abs. 1 BGB dar. Zwar bestehe ein hinreichender Bezug zum Arbeitsverhältnis, weil der Kläger mit zwei Arbeitskollegen in seiner Arbeitszeit auf der Autobahn unterwegs gewesen sei. Allerdings seien die dem Kläger vorgeworfenen Verkehrsverstöße bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeiten und keine (erheblichen) Straftaten. Die dem Kläger vorgeworfene Beleidigung des Polizeibeamten sei kündigungsrechtlich unbeachtlich, weil der Beamte von einer Anzeige nach der Entschuldigung durch den Kläger abgesehen habe. Auch das Verhalten des Klägers während der beiden Gespräche am 19.11.2019 mit dem Geschäftsführer der Beklagten, rechtfertige die außerordentliche Kündigung nicht. Eine beharrliche Arbeitsverweigerung sei dem Kläger nicht vorzuwerfen. Im Ergebnis habe er sich geweigert, das Personalgespräch fortzusetzen, weil er sich unberechtigten Vorwürfen ausgesetzt gesehen habe. Die Kündigung sei vor dem Hintergrund der verbalen Auseinandersetzung auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil der Kläger den Arbeitsplatz verlassen habe. Die „Flucht“ sei für den Kläger die einzige Möglichkeit gewesen, dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Dies habe er auch mit den Worten „Ich hau` jetzt ab“ klar kommuniziert. Die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 25.11.2019 sei sozial ungerechtfertigt. Der Kläger habe Anspruch auf ein qualifiziertes Zwischenzeugnis. Er könne für die Zeit von November 2019 bis April 2020 im tenorierten Umfang Entgeltfortzahlung bzw. Vergütung wegen Annahmeverzugs beanspruchen. Vom eingeklagten Novembergehalt iHv. € 5.855,00 brutto müsse er sich nicht nur das Krankengeld iHv. € 443,65, sondern auch den von der Beklagten gezahlten Betrag iHv. € 2.913,32 abziehen lassen. Für den Dezember 2019 könne er € 5.855,00 brutto abzüglich des Krankengelds iHv. € 2.661,90 beanspruchen. Der sechswöchige Entgeltfortzahlungszeitraum sei am 31.12.2019 abgelaufen. Ab dem 24.01. bis zum 30.04.2020 könne der Kläger Vergütung wegen Annahmeverzugs abzüglich des erhaltenen Arbeitslosengelds beanspruchen. Er habe es nicht böswillig unterlassen, anderweitigen Verdienst zu erzielen, § 11 Satz 1 Nr. 2 KSchG, weil er sich bei zahlreichen Arbeitgebern vergeblich beworben und bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet habe. Damit habe er seiner Obliegenheit genügt, sich um eine Arbeit zu bemühen. Wegen der Einzelheiten der erstinstanzlichen Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils vom 27.05.2020 Bezug genommen.

Gegen das am 17.06.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 24.06.2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 17.09.2020 verlängerten Frist mit am 16.09.2020 eingegangenem Schriftsatz begründet. Die Berufungsbegründungsschrift ist dem Kläger am 18.09.2020 zugestellt worden, der innerhalb der verlängerten Erwiderungsfrist mit Schriftsatz vom 27.10.2020 die Klage um weitere Zahlungsanträge für die Monate von Mai bis Oktober 2020 erweitert hat.

Die Beklagte macht geltend, die außerordentliche Kündigung vom 25.11.2019 sei wirksam. Der Kläger habe eine Vielzahl gravierender Pflichtverletzungen begangen, die in der Gesamtschau als wichtiger Kündigungsgrund geeignet seien. Das Arbeitsgericht habe lediglich die einzelnen Sachverhalte geprüft, es jedoch unterlassen, die in einem Zusammenhang stehenden schwerwiegenden Pflichtverletzungen am 15.11. und 19.11.2019 zusammenfassend zu bewerten. Der Kläger habe gegen die allgemeine Pflicht aus § 241 Abs. 2 BGB zur Rücksichtnahme verstoßen. Der Verstoß sei darin zu sehen, dass er durch sein rücksichtsloses Fahren auf der Autobahn, sowohl andere Verkehrsteilnehmer als auch seine Mitfahrer erheblich gefährdet habe. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Vermerk des Polizeibeamten, den sie als Zeugen benannt habe. Hinzu komme, dass der Kläger den Polizeibeamten beleidigt habe. Es entlaste den Kläger nicht, dass der Beamte keine Anzeige nach der Entschuldigung erstattet habe. Vielmehr zeige die Beleidigung des Polizisten, dass der Kläger nach den Verkehrsverstößen völlig uneinsichtig gewesen sei. Eine erhebliche Pflichtverletzung liege auch im Verhalten des Klägers anlässlich der Gespräche am 19.11.2019. Der Kläger habe die Ausübung seiner Hauptleistungspflicht verweigert, weil er das Personalgespräch einseitig beendet habe. Die in diesem Gespräch gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe wegen der Vorfälle auf der Autobahn seien nicht unberechtigt gewesen. Der Kläger hätte gegenüber ihrem Geschäftsführer sein Fehlverhalten einräumen können. Stattdessen sei er „ausgerastet“, habe das Personalgespräch abgebrochen und die Baustelle verlassen. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei dies keine Unhöflichkeit, sondern ein gravierender Pflichtverstoß. Jedenfalls die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung sei gerechtfertigt. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei der Kläger einschlägig abgemahnt. In einer Abmahnung vom 12.08.2016 habe sie dem Kläger vorgeworfen, dass er die Arbeit verweigert und den Arbeitsplatz verlassen habe. Außerdem habe ihr Geschäftsführer den Kläger kurz vor dem Verlassen der Baustelle in M-Stadt am 19.11.2019 mündlich abgemahnt. Er habe dem Kläger erklärt, wenn er jetzt gehe, müsse er mit der fristlosen Kündigung rechnen. Sie habe vorgetragen unter Beweis gestellt, dass der Kläger geantwortet habe, er werde diese hiermit sofort annehmen. Der Kläger könne kein Zwischenzeugnis verlangen. Aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses stehe ihm ein Schlusszeugnis zu, das sie ihm zwischenzeitlich erteilt habe.

Die geltend gemachten Zahlungsansprüche seien unbegründet. Das Arbeitsverhältnis sei durch die fristlose Kündigung vom 25.11.2019, spätestens durch die hilfsweise ordentliche Kündigung mit Ablauf des 29.02.2020 beendet worden. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts habe es der Kläger böswillig unterlassen, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Sie habe dem Kläger mit Schreiben vom 24.03.2020 umfangreiche Stellenangebote übersandt. Der Kläger habe sich zwar beworben, jedoch in einem Begleitschreiben angegeben, dass er mit 63 Jahren, also im Sommer 2021, in den Ruhestand wechseln möchte. Damit habe er sich für potentielle Arbeitgeber bewusst unattraktiv gemacht, um nicht eingestellt zu werden. Eine Einstellung und Einarbeitung in die jeweiligen Projekte seien für einen Arbeitgeber nicht sinnvoll, wenn der Bauleiter kurze Zeit später ohnehin wieder ausscheiden wolle. Außerdem habe der Kläger mit dem geforderten Einstiegsgehalt von € 79.200,00 von vornherein jeden potentiellen Arbeitgeber abgeschreckt. Für den Zeitraum ab Juli 2020 bis Oktober 2020 habe der Kläger keine Zahlungsansprüche, weil er ihr Angebot vom 29.06.2020 auf Vereinbarung eines befristeten Prozessrechtsbeschäftigungsverhältnis abgelehnt habe.

Die Beklagte beantragt zweitinstanzlich,

1. das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 27.05.2020, Az. 12 Ca 3823/19, abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen,

2. die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

1. die Berufung zurückzuweisen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn

a) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2020,

b) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2020,

c) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2020,

d) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2020,

e) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.10.2020,

f) € 5.855,00 brutto abzüglich erhaltenen Arbeitslosengelds iHv. € 1.913,70 netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.11.2020 zu zahlen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Weiterhin begehrt er Vergütung wegen Annahmeverzugs auch für die Monate von Mai bis Oktober 2020. Er ist der Ansicht, dass er anderweitigen Erwerb nicht böswillig unterlassen habe. Mit seiner Angabe im Begleitschreiben zur jeweiligen Bewerbung, dass er mit 63 Jahren in den Ruhestand wechseln wolle, habe er keine Neuanstellung böswillig vereitelt. Infolge der fristlosen Kündigung sei er gezwungen gewesen, sich ca. ein Jahr vor dem geplanten Ruhestand um eine neue Anstellung zu bewerben. Er habe seinem neuen Arbeitgeber im Bewerbungsverfahren seine Absicht, mit 63 Jahren in den Ruhestand zu wechseln, nicht verheimlichen wollen. Er sei wegen Unzumutbarkeit nicht verpflichtet gewesen, die angebotene Prozessbeschäftigung anzunehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten und die als Anschlussberufung des Klägers auszulegende Klageerweiterung in der Berufungsinstanz sind zulässig.

1. Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie genügt insbesondere den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO und erweist sich auch sonst als zulässig.

2. Soweit der Kläger seine auf Zahlung von Vergütung wegen Annahmeverzugs gerichtete Klage in der Berufungsinstanz um Forderungen für die Zeit von Mai bis Oktober 2020 erweitert hat, ist eine solche Klageerweiterung für den Berufungsbeklagten nur im Wege der Anschlussberufung möglich. Damit ist die Klageerweiterung als Anschlussberufung auszulegen, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet ist (vgl. BAG 21.08.2019 – 7 AZR 563/17 – Rn. 66 mwN).

Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig. Nach § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG ist eine Anschlussberufung bis zum Ablauf der dem Berufungsbeklagten gesetzten Frist zur Berufungserwiderung zulässig. Die Berufungserwiderungsfrist nach § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG wurde antragsgemäß bis zum 16.11.2020 verlängert. Die mit der Berufungserwiderung erfolgte Klageerweiterung ist am 02.11.2020, und damit innerhalb der Frist nach § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Sie ist auch innerhalb der Anschlussberufungsfrist begründet worden.

II.

In der Sache hat die Berufung der Beklagten keinen Erfolg. Auf die zweitinstanzliche Klageerweiterung im Rahmen der Anschlussberufung ist die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Vergütung wegen Annahmeverzugs für die Monate von Mai bis Oktober 2020 zu zahlen.

1. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, für die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 25.11.2019 fehle es an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB.

a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. etwa BAG 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15 mwN).

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen liegen keine hinreichenden Kündigungsgründe vor.

aa) Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt ist, weil der Kläger am 15.11.2019 auf einer Dienstfahrt von M-Stadt zum Sitz der Beklagten in C-Stadt gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen (Geschwindigkeitsübertretungen und Abstandsverstöße auf einer Autobahn) sowie im Verlauf der Verkehrskontrolle auf dem Autobahnrastplatz (ohne WC-Anlage) öffentlich uriniert hat. Es handelt sich um Ordnungswidrigkeiten, die mit Geldbuße und unter Umständen mit der Anordnung eines Fahrverbots geahndet werden. Schutzgut der dem Kläger vorgehaltenen Ordnungswidrigkeiten ist der Straßenverkehr und die Öffentliche Ordnung. Auch wenn der Kläger mit dem Dienstwagen und zwei Arbeitskollegen auf der Autobahn aus dienstlichem Anlass unterwegs war, liegt kein schwerwiegender Verstoß gegen die arbeitsvertraglichen Pflichten vor. Wie das Arbeitsgericht bereits ausgeführt hat, ist der Kläger kein Berufskraftfahrer. Das Führen eines Kraftfahrzeugs stellt auch nicht seine wesentliche Verpflichtung aus dem Arbeitsvertrag dar. Die Verkehrsverstöße und das Urinieren in der Öffentlichkeit belasten das Arbeitsverhältnis nicht so, dass der Beklagten die Weiterbeschäftigung des Klägers als Bauleiter unzumutbar wäre.

bb) Das Arbeitsgericht hat außerdem zutreffend erkannt, dass die Beleidigung des Polizeibeamten, der den Kläger beim Urinieren in der Öffentlichkeit (umgangssprachlich „Wildpinkeln“) auf dem Rastplatz beobachtet hat, keine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen vermag. Der Polizeibeamte hat in seinem Vermerk festgehalten, dass er wegen der Bezeichnung als „Spanner“ in diesem Kontext keine Strafanzeige gefertigt und die Entschuldigung des Klägers angenommen hat. Es ist nicht ersichtlich, weshalb es durch diesen Vorfall zu einer Störung des Vertragsverhältnisses der Parteien gekommen sein könnte.

cc) Auch das Verhalten des Klägers am 19.11.2019 rechtfertigt eine außerordentliche Kündigung nicht. Dies hat das Arbeitsgericht ebenfalls zutreffend erkannt. Eine „beharrliche“ Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten liegt nicht vor. Ein Arbeitnehmer weigert sich beharrlich, seinen vertraglichen Pflichten nachzukommen, wenn er sie bewusst und nachhaltig nicht erfüllen will (vgl. BAG 23.08.2018 – 2 AZR 235/18 – Rn. 14 mwN). Ob eine Verletzung arbeitsvertraglicher (Neben-)Pflichten vorliegt, richtet sich nach der objektiven Rechtslage.

Vorliegend war der Kläger bereits am 19.11.2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Der behandelnde Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. A. S. hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 20.11.2019 rückwirkend ab 19.11.2019 ausgestellt. Ausweislich der erstinstanzlich vom Kläger vorgelegten Ausfertigung für den Versicherten litt er unter einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (ICD-10 Diagnose: F33.1 G). Während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit hat der Arbeitgeber kein Weisungsrecht gemäß § 106 GewO, soweit es Pflichten betrifft, von deren Erfüllung der Arbeitnehmer krankheitsbedingt befreit ist (vgl. BAG 02.11.2016 – 10 AZR 596/15 – Rn. 28 ff mwN). Der Kläger war daher nicht verpflichtet, am 19.11.2019 Personalgespräche mit der Beklagten über die Geschehnisse im Zusammenhang mit der Verkehrskontrolle vom 15.11.2019 zu führen.

Wie das Arbeitsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, sah sich der Kläger am 19.11.2019 – aus seiner subjektiven Sicht – unberechtigten Vorwürfen des Geschäftsführers der Beklagten ausgesetzt. Er verließ zunächst den Besprechungsraum, weil er das unangenehme Gespräch mit dem Geschäftsführer nicht fortsetzen wollte und begab sich an seinen Arbeitsplatz in einem Baucontainer. Nachdem ihm der Geschäftsführer dorthin gefolgt ist, verließ der Kläger auch diesen und die Baustelle. Es ist offensichtlich, dass der Kläger dem Druck nicht anders begegnen konnte, als der Situation zu entfliehen. Im Kündigungsschreiben vom 25.11.2019 hat die Beklagte ausgeführt, ihr Geschäftsführer habe den Kläger darauf angesprochen, dass er am 15.11.2019 bei der Fahrt mit dem Firmenwagen rücksichtslos gegen Verkehrsvorschriften verstoßen und anschließend die Polizeibeamten beleidigt habe. Der Kläger habe „ausfallend reagiert“, sei im Besprechungscontainer aufgestanden und habe ihn mit den Worten „Ich haue jetzt ab“ verlassen. Anschließend habe er sich an seinen Arbeitsplatz im Baucontainer begeben. Der Geschäftsführer sei ihm dorthin gefolgt, um die Sache „in Ruhe“ zu besprechen; der Kläger habe „sofort geschrien“ und sei „ausgeflippt“. Er habe erneut erklärt: „Ich haue jetzt ab“. Auf die Drohung des Geschäftsführers, er werde das Arbeitsverhältnis dann wegen Arbeitsverweigerung kündigen, soll der Kläger geantwortet haben: „Die nehme ich hiermit sofort an“. Dieser im Kündigungsschreiben plastisch festgehaltene Geschehensablauf belegt die emotionale Situation in der sich der Kläger befand. Wenn sich der Kläger nicht mehr anders zu helfen wusste, als die Baustelle zu verlassen, anstatt die Vorhaltungen des Geschäftsführers auszuhalten, kann von einer „beharrlichen“ Pflichtverletzung keine Rede sein, zumal er schon am 19.11.2019 arbeitsunfähig war.

dd) Die Kündigung ist auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil die Beklagte behauptet, sämtliche Arbeitnehmer hätten sich geweigert, mit dem Kläger zusammenzuarbeiten und ihr mit einer Kündigung gedroht, falls sie den Kläger wieder beschäftigen sollte.

Liegen – wie im Streitfall – keine Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers vor, die das Entlassungsverlangen sachlich rechtfertigen, reicht das bloße Verlangen der Belegschaft nicht ohne Weiteres aus, eine Kündigung zu rechtfertigen. Vielmehr hat sich der Arbeitgeber bei Fehlen eines objektiven Kündigungsgrunds zunächst schützend vor den Arbeitnehmer zu stellen und alles Zumutbare zu versuchen, die anderen Arbeitnehmer von ihrem Verlangen abzubringen. Hieran fehlt es.

ee) Entgegen der Ansicht der Berufung stellen die von der Beklagten erhobenen Vorwürfe auch in ihrer Gesamtheit keinen wichtigen Kündigungsgrund dar. Auch in ihrer Kumulation gewinnen sie kündigungsrechtlich kein anderes Gewicht als bei isolierter Betrachtung.

2. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Beklagten ist sozial nicht gerechtfertigt und daher nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam. Auch dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt. Die Kündigungsvorwürfe der Beklagten rechtfertigen keine ordentliche Kündigung. Für dieses Ergebnis gelten die Erwägungen, die die Berufungskammer zu der außerordentlichen fristlosen Kündigung angestellt hat. Insoweit kann zur Vermeidung von Wiederholungen auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.

3. Das Arbeitsgericht hat der Klage auch hinsichtlich der begehrten Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses zu Recht stattgegeben.

Nach § 109 GewO kann der Arbeitnehmer bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein (Abschluss-)Zeugnis beanspruchen. Streiten die Parteien aber gerichtlich über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, besteht ein triftiger Grund für die Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Dieser Grund entfällt erst mit rechtskräftigem Abschluss des Beendigungsrechtsstreits (vgl. BAG 20.05.2020 – 7 AZR 100/19 – Rn. 42 mwN). Danach kann der Kläger die Erteilung eines Zwischenzeugnisses beanspruchen. Der erforderliche triftige Grund ist gegeben, weil über die von der Beklagten mit Schreiben vom 25.11.2019 ausgesprochene Kündigung noch nicht rechtskräftig entschieden ist.

4. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Beklagte dem Kläger nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG sowie nach § 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2, §§ 293 ff. BGB für die sechs Monate von November 2019 bis April 2020 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (vom 19.11. bis 31.12.2019) und Vergütung wegen Annahmeverzugs (wiederhergestellte Arbeitsfähigkeit ab 24.01.2020) schuldet.

Da das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet worden ist, muss die Beklagte dem Kläger für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung gewähren. Nach der Genesung des Klägers befand sich die Beklagte infolge ihrer unwirksamen Kündigung vom 25.11.2019 im Annahmeverzug, ohne dass es eines tatsächlichen Angebots der Arbeitsleistung bedurft hätte. Eine Anzeige der Arbeitsfähigkeit war nicht erforderlich, weil der Kläger mit der Erhebung der Kündigungsschutzklage seine weitere Leistungsbereitschaft deutlich gemacht hat (so schon BAG 19.04.1990 – 2 AZR 591/89).

a) Gegen die Berechnung der Höhe der Ansprüche wendet sich die Berufung nicht. Das Arbeitsgericht hat die Höhe der Einzelforderungen für die jeweiligen Monate sowie die Leistungen der Sozialversicherungsträger, die der Kläger in Abzug bringt, zutreffend berechnet. Danach kann der Kläger für den Monat November 2019 weitere € 2.913,34 brutto (€ 5.855,00 minus gezahlter € 2.941,66) abzüglich des erhaltenen Krankengelds von € 443,65 netto, für Dezember 2019 weitere € 5.855,00 brutto abzüglich des erhaltenen Krankengelds von € 2.661,90 netto, für Januar 2020 (vom 24.01.-31.01.) € 1.480,43 brutto abzüglich des erhaltenen Arbeitslosengelds von € 510,32 sowie für die Monate von Februar bis April 2020 jeweils € 5.855,00 brutto abzüglich € 1.913,70 Arbeitslosengeld nebst Verzugszinsen beanspruchen.

b) Entgegen der Ansicht der Beklagte hat es der Kläger nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit (ab 24.01.2020) nicht böswillig unterlassen, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen.

aa) Böswillig iSd. § 11 Satz 1 Nr. 2 KSchG (inhaltsgleich mit § 615 Satz 2 BGB) handelt der Arbeitnehmer, dem ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert (st. Rspr., vgl. nur BAG 23.02.2021 – 5 AZR 213/20 – Rn. 14 mwN). Maßgebend sind dabei die gesamten Umstände des Einzelfalls.

bb) Der Kläger meldete sich nach der Kündigung unstreitig bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend. Er bewarb sich in der Folgezeit bei potentiellen Drittarbeitgebern auf eine Vielzahl von freien Stellen als Bauleiter; seine Bewerbungen wurden jedoch nicht berücksichtigt. Entgegen der Ansicht der Berufung kann dem Kläger nicht vorgeworfen werden, dass er die Aufnahme einer anderen Arbeit als Bauleiter durch seine Anlage zum Bewerbungsanschreiben („Was Sie sonst noch über mich wissen sollten“) böswillig verhindert hat. Zwar führte der Kläger in diesem Begleitschreiben – neben einigen Phrasen – ehrlich aus, dass er beabsichtige, ab Erreichen des 63. Lebensjahrs in den Ruhestand zu wechseln. Mit dieser Klarheit dürfte er sich als Bauleiter für potentielle Arbeitgeber nach aller Lebenserfahrung unattraktiv gemacht haben. Die Zeitspanne zwischen frühester Einstellung (01.02.2020) und beabsichtigtem Renteneintritt (01.08.2021) war so kurz bemessen, dass eine Einarbeitung in langfristige Bauprojekte sich nicht mehr gelohnt haben dürfte. Von der Planung bis zur Abnahme eines Bauprojekts vergehen regelmäßig mehr als eineinhalb Jahre. Bei dem vorgestellten Einstiegsgehalt von € 79.200,00 jährlich musste dem Kläger auch bewusst sein, dass sich eine derartige Vergütung nur mit der Leitung von komplexen oder schwierigen Bauvorhaben erzielen lässt, die regelmäßig eine längere Bearbeitungszeit erfordern.

Obwohl keine rechtliche Verpflichtung besteht, den künftigen Arbeitgeber im Bewerbungsverfahren darüber zu informieren, dass man in absehbarer Zeit in (vorgezogene) Altersrente gehen möchte, handelte der Kläger nicht böswillig iSv. § 11 Satz 1 Nr. 2 KSchG, indem er diese persönliche Zukunftsplanung nicht verschwieg. Seine Rücksichtnahmepflicht gegenüber der Beklagten geht nicht so weit, dass er dem künftigen Arbeitgeber einstellungsrelevante Informationen vorenthalten müsste.

Auch die im Begleitschreiben formulierte Gehaltsvorstellung von € 79.200,00 ist, entgegen der Ansicht der Berufung, für einen Bauingenieur mit langjähriger Berufserfahrung nicht so unrealistisch, dass man dem Kläger Böswilligkeit vorwerfen könnte. Insbesondere war er nicht verpflichtet, das letzte Jahresgehalt bei der Beklagten (€ 70.260,00) als Maximum anzugeben. Anders als die Berufung meint, ist der Aufschlag von rund zwölf Prozent nicht so überzogen, dass er potentielle Arbeitgeber abschrecken könnte.

III.

Die Anschlussberufung des Klägers ist begründet. Der Kläger kann gemäß § 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB für weitere sechs Monate von Mai bis Oktober 2020 Vergütung wegen Annahmeverzugs verlangen.

1. Die Voraussetzungen für eine Klageerweiterung in der Berufungsinstanz sind nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 533 ZPO erfüllt. Zwar hat die Beklagte der Klageerweiterung widersprochen, sie ist aber bei objektiver Betrachtung sachdienlich und auf Tatsachen gestützt, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin zugrunde zu legen hat.

2. Die Beklagte kam – wie oben ausgeführt – durch den Ausspruch der unwirksamen Kündigung vom 25.11.2019 in Annahmeverzug nach § 615 Satz 1 iVm. § 611a Abs. 2 BGB, ohne dass es eines Angebots des Klägers nach seiner Genesung ab dem 24.01.2020 bedurfte. Eine Beendigung des Annahmeverzugs ist auch in den Monaten von Mai 2020 bis einschließlich Oktober 2020 nicht eingetreten. Über die Höhe der vereinbarten Monatsvergütung von € 5.855,00 brutto streiten die Parteien nicht. Der Kläger lässt sich zutreffend das ihm gezahlte Arbeitslosengeld in unstreitiger Höhe von € 1.913,70 monatlich anrechnen, § 11 Satz 1 Nr. 3 KSchG. Die begehrten Verzugszinsen werden nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB geschuldet.

2. Eine Anrechnung nach § 11 Satz 1 Nr. 2 KSchG muss sich der Kläger nicht gefallen lassen.

a) Er hat es – wie oben (unter II 4 b) ausgeführt – nicht böswillig unterlassen, Verdienst zu erzielen, weil er eine anderweitige Anstellung als Bauleiter außerhalb des Arbeitsverhältnisses vorsätzlich verhindert hätte.

b) Der Kläger handelte auch nicht böswillig, weil er das Angebot der Beklagten vom 29.06.2020, das kurz nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erfolgte, auf eine befristete Prozessbeschäftigung ausschlug.

aa) Eine Anrechnung hypothetischen Verdienstes kommt zwar auch in Betracht, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit bei dem Arbeitgeber besteht, der sich mit der Annahme der Dienste des Arbeitnehmers in Verzug befindet. Bietet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die befristete Weiterbeschäftigung während des Kündigungsrechtsstreits zu den bisherigen Arbeitsbedingungen an, so hängt ihre Zumutbarkeit für den Arbeitnehmer in erster Linie von der Art der Kündigung und ihrer Begründung sowie dem Verhalten des Arbeitgebers im Kündigungsprozess ab. Wird eine Kündigung – wie hier – auf verhaltensbedingte Gründe gestützt, so spricht dieser Umstand eher für die Unzumutbarkeit der vorläufigen Weiterarbeit für den Arbeitnehmer im Betrieb. Auch Art und Schwere der gegenüber dem Arbeitnehmer erhobenen Vorwürfe können für ihn bereits die Unzumutbarkeit der Weiterarbeit begründen (vgl. BAG 07.11.2002 – 2 AZR 650/00 – Rn. 26 mwN). Erforderlich ist jedoch stets eine unter Bewertung der gesamten Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Interessenabwägung (vgl. BAG 23.02.2021 – 5 AZR 213/20 – Rn. 14 mwN).

bb) Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall führt zu dem Ergebnis, dass dem Kläger die von der Beklagten angebotene befristete Prozessbeschäftigung unzumutbar gewesen ist. Die Beklagte hat eine außerordentliche fristlose Kündigung erklärt und diese auf verhaltensbedingte Gründe gestützt. Die außerordentliche Kündigung beeinträchtigt regelmäßig das Ansehen des Arbeitnehmers. Zudem wurde die Kündigung damit begründet, dass sämtliche Arbeitskollegen nicht mehr mit dem Kläger zusammenarbeiten wollen. Sie sollen damit gedroht haben, ihre Arbeitsverhältnisse zu kündigen, falls der Kläger wieder beschäftigt werden sollte. Die Beklagte hat nicht behauptet, dass sie versucht habe, die anderen Arbeitnehmer von ihrer – überzogen wirkenden – Weigerung, weiter mit dem Kläger zusammenzuarbeiten, abzubringen. Unter diesen Umständen war dem Kläger die angebotene Prozessbeschäftigung unzumutbar.

IV.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind nach § 97 Abs. 1 ZPO von der Beklagten zu tragen. Hierzu gehören auch die Kosten der Anschlussberufung.

 

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