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Fristlose Kündigung wegen Pflichtverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 1 Sa 75/21 – Urteil vom 18.06.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein – Auswärtige Kammern Landau – vom 14.01.2021, Az. 5 Ca 204/19, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung der Beklagten vom 12.03.2019 und einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.10.2019 vom 14.03.2019.

Der am 19.04.1963 geborene, verheiratete Kläger, der seiner Ehefrau und einer minderjährigen Tochter zum Unterhalt verpflichtet ist, ist seit dem 27.01.1986 bei der Beklagten als Lagerarbeiter zu einer durchschnittlichen Bruttomonatsarbeitsvergütung in Höhe von 4.500,00 € auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 10.01.1986 (Bl. 5 ff. d. A.) beschäftigt. Kraft einzelvertraglicher Inbezugnahme in Ziffer 10 des Arbeitsvertrages findet auf das Arbeitsverhältnis u. a. der Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Rheinland-Pfalz Anwendung. Gemäß § 24 Nr. 2 des Manteltarifvertrages ist das Arbeitsverhältnis des Klägers ordentlich nicht mehr kündbar. Die Kündigungsfrist für eine ordentliche Kündigung beträgt nach § 24 Nr. 1 lit. g MTV 7 Monate zum Monatsende. Der Kläger ist schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 60. Die Beklagte beschäftigt am Standort C-Stadt ständig weitaus mehr als 10 Arbeitnehmer. Im Betrieb ist ein Betriebsrat gebildet. Es existiert eine Schwerbehindertenvertretung.

Der Kläger verunglückte 1983 bei einem Verkehrsunfall und erlitt u.a. ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.

Der Kläger war bei der Beklagten zunächst als Staplerfahrer eingesetzt. Unter dem 25.04.2017 und 17.11.2017 erteilte die Beklagte dem Kläger Abmahnungen wegen Verletzung der Anschnallpflicht. In dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein – Auswärtige Kammern Landau -, Az.: 8 Ca 577/18 schlossen die Parteien am 29.01.2019 einen Vergleich folgenden Wortlauts:

„1. Der Kläger erklärt ausdrücklich, er bekenne sich zu den Sicherheitsbestimmungen der Beklagten, insbesondere zu den Vorschriften über Anschnallen beim Gabelstaplerfahren und erklärt, dass die Abmahnungen vom 25.04.2017 und 07.11.2017 zu Recht erteilt wurden.

2. Die Beklagte verpflichtet sich, am 30.09.2019 die Abmahnungen vom 25.04.2017 und 07.11.2017 aus der Personalakte des Klägers zu entfernen, soweit keine weiteren einschlägigen Verletzungen dem Kläger unterlaufen.“

In der Folge wurde der Kläger an einen Einzelarbeitsplatz versetzt. Es handelt sich um einen Vorverpackungsarbeitsplatz für Kleinstmengen (Schnellverpacker).

Mit E-Mail vom 05.02.2019 teilte der Vorgesetzte des Klägers der Personalabteilung der Beklagten folgendes mit:

„Guten Morgen

Wie ich gestern vom BR E. erfahren habe ist am Freitag in der Rep-Satz Abteilung hat Herr F. die Mitarbeiterin G. verbal und massiv bedroht.

Ich war an diesem Tag nicht im Hause.“

Die genannte Mitarbeiterin, die polnischer Abstammung ist, hatte sich zuvor an ein Betriebsratsmitglied gewandt, da sie sich durch den Kläger gemobbt und bedroht fühlte.

Aufgrund dieser Mitteilung befragte die Beklagte am 07. und 08.02.2019 die genannte Mitarbeiterin, sowie die weiteren Mitarbeiter H., I., J., K. und L.. Hierzu verhalten sich die Gesprächsvermerke der Beklagten gem. Anlagen 1 bis 6 zum erstinstanzlichen Schriftsatz der Beklagten vom 15.10.2019 (Bl. 80 ff. d. A.). Am 11.02.2019 erfolgte eine Befragung des Klägers gem. Anlage 9 zum genannten Schriftsatz (Bl. 94 ff. d. A.). Aufgrund der durchgeführten Befragungen gelangte die Beklagte trotz Bestreiten der Vorwürfe durch den Kläger anlässlich seiner Anhörung zu der Überzeugung, dass der Kläger in der Vergangenheit Mitarbeiter beleidigt habe, u.a. mit folgenden Äußerungen:

  • „-„Wenn der Adolf (Hitler) noch leben würde, gäbe es dich nicht mehr“

  • -„Wäre unser Freund (gemeint war Adolf Hitler) noch da, wärt ihr nicht da.“

  • -„Dumme Polin.“

  • -„Die Mauer hätte ich höher gebaut“ / „Die Mauer ist nicht hoch genug gebaut worden.“

  • -„Scheiss Ossi“ / „Drecks Ostler“

  • -„Würde die Mauer noch stehen, wäre es viel besser, geh rüber Du Ossi.“

  • -„Der Drecksossi (Herr H.) gehört erschossen“

  • -„Die beiden da oben (Meister H. und der Meister M.) gehören einbetoniert.“

  • -„Ich versteh kein Ostdeutsch, mit mir musst Du pfälzisch reden!“

  • -„Der Drecks Ossi.“

  • -„Dich hätte ich schon längst entlassen.“

  • -„Die blöden Wichser im Büro sind unnötig.“

  • -„Wenn ich die auf dem Parkplatz erwische…“

  • -„Denen gehören die Zähne eingeboxt.“ (Der Kläger fletschte daraufhin die Zähne.)

  • -„Das ist ein Arschloch.“

  • -„Bist Du das wert?“

-…“

Mit Schreiben vom 13.02.2019 (Anlage 10 zum Schriftsatz der Beklagten vom 15.10.2019 (Bl. 103 ff. d.A.) hörte die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung zu einer beabsichtigten außerordentlichen firstlosen Kündigung sowie einer außerordentlichen Kündigung zum nächstmöglichen Termin unter Einhaltung einer ordentlichen Kündigungsfrist von 7 Monaten zum Monatsende entsprechenden Auslauffrist an. Die Schwerbehindertenvertretung gab keine Stellungnahme ab.

Mit Antrag vom 19.02.2019 (Anlage 11, Bl. 144 ff. d.A.) beantragte die Beklagte beim zuständigen Integrationsamt die Zustimmung zu den beabsichtigten Kündigungen. Dieses traf innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 SGB IX keine Entscheidung. Dies erfolgte vor dem Hintergrund, dass die Parteien im Rahmen einer Anhörung vor dem Integrationsamt eine Absprache trafen, deren Inhalt im Einzelnen zwischen Ihnen streitig ist.

Während nach Darstellung des Klägers seitens der Beklagten die Zusage gemacht wurde, auf die Rechte der auszusprechenden (streitgegenständlichen) Kündigungen zu verzichten, sofern sich der Kläger zur Vermeidung weiterer Auseinandersetzungen im Arbeitsverhältnis einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehe, fasste die Beklagte den aus ihrer Sicht bestehenden Inhalt der Absprache mit Schreiben vom 12.03.2019 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers (Bl. 544 f. d.A.) wie folgt zusammen:

„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt N.,

auf den Anhörungstermin mit dem Integrationsamt vom 28.02.2019 kommen wir zurück und nehmen darauf Bezug.

Wir hatten dort zugesagt, unter bestimmten Umständen die Kündigungserklärungen (außerordentlich fristlos sowie außerordentlich mit Auslauffrist) gegenüber Herrn F. zurückzunehmen.

Voraussetzung für die Rücknahme der jeweiligen Kündigungserklärung ist zunächst, dass Herr F.

  • jeweils fristgemäß Kündigungsschutzklage erhebt und
  • eine Ruhenserklärung gegenüber dem Arbeitsgericht bezogen auf das jeweilige arbeitsgerichtliche Verfahren vor der Durchführung des Gütetermins abgibt und
  • das/die Verfahren bis zum erfolgreichen Abschluss einer Therapie (dazu sogleich) von Herrn F. nicht wieder aufgerufen wird.

Herr F. legt uns bis spätestens 29.02.2020 (einschließlich) die von einem approbierten Arzt unterschriebene Bescheinigung des erfolgreichen Abschlusses einer geeigneten Therapie im Original vor. Diese Bescheinigung muss daneben eine explizite Aussage darüber enthalten, dass das von Herrn F. ausgehende Risiko für folgende Pflichtverletzungen usw. folgendes Fehlverhalten durch die Therapie erfolgreich behandelt wurde und nach ärztlichem Ermessen das jeweilige von Herrn F. ausgehende Risiko nunmehr dauerhaft nicht mehr höher ist, als bei einem durchschnittlichen Arbeitnehmer, mithin solches Fehlverhalten nach ärztlichem Ermessen nicht mehr vorkommen wird.

Damit meinen wir namentlich folgende Fehlverhaltensweisen, die im Attest ausdrücklich aufzuführen sind:

  • Beleidigungen gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern
  • Diskriminierende Äußerungen bezogen auf Abstammung, Herkunft und Nationalität, Religion und Weltanschauung gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern
  • fremdenfeindliche und rassistische Äußerungen gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern
  • Äußerungen mit nationalsozialistischem Hintergrund gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern
  • Bedrohungen von Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern
  • Respektlosigkeiten gegenüber Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern

…“

Mit Schreiben vom 06.03.2019 (Anlage 12 zum Schriftsatz der Beklagten vom 15.10.2019 (Bl. 187 ff. d.A.) hörte die Beklagte den Betriebsrat zu den beabsichtigten Kündigungen an. Mit Schreiben vom 26.02.2019 (Anlage 13, Bl. 236 ff. d.A.) erhob der Betriebsrat gegen die beabsichtigten Kündigungen „Bedenken/Widerspruch“.

Der Kläger legte der Beklagten eine Stellungnahme des Dipl.-Psych. O. vom 24.06.2019 (Bl. 27 f. d.A.) vor, bei welchem er sich seit dem 26.02.2019 in einer Kurzzeittherapie befand. Parallel erfolgte auch eine psychiatrische, medikamentöse Behandlung, worüber sich das fachärztliche Attest der Frau Dr. P.  vom 19.08.2019 verhält (Bl. 33 d.A.). Mit Schreiben vom 08.07.2019 teilte die Beklagte dem Prozessbevollmächtigen des Klägers mit (Bl. 24 d.A.), dass die Stellungnahme des behandelnden Diplom-Psychologen nicht die Voraussetzungen für eine Wiederanstellung gemäß den vereinbarten Anforderungen erfülle.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des unstreitigen Sachverhalts sowie des streitigen Vorbringens der Parteien I. Instanz wird im Übrigen Bezug genommen auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein – Auswärtige Kammern Landau – vom 14.01.2021, 5 Ca 204/19 (Bl. 463 ff. d.A.).

Soweit für das Berufungsverfahren von Interesse hat das Arbeitsgericht mit dem genannten Urteil festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 12.03.2019 und auch nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 14.03.2019 beendet worden ist. Ferner hat es die Beklagte verurteilt, den Kläger zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 28.11.2019 (Bl. 309 d.A.) durch Einholung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens des Dr. Q.. Hinsichtlich der Einzelheiten des Gutachtens wird auf das schriftliche Gutachten vom 24.06.2020 (Bl. 351 ff. d.A.) verwiesen. Unter Berücksichtigung des Gutachtens hat das Arbeitsgericht seine Entscheidung – zusammengefasst – wie folgt begründet:

Nach den sachverständigen Feststellungen sei der Kündigungssachverhalt dem Bereich der krankheitsbedingten Kündigung zuzuordnen. In Anwendung der für die soziale Rechtfertigung von Kündigungen aus Anlass von Krankheiten geltenden Kriterien nach § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz seien die Kündigungen sozial nicht gerechtfertigt. Der Sachverständige habe gerade nicht feststellen können, dass dem Kläger bei entsprechender ärztlicher Behandlung eine Negativprognose zu stellen sei. In der Annahme, es handele sich um einen verhaltensbedingten Vorwurf, habe die Beklagte überdies zu Unrecht angenommen, ein milderes Mittel als eine Beendigungskündigung habe nicht zur Verfügung gestanden, um den betrieblichen Beeinträchtigungen zu begegnen. Ihrer mangels Durchführung eines Präventionsverfahrens gemäß § 167 SGB IX erhöhten Darlegungslast im Hinblick auf alternative, leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten sei die Beklagte nicht nachgekommen.

Das genannte Urteil ist der Beklagten am 05.02.2021 zugestellt worden. Sie hat hiergegen mit einem am 02.03.2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 31.03.2021, beim Landesarbeitsgericht am gleichen Tag eingegangen, begründet.

Nach Maßgabe des genannten Schriftsatzes und des weiteren Schriftsatzes vom 08.06.2021, auf die wegen der Einzelheiten ergänzend Bezug genommen wird (Bl. 501 ff., 541 ff. d.A.), macht die Beklagte zur Begründung ihrer Berufung im Wesentlichen geltend:

Mit der Überprüfung der Kündigungen ausschließlich an den Kriterien krankheitsbedingter Kündigungen habe das Arbeitsgericht den rechtlichen Prüfungsmaßstab unzulässig eingeengt. Aus dem Sachverständigengutachten ergäbe sich nicht, warum der rechtsradikale Inhalt der Entgleisungen und Beleidigungen des Klägers im Zusammenhang mit seiner Erkrankung stehen sollen. Dieser Inhalt führe zu einem erhöhten Unrechtsgehalt bzw. zu einer als signifikant gravierenderen Pflichtverletzung im Verhältnis zu anderen denkbaren Beleidigungen. Es müsse daher von einem steuerbaren Verhalten ausgegangen werden. Grobe Beleidigungen sowie ausländerfeindliche oder rassistische Parolen, die in ihrer Beharrlichkeit eine ernste Störung des Betriebsfriedens, der betrieblichen Ordnung und des reibungslosen Betriebsablaufs verursachen, seien an sich für eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung geeignete Gründe.

Ferner sei zum Kündigungszeitpunkt davon auszugehen gewesen, dass der Kläger seine schwerwiegenden Vertragsverletzungen zukünftig fortsetzen würde. Aufgrund der Häufung der Fälle und dem Eingeständnis der leichten Reizbarkeit im Personalgespräch durch den Kläger, sei die Wiederholungsgefahr zum Kündigungszeitpunkt klar gegeben gewesen. Auch das Gutachten gehe von einer Wiederholungsgefahr aus und der Kläger leugne weiterhin die ihm vorgeworfenen Verfehlungen.

Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgesetzes erfordere eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung nicht zwingend auch ein Verschulden des Arbeitnehmers. Vielmehr sei unter besonderen Umständen eine fristlose Kündigung auch bei einem schuldlosen Verhalten gerechtfertigt. Eine Fortsetzung der Beeinträchtigung der betrieblichen Ordnung könne auch dann unzumutbar sein, wenn dem Arbeitnehmer seine Vertragspflichtverletzung nicht vorwerfbar sein sollte, da ein Arbeitgeber u.U. äußerst schnell hinreichende Maßnahmen ergreifen müsse, um ein weiteres Fehlverhalten, welches eine Weiterbeschäftigung unzumutbar mache, durch eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu unterbinden. Im Übrigen ergebe sich aus dem Gutachten, dass auch der Sachverständige nicht von einem Schuldausschluss i.S.d. § 20 StGB ausgehe und lediglich nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Kläger mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt habe.

Aber auch in Anwendung der für eine personen-/krankheitsbedingte Kündigung geltenden Maßstäbe erwiesen sich die Kündigungen als wirksam. So sei eine negative Zukunftsprognose gegeben. Auch wenn nach den Ausführungen des Sachverständigen die posttraumatische Persönlichkeitsveränderung durch eine Therapie im gewissen Sinne beeinflussbar und eine Risikoreduktion möglich sei, sei zu berücksichtigen, dass der Kläger schon lange Zeit in psychiatrischer Behandlung sei und es gleichwohl zu den Vorfällen gekommen sei. Erschwerend komme hinzu, dass der Kläger ausweislich der vom Gutachter geschilderten Vorgeschichte sich nicht auf eine Reha-Maßnahme im Dezember 2019 ausreichend eingelassen, sondern diese vielmehr abgebrochen habe. Auch unter Zugrundelegung der Ausführungen des Sachverständigen verblieben an der Behandlungsfähigkeit bzw. an den Erfolgsaussichten einer solchen Behandlung derartige Zweifel, dass der Beklagten gerade ein weiteres Abwarten nicht zuzumuten gewesen sei. Der Gutachter habe gerade keine Feststellungen dahingehend getroffen, dass künftige Störungen verhindert werden können. Vielmehr gehe auch das Gutachten von einer längeren Therapiebedürftigkeit aus, ebenso wie von zweifelhaften Erfolgsaussichten einer Therapie.

Ein Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX sei nicht notwendig gewesen. Die Pflichtverletzungen des Klägers hätten das Stadium von „Schwierigkeiten“ i.S.d. § 167 Abs. 1 SGB IX bei Weitem überschritten und den Grad von Kündigungsgründen erreicht, sodass ein Präventionsverfahren nicht mehr zur Verhinderung von Kündigungsgründen hätte beitragen können. Da es viele Arbeitnehmer unterschiedlicher Nationalitäten bzw. regionaler Hintergründe gäbe, existiere auch kein Arbeitsplatz, der so eingerichtet werden könne, dass der Kläger mit diesen Personengruppen nicht zusammentreffen würde.

Der im Zusammenhang mit der Anhörung vor dem Integrationsamt in Aussicht gestellte Kündigungsverzicht habe genau unter den Bedingungen gestanden, wie diese in ihrem Schreiben vom 12.03.2019 formuliert worden seien. Unzutreffend sei auch, dass der zuständige Mitarbeiter des Integrationsamtes ausschließlich unter Berücksichtigung dieser Zusage bereit gewesen wäre, die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen. Die im Schreiben genannten Bedingungen habe der Kläger nicht erfüllt.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein – Auswärtige Kammern Landau – vom 14.01.2021, Az. 5 Ca 204/19, abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe seines Berufungserwiderungsschriftsatzes vom 25.05.2021, auf den ergänzend Bezug genommen wird (Bl. 530 ff. d.A.), als zutreffend und macht im Wesentlichen geltenden:

Weder die Voraussetzungen für den Ausspruch einer verhaltensbedingten, noch für eine krankheitsbedingte Kündigung seien erfüllt. Dies habe das Arbeitsgericht zutreffend erkannt. Soweit die Beklagte in der Berufungsbegründung versuche, den Kläger als „rechtsradikal“ darzustellen, verwahre er sich hiergegen. Die Vorwürfe seien bereits in I. Instanz bestritten worden. Die Beklagte habe im Zuge des Verfahrens vor dem Integrationsamt die Zusage gemacht, auf die Rechte der auszusprechenden Kündigung zu verzichten, sofern sich der Kläger zur Vermeidung weiterer Auseinandersetzungen im Arbeitsverhältnis einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehe. Nur unter dieser Voraussetzung habe das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung erteilt. Erst später habe die Beklagte hinsichtlich dieser Zusage die Forderung erhoben, dass durch Vorlage des Schreibens eines Arztes bestätigt werde, dass weitere Beleidigungen durch den Kläger bei einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses künftig ausgeschlossen seien.

Durch die getroffene Absprache habe die Beklagte weiterhin zum Ausdruck gebracht, dass für sie eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht schlechterdings unzumutbar sei, sondern dessen Fortsetzung vorstellbar ist, sofern es künftig zu keinen weiteren Zwischenfällen und Auseinandersetzungen zwischen dem Kläger und den Übrigen Mitarbeitern komme.

Der Kläger habe sich entsprechend der Absprache verhalten und sich sowohl in die therapeutische Behandlung eines Psychologen begeben, um Verhaltensveränderungen und Strategien im Umgang mit Frustrationen zu entwickeln und zu trainieren. Ferner habe er sich auch psychiatrisch medikamentös behandeln lassen, um seine unfallbedingten psychischen Veränderungen in seinem Impulsverhalten und seiner Erregbarkeit auch medikamentös einzustellen. Die Beklagte sei daher bereits aus der unstreitig gemachten Zusage verpflichtet, auf die Rechte aus den Kündigungen zu verzichten und das Arbeitsverhältnis fortzusetzen.

Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Das Rechtsmittel ist an sich statthaft. Die Berufung wurde auch form- und fristgerechte eingelegt und begründet. Die Berufungsbegründung genügt auch inhaltlich den Anforderungen (§ 66 Abs. 1, § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO). Da der ausgeurteilte Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung rechtlich die Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigungen voraussetzt, genügt die Beklagte mit ihrer sich auf die Kündigungen beziehende Berufungsbegründung auch dem Erfordernis ausreichender Begründung in Bezug auf den Weiterbeschäftigungsanspruch.

II.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Die streitgegenständlichen Kündigungen der Beklagten vom 12.03.2019 und 14.03.2019 haben das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst. Daher besteht auch ein Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers. Dies hat das Arbeitsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt.

1.

Im rechtlichen Ausgangspunkt unzutreffend hat das Arbeitsgericht die Kündigungen der Beklagten unter dem Gesichtspunkt sozialer Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz geprüft. Dies ist unzutreffend, da eine Überprüfung anhand des Maßstabs sozialer Rechtfertigung nach § 1 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz nur bei ordentlichen Kündigungen in Betracht kommt. Maßstab der rechtlichen Überprüfung einer außerordentlichen Kündigung ist § 626 BGB und die hierzu entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze.

2.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Dienstverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

Danach ist zu prüfen, ob der jeweilige Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typsicherweise als wichtiger Grund. geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (vgl. etwa BAG 25.01.2018 – 2 AZR 382/17 – Rz. 26; 14.12.2017 – 2 AZR 86/17 – Rz. 27, juris).

Eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist kommt in Betracht, wenn der wichtige Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB darin liegt, dass die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gerade daraus folgt, dass der Arbeitgeber wegen des tariflichen Ausschlusses der ordentlichen Kündigung gezwungen wäre, das Arbeitsverhältnis nicht nur bis zum Ablauf der jeweiligen Kündigungsfrist fortzusetzen, sondern ggf. für Jahre an dem belasteten Arbeitsverhältnis festhalten müsste. Kann sich danach bei der Prüfung der Frage, ob ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vorliegt, die tarifliche Unkündbarkeit auch zu Lasten des Arbeitnehmers auswirken, so ist auf der Rechtsfolgenseite zur Vermeidung eines Widerspruches dem tariflichen besonders geschützten Arbeitnehmer, wenn bei unterstellter Kündbarkeit nur eine fristgerechte Kündigung zulässig wäre, eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist einzuräumen (vgl. etwa BAG 20.03.2014 – 2 AZR 288/13 – Rz. 28; 15.11.2001 – 2 AZR 605/00 – Rz. 20, 21, juris).

3.

Es kann vorliegend dahinstehen, ob der Kläger die von der Beklagten behaupteten, im erstinstanzlichen Schriftsatz vom 25.10.2019 im Einzelnen dargestellten und unter Beweis gestellten Äußerungen gegenüber Mitarbeitern der Beklagten getätigt hat oder nicht, da selbst dann, wenn dies zugunsten der Beklagten unterstellt wird, aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine außerordentliche Kündigung ausscheidet.

a)

Zutreffend ist zunächst, dass als an sich geeigneter wichtiger Grund insbesondere eine schuldhafte Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten, auch von Nebenpflichten in Betracht kommt. Zu diesen zählt es auch, Beleidigungen und herabsetzende Äußerungen gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten zu unterlassen. Dies ist allgemein anerkannt (vgl. etwa BAG 10.10.2002 – 2 AZR 418/01 -; LAG Rheinland-Pfalz 26.04.2006 – 10 Sa 30/06 -, juris). Als an sich zur Kündigung geeigneter wichtiger Grund können unter besonderen Umständen ausnahmsweise auch schuldlose Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers in Betracht kommen, etwa dann, wenn ein Arbeitnehmer durch sein (ggf. schuldloses) Fehlverhalten die Sicherheit des Betriebes gefährdet, oder durch fortlaufende Tätlichkeiten, schwerste Beleidigungen etc., schwerwiegend die betriebliche Ordnung stört, so dass der Arbeitgeber unter Umständen äußerst schnell hinreichende Maßnahmen ergreifen muss, um ein weiteres derartiges Fehlverhalten, dass eine Weiterbeschäftigung unzumutbar macht, durch eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnis zu unterbinden (vgl. BAG 21.01.1999 – 2 AZR 665/98 – Rz. 17 ff.).

Auch eine Erkrankung des Arbeitnehmers, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führt, kann ein an sich geeigneter Grund einer außerordentlichen Kündigung sein (vgl. etwa KR-Kündigungsschutzgesetz/Fischermeier, § 626 BGB, Rz. 139 mwN).

b)

Ausgehend vom Sachvortrag der Beklagten hätte der Kläger durch die von der Beklagten behaupteten Äußerungen gegenüber Mitarbeitern arbeitsvertragliche Pflichten wiederholt verletzt. Die von der Beklagten behaupteten Äußerungen des Klägers stellen massive Ehrverletzungen dar und setzen die in den Äußerungen angesprochenen Personen zum Teil allein aufgrund deren Herkunft oder sonstiger persönlicher, nicht abänderbarer und Merkmalsträger nicht beeinflussbarer Eigenschaften in ihrer personalen Würde herab. Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme in Form des eingeholten Sachverständigengutachtens geht das Gericht ferner davon aus, dass der Kläger – sofern die Behauptungen der Beklagten zuträfen – auch schuldhaft gehandelt hatte, allerdings mit einem deutlich herabgesetzten Verschuldensgrad. Der Sachverständige hat unter vollständiger und sorgfältiger Auswertung nicht nur der persönlichen Untersuchung, sondern auch der zur Verfügung stehenden Vorberichte ausgeführt, dass der Kläger als Folge des 1983 erlittenen Verkehrsunfalls u. a. an einer organischen Persönlichkeitsstörung leidet, die sich u.a. in reduzierter Hemmung beim Nachgeben gegenüber Impulsen, im Handeln ohne ausreichende Berücksichtigung der Konsequenzen, im Missachten sozialer Konventionen, in emotionaler Labilität und Reizbarkeit sowie zumindest zeitweise in depressivem Affekt mit Pessimismus und Perspektivlosigkeit äußert. Die dem Kläger vorgeworfenen Verfehlungen seien für eine organisch bedingte Persönlichkeitsveränderung nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma symptomatisch. Ebenso hat der Sachverständige allerdings ausgeführt, dass mit keiner der von ihm festgestellten Diagnosen sich eine aufgehobene Steuerungs- oder Einsichtsfähigkeit begründen lässt. Nicht ausschließen konnte der Sachverständige hingegen, dass das beim Kläger festgestellte Störungsbild geeignet ist, in Situationen mit emotionaler Aufheizung durch Wut oder Ärger im Vergleich zu einem nicht von dieser Störung betroffenen Menschen die Hemmmechanismen soweit zu stören, dass die Schwelle zu einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit überschritten sein konnte.

c)

Ausgehend hiervon und unter Berücksichtigung der geltenden Verteilung der Darlegungs- und Beweislast ergibt sich für das Gericht, dass das dem Kläger vorgeworfene Verhalten – die Richtigkeit der Behauptungen der Beklagten unterstellt – steuerbar und damit vorwerfbar war, allerdings mit einem deutlich herabgesetztem Verschuldensgrad verminderter Schuldfähigkeit.

Eine Pflichtverletzung ist vorwerfbar, wenn der Arbeitnehmer die zur Grunde liegende Handlungsweise steuern konnte. Ein Verhalten ist steuerbar, wenn es vom Willen des Arbeitnehmers beeinflusst werden kann. Dies ist nicht der Fall, wenn dem Arbeitnehmer die Pflichterfüllung aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen subjektiv nicht möglich ist. Will der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess geltend machen, er sei aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen gehindert gewesen, seine Pflichten ordnungsgemäß zu erfüllen, muss er diese Gründe genau angeben. Dann trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast auch dafür, dass solche Tatsachen nicht vorgelegen haben, die das Verhalten des Arbeitnehmers gerechtfertigt oder entschuldigt erscheinen lassen (vgl. für den Bereich der ordentlichen Kündigung etwa BAG 03.11.2011 – 2 AZR 748/10 – Rz. 22, 23, juris). Vorliegend hatte sich der Kläger unabhängig davon, dass er die erhobenen Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht bestritten hat, auch auf die Folgen des erlittenen Schädel-Hirn-Traumas, namentlich eine hierdurch herabgesetzte Fähigkeit, impulsiv auftretende Gefühle zu beherrschen, berufen. Die Beklagte hatte daraufhin nach Erlass des erstinstanzlichen Beweisbeschlusses ihrerseits mit Schriftsatz vom 17.12.2019 die Beantwortung weiterer Fragen durch den Sachverständigen angeregt. Das Arbeitsgericht hat dies aufgegriffen und den Sachverständigem im Rahmen der Leitung von dessen Tätigkeit (§ 404a ZPO) aufgefordert, auch zu diesen Fragen Stellung zu nehmen (vgl. das Schreiben des Arbeitsgerichts vom 30.01.2020, Bl. 339 f. d.A.). Unter anderem hatte die Beklagte die Frage formuliert, ob ggf. festgestellte Erkrankungen dazu führen, dass die Steuerungsfähigkeit des Klägers im Hinblick auf die erhobenen Vorwürfe auszuschließen ist. Wie sich aus den wiedergegebenen Äußerungen des Sachverständigen ergibt, ist der Beklagten der Beweis, dass der Kläger die behaupteten Verfehlungen in voller Schuldfähigkeit begangen hat, bzw. ein Verschulden nicht durch krankheitsbedingte Ursachen herabgesetzt war, nicht gelungen.

Wenn – bei Unterstellung des Sachvortrags der Beklagten als richtig – damit zwar ein an sich zur Kündigung berechtigender Grund vorliegt, führt die weiter vorzunehmende Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorliegend dazu, dass das Interesse des Klägers an einer Weiterbeschäftigung das Beendigungsinteresse der Beklagten überwiegt.

d)

Liegt ein an sich zur Kündigung berechtigender Grund vor, hat eine Bewertung des Einzelfalles unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemesseneren Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein schonenderes Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung oder Versetzung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck der Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses zu erreichen. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf einem steuerbaren Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst dessen erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rz. 29, 30, juris).

Die dem Kläger zur Last gelegten Pflichtverstöße wiegen schwer. Sofern die Behauptungen der Beklagten zuträfen, hätte der Kläger mehrfach durch seine Äußerungen den betrieblichen Frieden erheblich gestört und massiv gegen die sich aus § 75 Abs. 1 Betriebsverfassungsgesetz ergebenden Grundsätze für die Behandlung von Betriebsangehörigen verstoßen. Allerdings kann dem Kläger – wie bereits ausgeführt – nur ein geringer Grad des Verschuldens zur Last gelegt werden, da davon auszugehen ist, dass die ihm zur Last gelegten Verhaltensweisen – wenn sie denn vorlagen – maßgeblich auch Folge der organischen Persönlichkeitsveränderung infolge des Schädel-Hirn-Traumas und in deren Folge durch eine reduzierte Hemmung beim Nachgeben gegenüber Impulsen, herabgesetzten Hemmmechanismen und herabgesetzter Kritikfähigkeit bedingt waren. Ebenfalls zugunsten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass das Arbeitsverhältnis bis zum Jahre 2016, mithin nahezu dreißig Jahre, störungsfrei verlief, der Kläger zwei Personen zum Unterhalt verpflichtet ist und angesichts seines Alters und der bestehenden Schwerbehinderung die Chancen, eine anderweitige Beschäftigung zu finden, eher als gering einzuschätzen sind.

Einschlägige Abmahnungen liegen bislang nicht vor. Die Abmahnungen, die Gegenstand des im Tatbestand zitierten gerichtlichen Vergleichs waren, sind nicht einschlägig, sondern bezogen sich auf die Nichteinhaltung von Sicherheitsbestimmungen beim Staplerfahren, mithin auf Pflichtverletzungen, die mit einem impulsiven Verhalten nichts zu tun haben und sich nicht auf andere Mitarbeiter auswirkten. Der Schwerpunkt, der nunmehr von der Beklagten erhobenen Vorwürfe liegt darauf, dass der Kläger unbeherrscht und herabsetzend auf Situationen reagiert. Aus Sicht der Berufungskammer ist eine Abmahnung geeignet, eine Verhaltensänderung des Klägers zu bewirken. Ungeachtet dessen, dass nach den Bekundungen des Sachverständigen und nach eigener Einschätzung des Klägers eine herabgesetzte Kritikfähigkeit und herabgesetzte Hemmmechanismen bestehen, kann der Kläger dies nach den Bekundungen des Sachverständigen und auch nach Einschätzung des ihn behandelnden Psychotherapeuten durch begleitende psychotherapeutische Maßnahmen ggf. kombiniert mit einer medikamentösen Behandlung beeinflussen. Eine Verhaltensänderung infolge einer diesbezüglichen Abmahnung erscheint daher als möglich. Der Beklagten ist es auch nicht unzumutbar, auf eine Abmahnung zurückzugreifen. Gegenüber den weiteren Mitarbeitern verdeutlicht sie auch hierdurch, dass sie nicht willens ist, Beleidigungen, Herabsetzungen oder Diskriminierungen von Beschäftigten durch den Kläger hinzunehmen. Die besonderen Umstände, namentlich, dass die behaupteten Äußerungen maßgeblich mit durch eine krankheitsbedingte Herabsetzung der Hemmmechanismen bedingt waren, lassen sich den Betroffenen gegenüber kommunizieren.

Die Voraussetzungen, unter denen eine Abmahnung entbehrlich ist, liegen nicht vor. Es war nicht ex ante erkennbar, dass eine Verhaltensänderung auch in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten stand. Unter Berücksichtigung der objektiven Sachlage waren die behaupteten Äußerungen des Klägers maßgeblich durch eine krankheitsbedingte Herabsetzung der Hemmmechanismen und der Impulssteuerbarkeit aufgrund der organischen Erkrankung beeinflusst und deren symptomatischer Ausdruck. Die Pflichtverletzungen lassen damit nicht auf einen entsprechenden Willen schließen, Pflichten hartnäckig nicht erfüllen zu wollen oder diese nicht ernst zu nehmen. Sowohl nach der Einschätzung des Sachverständigen, als auch des behandelnden Psychotherapeuten sind die symptomatischen Verhaltensweisen therapeutischen Maßnahmen zugänglich und eine verbesserte Kritikfähigkeit und die Stärkung von Hemmmechanismen durchaus zu erwarten. Der Kläger war auch therapiebereit.

Bei den von der Beklagten behaupteten Pflichtverletzungen handelt es sich auch nicht um so schwerwiegende, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Angesichts der krankheitsbedingt deutlich herabgesetzten Steuerbarkeit und der zugleich bestehenden Möglichkeit, nach Kenntnis der kausalen Zusammenhänge mit therapeutischen Mitteln und entsprechender Unterstützung bei gleichzeitig bestehender Behandlungswilligkeit mit der realistischen Möglichkeit einer Verhaltensänderung entgegen zu wirken, ist nach objektiven Maßstäben die erstmalige Hinnahme bei einem langjährig beschäftigten Arbeitnehmer nicht ausgeschlossen.

4.

Auch die Tatsache der Erkrankung selbst rechtfertigt die streitgegenständlichen Kündigungen nicht.

Ebenso wie im Falle der ordentlichen Kündigung ist hier Voraussetzung, dass eine negative Zukunftsprognose besteht, d. h., die Prognose gerechtfertigt ist, dass der gesundheitswidrige Zustand auch in Zukunft zu einer nicht zumutbaren Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen wird. Auch im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB trägt die Darlegungs- und Beweislast hierfür – nach entsprechender Mitwirkung des Arbeitnehmers etwa in Form der Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht – der Arbeitgeber. Ebenso wie eine ordentliche Kündigung ist auch eine außerordentliche Kündigung dann unwirksam, wenn sich die negative Zukunftsprognose nicht bestätigt, also Zweifel hieran verbleiben, d. h., die Prognose erschüttert wird. Es ist hingegen nicht Sache des Arbeitnehmers zu beweisen, dass eine positive Zukunftsprognose besteht.

Eine negative Zukunftsprognose ist nicht gerechtfertigt. Der Sachverständige hat nicht bestätigt, dass therapeutische Maßnahmen aussichtslos oder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgversprechend sein werden, sondern hält im Gegenteil eine therapeutische Beeinflussung des Impulsivverhaltens insoweit in Übereinstimmung mit dem behandelnden Psychotherapeuten für möglich. Der Kläger seinerseits war auch therapiebereit. Nachdem die behaupteten Pflichtverletzungen – wie ausgeführt – eine außerordentliche Kündigung nicht rechtfertigen, ist die Beklagte insoweit auch zur Mitwirkung an Präventionsmaßnahmen i.S.d. § 167 Abs. 1 SGB IX verpflichtet.

Die weiteren Gesichtspunkte, die die Beklagte wiederholend auch im Berufungsverfahren (S. 9 bis 11 des Schriftsatzes vom 31.03.2021, Bl. 509 bis 511 d.A.) für das Bestehen einer negativen Zukunftsprognose anführt, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Diese sind ggf. geeignet, Zweifel daran zu begründen, ob therapeutische Maßnahmen Erfolg tragen werden, schließen diese Möglichkeit aber nicht aus.

5.

Da der Kläger somit mit seinen Kündigungsschutzanträgen auch zweitinstanzlich obsiegt, besteht bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzrechtstreits auch ein Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Ein Revisionszulassungsgrund i.S.d. § 472 Abs. 2 ArbGG besteht nicht.

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