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Fristlose Kündigung wegen Sorgfaltspflichtverletzung

ArbG Bonn – Az.: 3 Ca 294/17 – Urteil vom 22.06.2017

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

3. Streitwert: 9.360,00 EUR.

4. Eine gesonderte Zulassung der Berufung gem. § 64 Abs. 3 ArbGG erfolgt nicht.

Tatbestand

Der Kläger seit dem 1. September 2011 als Busfahrer beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden und kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 3. Februar 2017, dem Kläger zugegangen am gleichen Tag, außerordentlich und ohne Einhaltung einer Frist und berief sich bei der Kündigung ausdrücklich auf eine Tat- und Verdachtskündigung.

Der Kläger war zum Zeitpunkt der Kündigung 58 Jahre alt, verheiratet und zwei Kindern unterhaltsverpflichtet.

Die Beklagte beruft sich zur Begründung der Kündigung auf einen Unfall vom 17. Januar 2017. An diesem Tag hielt der Kläger an einer Haltestelle, um Fahrgäste des von ihm geführten Busses ein- und aussteigen zu lassen. Ein Fahrgast hielt dabei einer herbeieilenden Frau die Türe auf, so dass der Kläger die Tür nicht schließen konnte. Als die Frau den Bus erreicht hatte und eingestiegen war, hielt sie wiederum ihrem nachfolgenden Neffen die Tür auf, damit dieser ebenfalls den Bus erreichen konnte. Zu einem Zeitpunkt, in dem die eingestiegene Frau noch in unmittelbarer Nähe der geöffneten Tür stand, fuhr der Bus kurzzeitig an und die Frau stürzte aus dem Bus und fiel auf den Bürgersteig an der Haltestelle. Nach einer kurzen zurückgelegten Strecke hielt der Kläger den Bus wieder an und kümmerte sich um die verunfallte Frau.

Die Beklagte geht dabei davon aus, dass der Kläger entweder im Ärger über die offen gehaltene Tür absichtlich oder unter grober Missachtung aller Sicherheitseinrichtungen fahrlässig losgefahren sei.

Der von dem Kläger geführte Bus war mit mehreren Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet, die ein Anfahren bei geöffneten Türen verhindern sollen. Die Schalter, mit denen die Türen geöffnet und geschlossen werden, sind rot beleuchtet, wenn die Türen des Busses offen stehen. Ein Display im Cockpit des Busses zeigt offene Türen schwarz auf weißem Hintergrund an, während diese bei geschlossenem Zustand ebenfalls weiß angezeigt werden. Der Bus ist mit Außen- und Innenspiegeln ausgestattet, mit denen der Fahrer die Türbereiche kontrollieren kann. Außerdem ist der Bus mit Kameras und einem Monitor für den Fahrer ausgestattet, die ebenfalls die Kontrolle der Türbereiche ermöglichen. Letztlich war der Bus mit einer sogenannten Haltestellenbremse ausgestattet, die bei geöffneten Türen ohne weiteres Zutun des Fahrers ein Anfahren des Busses sowohl im Leerlauf als auch bei Betätigung des Gaspedals verhindern soll.

Der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat ist am 31. Januar 2017 zu der von der Beklagten beabsichtigten Kündigung angehört worden. Zum Inhalt der schriftlichen Betriebsratsanhörung wird auf die Anl. B1 (Bl. 29 ff.) verwiesen. Der Betriebsrat hatte zu der Kündigung keine Stellung genommen.

Nach dem Vorfall sind bei der Beklagten Störungsmeldungen über Defekte im Türbereich aus verschiedenen Bussen eingegangen. Mit Schreiben vom31. Januar 2017 wandte sich der bei der Beklagten bestehende Betriebsrat mit Fragen zur Technik für das unbeabsichtigte Losfahren bei offener Tür an die Beklagte.

Der Kläger hat vorgetragen, dass er sich das Losfahren des Busses nicht erklären könne. Keinesfalls sei er absichtlich losgefahren. Vielmehr habe er feststellen müssen, dass der Bus sich selbstständig in Bewegung gesetzt hatte. Er habe dann sofort gebremst und sich um die gestürzte Frau gekümmert.

Der Kläger geht dabei von einem technischen Defekt des Busses aus. Er verweist darauf, dass in der Zeit von Januar bis Mai 2007 in mindestens 14 Fällen technische Störungen von den Busfahrern gemeldet worden seien. Falls der Fehlerspeicher des Busses ausgelesen worden sei, bleibe dieser bei der sogenannten Abrüstung des Busses völlig stromlos und werde nicht durch eigene separate und permanente Stromzufuhr versorgt.

Der Kläger ist überdies der Auffassung, dass der Sturz der Frau nicht auf das Anfahren des Busses sondern aufgrund deren Versuches, wieder aus dem Bus auszusteigen, verursacht worden sei.

Überdies ist der Kläger der Auffassung, dass eine Interessenabwägung die Kündigung unwirksam mache. Es habe vor dem Vorfall keine Fahrgastbeschwerde über den Kläger gegeben.

Der Kläger beantragt: Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch Tat- noch durch Verdachtskündigung vom 3. Februar 2017 beendet wurde

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie behauptet zunächst, dass sowohl eine technische Untersuchung des Busses als auch die Auslösung des Fehlerspeichers am 19. Januar 2017 keine technischen Mängel aufgezeigt hätten. Das Auslesen der Tachoscheibe habe vielmehr ergeben, dass der Bus vor dem Abbremsen auf 28 km/h beschleunigt worden sei. Ein Rollen im Standgas ergebe maximal eine Geschwindigkeit von7 km/h.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass der Kläger aufgrund seiner erheblichen Pflichtverletzung entweder vorsätzlich oder fahrlässig entgegen aller Sorgfaltspflichten bei dem Anfahren des Busses mit geöffneter Tür verstoßen habe. Nach ihrer Ermittlung sei es ausgeschlossen, dass ein technischer Defekt für das Losfahren des Fahrzeugs verantwortlich sei. Vielmehr liege es nahe, dass der Kläger die Haltestellenbremse manuell gelöst habe oder fahrlässig ohne Beachtung der geöffneten Türen von der Haltestelle angefahren sei.

Die Beklagte beruft sich für ihre Behauptungen auf die Aufzeichnung der im Bus befindlichen Kameras, die im Termin am 22. Juni 2017 unter Beteiligung aller Prozessbeteiligten in Augenschein genommen wurden.

Hinsichtlich des weiteren Sach -und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die Sitzungsprotokolle verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die von der Beklagten am 3. Februar 2017 ausgesprochene Kündigung ist aufgrund eines wichtigen Grundes § 626 Abs. 1 BGB wirksam und beendet das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Frist.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zur Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht. Dabei hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Es lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind.

Einer Abmahnung bedarf es in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten ist, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. (vgl. BAG, 19. April 2012, 2 AZR 258/11; Juris).

1. Das Verhalten des Klägers im Zusammenhang mit dem Unfall vom 17. Januar 2017 ist „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund gemäß § 626 BGB darzustellen.

Dabei geht die Kammer nach der Inaugenscheinnahme der Kameraaufzeichnungen aus dem Bus davon aus, dass der Kläger bewusst und aktiv bei geöffneter Tür von der Haltestelle angefahren ist, den Bus beschleunigt hat und erst nach dem Bemerken des Unfalls wieder angehalten hat.

Dies ergibt sich zunächst aus den Bewegungen der hinter dem Kläger sitzenden Fahrgäste. Bei diesen ist zum Zeitpunkt des Anfahrens des Busses eine eindeutige Bewegung der Körper und insbesondere der Köpfe zu bemerken, die jedenfalls auf eine merkliche Beschleunigung des Busses zurückzuführen sind. Sie wären nicht erklärlich, wenn der Bus im Leerlauf und Automatikbetrieb nur sanft angefahren wäre. Ein selbsttätiges Losrollen des Busses entsprechend der Darstellung des Klägers ist nach den Kameraaufzeichnungen auch schon deswegen ausgeschlossen, da eine deutliche Lenkbewegung des Busses weg vom rechten Fahrbahnrand in Richtung Fahrbahnmitte zu beobachten ist. Eine solche Lenkbewegung ist ebenfalls ausgeschlossen bei einem selbsttätigen Anfahren des Busses ohne Mitwirkung des Fahrers. Außerdem erscheint der Kammer die Dauer der Fahrbewegung des Busses zwischen dem Anfahren und dem wieder Anhalten von 6 Sekunden als zu lang, um eine Reaktion des Klägers auf ein unbeabsichtigtes Losrollen des Busses erklären zu können.

Aufgrund dieser Feststellungen geht die Kammer davon aus, dass der Kläger aktiv von der Bushaltestelle angefahren ist, obwohl die Tür geöffnet war, in der die gerade eingestiegene und später verunfallte Frau stand.

Nicht festgestellt werden konnte, ob der Kläger hierfür die Haltestellenbremse aktiv gelöst hatte, diese zuvor durch Dritte gelöst worden war oder technisch defekt war.

Dies spielt aber bei der Betrachtung des Verhaltens des Klägers allenfalls eine nachgeordnete Rolle. Aufgrund der umfangreichen Sicherungsmaßnahmen und der mit einem Losfahren bei geöffneter Tür verbundenen erheblichen Gefahr für die im Bus befindlichen Fahrgäste musste der Kläger eine besondere Sorgfaltspflicht anwenden, wenn er von einer Haltestelle nach einem Öffnen der Türen wieder los fuhr. Diese besonderen Sorgfaltspflichten hat der Kläger verletzt. Er hat weder die Türschalter noch das Display betrachtet, die beide ihm signalisieren mussten, dass die Tür noch geöffnet war. Er hat auch offensichtlich weder im Spiegel noch über den Monitor und die damit verbundenen Kameras kontrolliert, ob die Türen bereits geschlossen waren, bevor er von der Haltestelle los fährt.

Diese erhebliche Verletzung der ihm gebotenen Sorgfalt ist angesichts der erheblichen Gefahren für die Gesundheit der betroffenen Fahrgäste als Kündigungsgrund „an sich“ im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB anzusehen.

2. Auch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile kann der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden.

Dabei war vorliegend zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger in ganz erheblichem Maße gegen seine Sorgfaltspflichten beim Anfahren von einer Haltestelle verstoßen hat. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Bus mit umfangreichen Vorkehrungen versehen war, die genau das Losfahren bei geöffneter Tür verhindern sollen. Weiter war zu berücksichtigen, dass die Sicherheit der Fahrgäste für die Beklagte und deren C. allerhöchste Priorität hat und Unfälle mit Fahrgästen im Betrieb der Beklagten von besonderem öffentlichem Interesse und unter besonderer öffentlicher Beobachtung stehen. Die Beklagte ist in besonderem Maße darauf angewiesen, dass die von ihr eingesetzte Technik und die von ihr beschäftigten Fahrer Unfälle vermeiden und die Fahrer dabei die höchstmögliche Sorgfalt aufwenden.

Demgegenüber ist auf der Seite des Klägers nur eine nicht sehr lange Dauer der Beschäftigung und ein beanstandungsfreies Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen.

Die Abwägung dieser beiden wechselseitigen Interessen führt nach Auffassung der Kammer zu dem Ergebnis, dass der Beklagten die Beschäftigung des Klägers auch bis zum Erreichen der Kündigungsfrist nicht zumutbar ist.

3. Die Beklagte hätte auch nicht vorrangig eine Abmahnung aussprechen müssen, da für den Kläger erkennbar gewesen ist, dass eine Hinnahme durch die Beklagte eines solchen sorgfaltswidrigen Verhaltens nicht hinnehmbar gewesen ist. Jeder C. der Beklagten weiß um seine Sorgfaltspflichten zur Verhinderung von Unfällen bei der Beförderung von Fahrgästen. Der Kläger musste damit rechnen, dass die Beklagte solch erhebliche Sorgfaltspflichtverletzungen, insbesondere bei dem Anfahren an Haltestellen, nicht hinnehmen kann.

Nach alledem stellt sich die von der Beklagten am 3. Februar 2017 ausgesprochene außerordentliche Kündigung als wirksam im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB dar und beendet das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Frist.

Daher war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Der Streitwert wurde bestimmt gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG i.V.m. § 42 Abs. 2 S. 1 GKG.

Für eine gesonderte Zulassung der Berufung gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG besteht aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls keine Veranlassung.

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