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Fristlose personenbedingte Kündigung bei häufigen Erkrankungen eines Betriebsratsmitglieds

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 8 Sa 200/21 – Urteil vom 30.11.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 09.06.2021, Az. 11 Ca 212/21, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.

Der im Jahr 1955 geborene Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Er ist seit dem Jahr 1979 bei der Beklagten beziehungsweise bei deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Er ist seit 2006 ununterbrochen Mitglied des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats, bereits in den 80er und 90er Jahren war er ebenfalls Betriebsratsmitglied.

In den Jahren 2013 bis 2017 war der Kläger im Schnitt an etwa 30 Arbeitstagen pro Jahr arbeitsunfähig erkrankt. Arbeitsunfähigkeitsursachen in diesen Jahren waren depressive Episoden, Anpassungsstörungen, sowie auch eine Gastroenteritis/ Kolitis und eine Sinusitis.

Im Jahr 2018 fehlte der Kläger 118 Arbeitstagen krankheitsbedingt (Sinusitis in März und Oktober, Dermatitis im Juli/ August, schwere depressive Episode im April, Juni und August bis Dezember), wobei die Beklagte für 88 Tage Entgeltfortzahlung zahlte, insgesamt in Höhe von 18.387,84 EUR.

Im Jahr 2019 fehlte er krankheitsbedingt an 202 Tagen (Varizen/ Venöse Insuffizienz im März/ April, Gastroenteritis Ende August, im Übrigen Phobische Störungen/ Soziale Phobien / depressive Episoden), hiervon 172 Tage mit Entgeltfortzahlung. Die Beklagte zahlte in diesem Jahr 36.587,84 EUR als Entgeltfortzahlung.

2020 (bis zum Stichtag 04.12.2020) fehlte der Kläger an 207 Tagen (Dermatitis im September, im Übrigen depressive Episoden/ Anpassungsstörungen), davon 120 Tage mit Entgeltfortzahlung, die Beklagte zahlte hier einen Gesamtbetrag von 25.526,40 EUR als Entgeltfortzahlung.

Mit Schreiben vom 07.08.2018, vom 13.03.2019 und vom 02.12.2019 sowie erneut vom 26.08.2020 lud die Beklagte den Kläger zu Gesprächen im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) ein. Der Kläger erklärte hierauf seine grundsätzliche Bereitschaft zur Teilnahme an einem BEM. Er schränkte jedoch in seiner E-Mail vom 17.08.2018 die Bereitschaft insofern ein, dass er ein Gespräch über das BEM erst „nach Überwindung seiner momentanen Arbeitsunfähigkeit“ führen wolle. Am 29.04.2019 teilte er mit, er wolle zunächst eine fachärztliche Untersuchung abwarten. Am 14.01.2021 teilte er mit, er könne den ursprünglich für den Folgetag avisierten BEM-Gesprächstermin vorläufig wegen fortlaufender Arbeitsunfähigkeit nicht wahrnehmen. Zuletzt legte er ein Attest vom 05.10.2020 vor, laut dem ihm von der Teilnahme am BEM – wegen der mentalen Belastung- ärztlich abgeraten wird.

Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Anhörungsbogen vom 16.11.2020 zu einer von der Beklagten beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist an, der Betriebsrat stimmte der Kündigung am 07.01.2021 zu. Das Integrationsamt stimmte am 28.12.2020 der beabsichtigten Kündigung zu. Eine Schwerbehindertenvertretung ist bei der Beklagten nicht gewählt.

Am 08.01.2020 sprach die Beklagte eine außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.08.2021 aus.

Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, er halte die ausgesprochene Kündigung für unwirksam. Diese folge bereits daraus, dass das Bundesarbeitsgericht war zwar bei tarifvertraglichen Regelungen zu besonderem Kündigungsschutz die Möglichkeit einer krankheitsbedingten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist nicht grundsätzlich abgelehnt habe. Eine solche Kündigungsmöglichkeit sei demgegenüber in Fällen, in denen der Kündigungsschutz -wie hier- aus dem Gesetz folge, nicht denkbar. Die Erkrankung des Klägers sei aufgrund der Konfliktsituation im Arbeitsverhältnis entstanden. Es bestehe eine positive Gesundheitsprognose nach Aussage seiner behandelnden Ärzte. Die Erkrankungen, die in den vergangenen Jahren zur Arbeitsunfähigkeit geführt hatten, seien seit Dezember 2020 vollständig ausgeheilt.

Erstinstanzlich hat der Kläger zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 08.01.2021 nicht beendet worden ist,

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Abteilungsleiter Qualitätssicherung weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Hierzu hat sie erstinstanzlich vorgetragen, es liege ein gravierendes Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Arbeitslohn vor. Die Entgeltfortzahlungskosten stellten eine nicht mehr hinnehmbare Belastung der Beklagten dar, auch seien die Einsätze des Klägers aufgrund des häufigen Fehlens schwer zu planen. Die Durchführung eines BEM sei durch die Ablehnungen des Klägers unmöglich gemacht worden. Trotz der langen Betriebszugehörigkeit sei ihr ein Aufrechterhalten des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar.

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 27.04.2021 stattgegeben. Zur Begründung hat das Gericht aufgeführt, die Kündigung sei gem. § 15 Abs. 1 KSchG unzulässig. Krankheit sei zwar als wichtiger Grund zur Kündigung im Sinne des § 626 BGB bzw. auch des § 15 Abs. 1 KSchG nicht generell ungeeignet. Da aber schon an eine ordentliche Kündigung wegen Erkrankung des Arbeitnehmers ein strenger Maßstab anzulegen sei, komme eine außerordentliche Kündigung nur in eng zu begrenzenden Ausnahmefällen in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor. Zwar habe der Kläger erhebliche Fehlzeiten aufgewiesen. Denn selbst im Falle einer – hier nicht gegebenen – dauerhaften Arbeitsunfähigkeit wäre es dem Arbeitgeber zumutbar, das Arbeitsverhältnis erst nach Ende des Sonderkündigungsschutzes zu beenden.

Das Urteil wurde der Beklagten am 11.05.2021 zugestellt. Sie hiergegen mit am 09.06.2021 bei dem LAG Rheinland-Pfalz eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag Berufung eingelegt und diese mit am Montag, dem 12.07.2021 eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag begründet.

Die Beklagte hat zweitinstanzlich vorgetragen, die durch das Arbeitsgericht zitierte Rechtsprechung stehe der Annahme eines eklatanten Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung im vorliegenden Fall nicht entgegen. Es liege ein Extremfall vor, in dem auch die krankheitsbedingte Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ausnahmsweise gerechtfertigt sei. Gerade die Häufigkeit der Ersterkrankungen stelle eine besondere Belastung für die Arbeitgeberin dar, da sie stets mit Entgeltfortzahlungskosten verbunden sei. Auch die schwierige Einplanungsmöglichkeit des Klägers führe dazu, dass ein reibungsloser Betriebsablauf nicht mehr gewährleistet sei.

Die Beklagte hat zweitinstanzlich beantragt, auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 27.04.2021, 11 Ca 212/21, aufzuheben und die Klage vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger hat zweitinstanzlich beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hat hierzu vorgetragen, die Berufung sei bereits unzulässig, da sie sich nicht mit den rechtlichen und tatsächlichen Argumenten des Urteils befasse. Die Berufung sei auch unbegründet. § 15 KSchG stelle allein darauf ab, ob der Arbeitgeber aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen dürfe. Eine erleichterte Kündigungsmöglichkeit könne nicht durch eine Kündigung mit sozialer Auslauffrist geschaffen werden. Andernfalls würde die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist der eigentlich ausgeschlossenen ordentlichen Kündigung gleichkommen. Die Beklagte habe den Kläger über Jahre einer besonderen „psychischen Situation“ ausgesetzt und damit dessen Erkrankung verursacht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die streitgegenständliche fristlose Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 08.01.2021 rechtsunwirksam ist.

I.

Die Berufung ist zulässig.

1. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung ist gemäß §§ 66 Abs. 1 S. 1 und 2 ArbGG, 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

2. Auch genügt die Berufungsbegründung, entgegen der Ansicht des Klägers, den Anforderungen der §§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO.

a. Hiernach muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Dabei dürfen im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie zwar keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Berufungsbegründung muss aber auf den Streitfall zugeschnitten sein und im Einzelnen erkennen lassen, in welchen Punkten rechtlicher oder tatsächlicher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll. Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch das Arbeitsgericht mit formelhaften Wendungen zu rügen und lediglich auf das erstinstanzliche Vorbringen zu verweisen oder es zu wiederholen (BAG, Urteil vom 27.Januar 2021 – 10 AZR 512/18 – Rn. 15, zitiert nach juris, ebenso im Folgenden; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05. August 2021 – 5 Sa 372/20 –, Rn. 37; LAG München, Urteil vom 07. November 2019 – 3 Sa 234/19 –, Rn. 24).

b. Diesen Anforderungen genügt die Berufungsbegründung. Zwar stellt sie vorwiegend das erstinstanzliche Vorbringen erneut dar. Sie zeigt jedoch auf, dass die Beklagte die rechtliche Würdigung des Arbeitsgerichts für falsch hält. Sie betont erneut, dass sie in der vorliegenden Konstellation einen extremen Ausnahmefall sieht, in dem die außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung möglich sein müsse. Auch trägt sie vor, die durch das Arbeitsgericht zur Begründung der Unzulässigkeit der Kündigung herangezogene Rechtsprechung stehe der Annahme eines wichtigen Grunds zur außerordentlichen Kündigung nicht entgegen. Die durch das Arbeitsgericht zu Grunde gelegten Tatsachen stehen zwischen den Parteien nicht im Streit. Es wird erkennbar, dass die Beklagte die rechtliche Würdigung des Arbeitsgerichts zu der Frage, ob ein- nach Bezeichnung der Beklagten – „eklatantes Missverhältnis“ von Leistung und Gegenleistung vorliegt und dieses zur Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung führen konnte, für unrichtig hält und zur Überprüfung stellen möchte.

II.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Die von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 08.01.2021 ist nicht rechtswirksam.

Der Kläger genießt unstreitig den Kündigungsschutz im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG.

Die Voraussetzungen für eine Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG i. V. m. § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor, wie das Arbeitsgericht zu Recht festgestellt hat.

1. Gemäß § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG ist die Kündigung eines Mitglieds eines Betriebsrats unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die nach § 103 des Betriebsverfassungsgesetzes erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.

Mit dem Begriff „wichtiger Grund“ knüpft § 15 KSchG an die gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 1 BGB an.

a. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer den Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

b. Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist nicht per se ungeeignet, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 –, Rn. 16; Urteil vom 20. März 2014 – 2 AZR 825/12 – Rn. 20; Urteil vom 18.02.1993 – 2 AZR 526/92).

Jedoch ist es dem Arbeitgeber grundsätzlich zuzumuten, in einem solchen Fall die geltende Kündigungsfrist einzuhalten. Daraus folgt, dass eine außerordentliche Kündigung nur in eng begrenzten Fällen in Betracht kommt (BAG, Urteil vom 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 –, Rn. 26; Urteil vom 20. Dezember 2012 – 2 AZR 32/11 – Rn. 14).

aa. Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegend, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen – erste Stufe.

Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende und einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen – zweite Stufe. Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billiger Weise nicht hingenommen werden müssen – dritte Stufe (BAG vom 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13, Rn. 27).

bb. Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Er muss den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Die prognostizierten Fehlzeiten und die sich aus ihnen ergebende Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen müssen deutlich über das Maß hinausgehen, welches eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen könnte. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Ein solches ist gegeben, wenn zu erwarten steht, dass der Arbeitgeber bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – ggf. über Jahre hinweg – erhebliche Entgeltzahlungen zu erbringen hätte, ohne dass dem eine nennenswerte Arbeitsleistung gegenüberstünde. Auch können Häufigkeit und Dauer der krankheitsbedingten Fehlzeiten im Einzelfall dazu führen, dass ein Einsatz des Arbeitnehmers nicht mehr sinnvoll und verlässlich geplant werden kann und dieser damit zur Förderung des Betriebszwecks faktisch nicht mehr beiträgt. Die Aufrechterhaltung eines derartig „sinnentleerten“ Arbeitsverhältnisses kann dem Arbeitgeber ggf. auch im Falle eines ordentlich nicht kündbaren Arbeitnehmers unzumutbar sein (BAG, Urteil vom 23.Januar 2014, – 2 AZR 582/13-, Rn. 28; LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2021 – 3 Sa 6/21 –, Rn. 29, juris)

cc. In der gegebenen Sachverhaltskonstellation sind diese Erfordernisse nicht erfüllt.

(1) Zwar liegen in der Tat umfangreiche Fehlzeiten des Klägers in den vor Ausspruch der Kündigung liegenden drei Jahren vor. Auch befinden sich darunter in erheblicher Anzahl Arbeitstage, an denen die Beklagte mit Entgeltfortzahlungspflichten belastet war, was eine bedeutende wirtschaftliche Belastung darstellt. In dieser Zeitspanne, jedenfalls in den beiden Jahre 2019 und 2020, stand der Beklagten auch keine nennenswerte Arbeitsleistung auf Seiten des Klägers gegenüber. Dieser fehlte an den weit überwiegenden Arbeitstagen des Jahres. Der Kernbereich des Äquivalenzverhältnisses ist durchaus als tangiert anzusehen. Berücksichtigt man, dass der Arbeitgeber eine „normale“ Fehlzeitenquote von vornherein „einzupreisen“ hat, wird seine objektiv berechtigte Gleichwertigkeitserwartung betroffen, wenn mehr als ein Drittel der jährlichen Arbeitstage mit Entgeltfortzahlung belastet ist (BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 –, Rn. 39). Dies war in den vor der Kündigung liegenden drei Jahren der Fall.

(2) Die erhebliche Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten kann insbesondere dann einen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen, wenn zu befürchten steht, dass sie den Arbeitgeber über Jahre hin weiter treffen wird (BAG, Urteil vom 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 –, Rn. 28). Dies kann geschehen, wenn das Arbeitsverhältnis langfristig – über Jahre hinweg- nicht ordentlich kündbar ist, weil die ordentliche Unkündbarkeit tarifvertraglich oder einzelvertraglich dauerhaft ausgeschlossen ist.

(3) Hier liegt der Fall anders. Die Beklagte musste im Kündigungszeitpunkt nicht aufgrund objektiver Umstände befürchten, jahrelang in ähnlichem Umfang Entgeltfortzahlung leisten zu müssen.

(3.1) Die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung ist „nur“ für die Amtszeit des Betriebsratsmitglieds sowie ein weiteres Jahr im Anschluss hieran (§ 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG) ausgeschlossen. Auch dies stellt ohne Zweifel eine beachtliche Zeitspanne dar.

(3.2) Zudem ist vorliegend zu berücksichtigen, dass der prozentuale Anteil der entgeltfortzahlungspflichtigen Fehltage an den Gesamtfehltagen vor Kündigungsausspruch rückläufig war (172 Tage in 2019 zu 120 Tage in 2020).

Dies entspricht den Diagnosen, die der Kläger unter Vorlage fachärztlicher Bescheinigungen dargelegt hat und die die Beklagte auch nicht in Abrede gestellt hat. So hatte der Kläger in den Jahren 2018 und 2019 im Vergleich zu 2020 umfangreichere Fehlzeiten wegen sich nicht – oder seltener- wiederholender und kürzerer Erkrankungen wie Sinusitis, Bronchitis, Dermatitis, einer venösen Insuffizienz/ Varizen, sowie aufgrund einer Gastroenteritis/ Kolitis.

Die weiteren Fehlzeiten begründen sich nach unbestrittenem Klägervortrag mit den depressiven Episoden bzw. Anpassungsstörungen. Dies lässt sich auch der Bescheinigung des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 05.10.2020 entnehmen, die der Kläger zur Akte gereicht und der Beklagen als Antwort auf die BEM-Einladung zugesandt hat, laut der eine fortgesetzte Krankschreibung wegen einer schwerwiegenden Erkrankung aus dem Fachgebiet der Psychiatrie und Neurologie gegeben ist.

Im Falle einer Fortsetzungserkrankung ist die Beklagte aber nicht – jedenfalls nur nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 EFZG stark begrenzt- zur Entgeltfortzahlung verpflichtet. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Kläger mit Schriftsatz vom 19.04.2021 vorgetragen hat, nach dem 04.12.2020 sei er nicht mehr wegen einer depressiven Episode/ einer Anpassungsstörung arbeitsunfähig erkrankt gewesen, sondern ab dem 05.01.2021 wegen einer anderen Erkrankung (erneut Ulcus cruris/ Venöse Insuffizienz). Im Kammertermin hat der Kläger erklärt, die psychiatrische Erkrankung liege nach wie vor vor und begründe seine Arbeitsunfähigkeit, die Wiederaufnahme der Arbeit hänge von der Einschätzung des Facharztes ab und sei aufgrund der psychiatrischen Erkrankung nach wie vor nicht gegeben.

Insgesamt stellt sich der Fall abweichend von der klassischen Konstellation der Belastung des Arbeitsverhältnisses durch häufige Kurzerkrankungen dar, da sich nicht eine besondere Krankheitsanfälligkeit aufgrund verschiedener Krankheitsbilder zeigt, sondern es prägt vielmehr eine einzelne Diagnose, nämlich die der depressiven Episoden/ Anpassungsstörungen, den Verlauf. Die hieraus resultierende sinkende Tendenz der Entgeltfortzahlungsbelastung ist bei der Beurteilung der Erheblichkeit der betrieblichen Beeinträchtigungen zu beachten.

(3.2) Auch Sinn und Zweck und die Ausgestaltung der den besonderen Kündigungsschutz auslösenden Norm sind bei der Frage, das Äquivalenzverhältnis aufgrund zu erwartender Entgeltfortzahlungskosten als so schwer („gravierend“) gestört anzusehen ist, dass dem Arbeitgeber nicht zugemutet werden kann, an einem ordentlich unkündbaren Arbeitsverhältnis weiter festzuhalten, zu beachten (BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 –, Rn. 38). Normzweck des § 15 KSchG ist zum einen, den dort geschützten Personen die erforderliche Unabhängigkeit bei der Ausübung ihres Amtes zu gewähren (BAG, Urteil vom 27. Juni 2019 – 2 AZR 38/19). Des Weiteren sichert die Norm die Kontinuität der Betriebsratsarbeit (BAG, a.a.O.; Ascheid/Preis/Schmidt/Linck, 6. Aufl. 2021, KSchG § 15 Rn. 1). Der Schutz ist, wie bereits dargelegt, zeitlich begrenzt. Zwar kann ein Arbeitnehmer mehrfach hintereinander zum Betriebsrat gewählt werden, jedoch ist der Schutz stets an die Funktion oder ihre Nachwirkungszeit gebunden.

Der Schutz entsteht auch, anders als in der von der Beklagten zitierten und zu § 34 Abs. 2 TV-L ergangenen Entscheidung des BAG vom 25.04.2018, 2 AZR 6/18, nicht bereits aufgrund eines bestimmten Lebensalters und einer bestimmten Betriebszugehörigkeit, sondern er ist daran gekoppelt, dass der Arbeitnehmer als Betriebsrat tätig wird und damit Erschwernisse auf sich nimmt. Eine mehrfache Wiederwahl eines durchgehend oder immer wieder erkrankten Betriebsrats, die den Kündigungsschutz verlängern könnte, dürfte regelmäßig nicht zu erwarten sein, so dass auch die Dauerhaftigkeit der – im Falle des § 34 Abs. 2 TV-L ggf. jahrzehntelangen- wirtschaftlichen Belastung durch Entgeltfortzahlung ohne Erhalt eines Äquivalents, nicht zu befürchten ist.

(4) Weiter spricht auch die gebotene Interessenabwägung dafür, dass die Beklagte nicht außerordentlich kündigen durfte. Nach den obigen Grundsätzen sind auf allen drei Prüfungsstufen im Rahmen der Prüfung der außerordentlichen Kündigung strengere Maßstäbe anzulegen, als es bei der Prüfung einer ordentlichen Kündigung geboten wäre.

Zwar ist zu Gunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass diese durch mehrfache Einladungen zu BEM-Gesprächen versucht hat, zu einer Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers beizutragen. Dennoch überwiegen die Belange des Klägers bei der Abwägung, ob der Kläger im Wege einer außerordentlichen Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis entlassen werden durfte. Dabei sind insbesondere seine ausgesprochen lange Betriebszugehörigkeit und sein Lebensalter zu berücksichtigen, das sich auch auf die Arbeitsmarktchancen niederschlägt. Auch setzt sich das Arbeitsverhältnis aus dem gleichen Grund nicht noch über einen langen Zeitraum fort (so dass sich damit die Entgeltfortzahlungskosten „über die Jahre“ aufaddieren können, hierzu BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 –, Rn. 40).

Im Rahmen einer Gesamtwürdigung all dieser Einzelfallumstände erschien der Arbeitgeberin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum nächstmöglichen Zeitpunkt, zu dem eine ordentliche Kündigung rechtlich möglich ist, derzeit noch zumutbar.

Somit nahm die Kammer an, dass vorliegend kein Ausnahmefall, in dem eine personenbedingte außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist ausgesprochen werden durfte, gegeben war.

Die Kosten des erfolglosen Berufungsverfahrens trägt die Beklagte, § 97 Abs. 1 ZPO. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG, weil sie auf den besonderen Umständen des Einzelfalles beruht. Auch weicht die Kammer nicht von anderen Entscheidungen im Sinne des § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG ab.

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