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Gesteigerte Rücksichtnahmepflichten von Tendenzträgern: Kündigung ohne Abmahnung

Trotz verfassungsrechtlich garantierter Meinungsfreiheit wurde die Kündigung eines Forschers bestätigt, weil für ihn die gesteigerte Rücksichtnahmepflichten von Tendenzträgern galten. Obwohl der Arbeitgeber die Frist für die sofortige Kündigung verpasste, musste er den Wissenschaftler nicht wieder einstellen.

Zum vorliegenden Urteil Az.: 1 Ca 378/24 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Glossar  | Kontakt

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: Arbeitsgericht Halle (Saale)
  • Datum: 10.12.2024
  • Aktenzeichen: 1 Ca 378/24
  • Verfahren: Kündigungsschutzverfahren
  • Rechtsbereiche: Arbeitsrecht, Kündigungsschutz, Meinungsfreiheit

  • Das Problem: Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter veröffentlichte in sozialen Medien kritische Äußerungen über Israel. Sein Arbeitgeber, ein Forschungsinstitut mit internationalen Kooperationen, kündigte ihm fristlos und hilfsweise ordentlich. Der Mitarbeiter klagte gegen beide Kündigungen.
  • Die Rechtsfrage: Darf ein wissenschaftlicher Träger einem Projektleiter wegen seiner politischen Äußerungen kündigen, wenn diese die Kooperationen und die Grundsatzausrichtung des Instituts gefährden?
  • Die Antwort: Die fristlose Kündigung war unwirksam, weil der Arbeitgeber die Frist für den Kündigungsausspruch versäumte. Die hilfsweise ordentliche Kündigung war jedoch wirksam. Das Gericht sah in den Äußerungen eine schwere Pflichtverletzung gegen die Interessen des Instituts.
  • Die Bedeutung: Beschäftigte in leitender Funktion bei Einrichtungen mit besonderer Ausrichtung (Tendenzbetrieben) unterliegen auch privat erhöhten Rücksichtnahmepflichten. Schwerwiegende Äußerungen, die den Institutszielen widersprechen und Beziehungen schädigen, können eine fristgerechte Kündigung ohne vorherige Abmahnung rechtfertigen.

Der Fall vor Gericht


Warum ein Wissenschaftler trotz unwirksamer Kündigung seinen Job verlor

Ein international profilierter Wissenschaftler verliert seinen Job wegen umstrittener Social-Media-Posts zum Gaza-Krieg. Er klagt vor dem Arbeitsgericht Halle – und bekommt in einem zentralen Punkt recht, verlässt den Gerichtssaal aber am Ende doch als Verlierer. Das Gericht zog eine feine, aber entscheidende Linie: zwischen einer Kündigung, die sofort wirken soll, und einer, die eine Frist einhält. Ein juristisches Detail, das den Unterschied zwischen einem Teilsieg und einer endgültigen Niederlage machte.

Was war der Auslöser für die Kündigung?

Ein Tendenzträger prüft die arbeitsrechtlichen Folgen seiner Social-Media-Äußerungen und seine Kündigungsschutzklage.
Fristversäumnis kippt fristlose Kündigung, ordentliche Kündigung bleibt wirksam. | Symbolbild: KI

Der Ethnologe war als Projektleiter bei einem renommierten Max-Planck-Institut beschäftigt. Sein Arbeitgeber, die Max-Planck-Gesellschaft, fördert die Wissenschaft, hat sich dem Kampf gegen Diskriminierung verschrieben und pflegt enge Kooperationen mit israelischen Forschungseinrichtungen. Im Arbeitsvertrag war der Forscher auf die „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ verpflichtet worden. Nach den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober 2023 veröffentlichte der Wissenschaftler auf Facebook und der Plattform X mehrere Texte. Darin beschrieb er Israel als Besatzungsmacht und als „zionistisches ethno-nationalistisches Projekt“.

Diese Äußerungen blieben nicht unbemerkt. Nach einem Gespräch im November 2023 und einem Zeitungsartikel im Februar 2024 zog die Institutsleitung die Reißleine. Sie kündigte dem Wissenschaftler am 7. Februar 2024 außerordentlich und fristlos. Vorsorglich sprach sie auch eine ordentliche Kündigung aus, die das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der tariflichen Frist beenden sollte. Das Institut argumentierte, die Posts seien keine legitime Kritik mehr. Sie würden Israels Existenzrecht infrage stellen und damit dem Ruf des Instituts und seinen wichtigen internationalen Beziehungen schaden. Als Projektleiter und sogenannter Tendenzträger – eine Person, die die inhaltliche Ausrichtung des Arbeitgebers verkörpert – habe der Forscher eine besondere vertragliche Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB), die er massiv verletzt habe.

Wieso war die fristlose Kündigung ein Fehlschlag?

Die fristlose Kündigung scheiterte an einer harten Frist im Gesetz. Das Bürgerliche Gesetzbuch schreibt in § 626 Abs. 2 BGB vor, dass eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen kann. Diese Frist beginnt, sobald der Kündigungsberechtigte – hier die Institutsleitung – von den entscheidenden Kündigungsgründen erfährt. Und genau hier lag das Problem des Instituts.

Der Arbeitgeber räumte selbst ein, dass bereits bei dem Gespräch am 13. November 2023 die Posts des Wissenschaftlers thematisiert wurden. Die zuständigen Direktoren kannten die Äußerungen und hatten den Forscher zur Mäßigung aufgefordert. In diesem Moment begann die Zwei-Wochen-Frist zu laufen. Die Kündigung im Februar kam Monate zu spät. Das Arbeitsgericht Halle stellte klar: Der Grund für eine fristlose Kündigung mag noch so schwer wiegen – ist die Frist versäumt, ist die Kündigung unwirksam. Ein teurer Formfehler.

Weshalb bestätigte das Gericht dann die ordentliche Kündigung?

Die zweite, hilfsweise ausgesprochene Kündigung war eine ordentliche, fristgerechte Kündigung. Für sie gilt die strenge Zwei-Wochen-Frist nicht. Hier prüfte das Gericht nach dem Kündigungsschutzgesetz (§ 1 KSchG), ob die Kündigung „Sozial gerechtfertigt“ war. Dafür wog es die Interessen des Arbeitgebers gegen die des Arbeitnehmers ab. Das Ergebnis fiel zulasten des Forschers aus.

Das Gericht sah in den Social-Media-Posts eine schwere Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten. Die Meinungsfreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes schütze den Wissenschaftler nicht grenzenlos. Als Tendenzträger eines Instituts mit klarem Bekenntnis zu seinen israelischen Partnern musste er bei öffentlichen Äußerungen besondere Rücksicht nehmen. Seine Posts waren nach Ansicht des Gerichts geeignet, die Legitimität des Staates Israel zu negieren und so die Kerninteressen seines Arbeitgebers direkt zu gefährden.

Der Wissenschaftler hatte argumentiert, er sei vor der Kündigung nicht abgemahnt worden. Das Gericht hielt eine Abmahnung in diesem Fall aber für entbehrlich. Der Forscher hatte auch im Prozess seine Haltung bekräftigt und keinerlei Einsicht gezeigt. Die Richter gingen davon aus, dass er sein Verhalten auch nach einer Abmahnung nicht geändert hätte. Angesichts der Schwere der Pflichtverletzung und der mangelnden Aussicht auf Besserung überwog das Interesse des Instituts an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Welche Rolle spielten die Argumente zur Antisemitismus-Definition?

Der Wissenschaftler verteidigte sich vehement gegen den Vorwurf des Antisemitismus. Er verwies auf seine jüdische Ehefrau und legte ein Gutachten vor, das gängige Antisemitismus-Definitionen infrage stellte. Das Gericht ließ diese Argumente nicht gelten. Es betonte, es komme nicht auf die subjektive Gesinnung des Forschers an. Entscheidend sei die objektive Wirkung seiner Worte im Kontext seiner Anstellung. Und diese Worte stellten aus Sicht der Richter einen eklatanten Verstoß gegen seine Loyalitätspflicht dar, unabhängig davon, ob sie eine bestimmte wissenschaftliche Definition von Antisemitismus erfüllten oder nicht. Auch die Beteiligung des Betriebsrats (§ 102 Abs. 1 BetrVG) sah das Gericht als korrekt an. Der Betriebsrat war umfassend informiert worden und hatte der Kündigung zugestimmt.

Die Urteilslogik

Die rechtliche Beurteilung des Fehlverhaltens eines Tendenzträgers trennt rigoros zwischen Form und Inhalt: Während prozessuale Fehler die sofortige Kündigung scheitern lassen, legitimiert die massive Verletzung der Loyalitätspflicht die fristgerechte Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

  • [Gesteigerte Loyalitätspflicht]: Arbeitnehmer, die die inhaltliche Ausrichtung des Arbeitgebers verkörpern (Tendenzträger), unterliegen einer gesteigerten arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht, die ihre freie Meinungsäußerung bei elementaren Konflikten mit der Unternehmensphilosophie begrenzt.
  • [Absolute Fristsetzung]: Die Zwei-Wochen-Frist für die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung ist zwingend einzuhalten; sie beginnt in dem Moment zu laufen, in dem der Kündigungsberechtigte von den relevanten Tatsachen vollständige Kenntnis erlangt, ungeachtet der Schwere des zugrundeliegenden Verstoßes.
  • [Entbehrlichkeit der Abmahnung]: Arbeitgeber können auf eine vorherige Abmahnung verzichten, wenn die Pflichtverletzung von solch gravierendem Ausmaß ist oder der Arbeitnehmer eine derart fehlende Einsicht beweist, dass eine Wiederherstellung des Vertrauensverhältnisses ausgeschlossen erscheint.

Das Gericht etabliert, dass die wirksame Beendigung eines Arbeitsverhältnisses sowohl die strikte Einhaltung formaler Fristen als auch die konsequente Durchsetzung substanzieller Loyalitätspflichten erfordert.


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Experten Kommentar

Die größte Erkenntnis aus diesem Fall ist die strategische Bedeutung der Loyalität: Ein formaler Fehler – die Verfristung der außerordentlichen Kündigung – rettet den Job nur kurzzeitig, wenn der inhaltliche Pflichtverstoß zu schwer wiegt. Dieses Urteil stellt klar, dass die gesteigerte Rücksichtnahmepflicht von Tendenzträgern bei öffentlichen politischen Äußerungen eine enorme Durchschlagskraft hat. Wer als Wissenschaftler die fundamentalen Werte des Instituts massiv angreift und keinerlei Einsicht zeigt, dem hilft auch die Meinungsfreiheit wenig. Die praktische Konsequenz ist, dass eine ordentliche Kündigung wegen solcher schweren Verfehlungen auch ohne vorherige Abmahnung Bestand hat.


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Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Warum kann eine fristlose Kündigung scheitern, die ordentliche aber wirksam sein?

Der entscheidende Unterschied liegt in den strengen formalen Anforderungen, denen die beiden Kündigungsformen unterliegen. Eine fristlose Kündigung scheitert oft bereits an einem reinen Formfehler, selbst wenn der Kündigungsgrund inhaltlich schwerwiegend ist. Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung hingegen wird von diesen Formvorschriften entlastet und primär auf ihre inhaltliche Rechtfertigung hin überprüft. Der Arbeitgeber nutzt die Doppelstrategie, um sicherzustellen, dass das Arbeitsverhältnis in jedem Fall endet.

Die fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 2 BGB erfordert die zwingende Einhaltung einer Ausschlussfrist. Der Arbeitgeber muss sie innerhalb von zwei Wochen aussprechen, nachdem er vollständige Kenntnis von den kündigungsrelevanten Tatsachen erlangt hat. Versäumt die kündigungsberechtigte Führungskraft diese Frist, ist die außerordentliche Kündigung unwiderruflich unwirksam – ungeachtet der Schwere des Fehlverhaltens. Das ist ein häufiger und teurer Fehler auf Arbeitgeberseite.

Die ordentliche Kündigung unterliegt dieser strikten Frist nicht, sondern wird nach dem Kündigungsschutzgesetz auf ihre soziale Rechtfertigung geprüft. War der zugrunde liegende Pflichtverstoß schwer genug, um das Vertrauensverhältnis nachhaltig zu zerstören, wird die Kündigung bestätigt. Konkret: War die Verzögerung der fristlosen Kündigung zu lang, bleibt sie formell unwirksam, während der Inhalt (der schwere Pflichtverstoß) die ordentliche Kündigung in Kraft setzt.

Prüfen Sie bei Erhalt einer Kündigung sofort, ob diese fristlos, ordentlich oder hilfsweise beides ausgesprochen wurde, um zu ermitteln, welche Fristen für Ihre Klage entscheidend sind.


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Wann schränkt meine Loyalitätspflicht meine private Meinungsfreiheit ein?

Die verfassungsrechtlich geschützte Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) ist nicht absolut, sondern findet ihre Grenze in der arbeitsvertraglichen Loyalitätspflicht. Diese Pflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) greift ein, wenn Ihre öffentlichen Äußerungen die Kerninteressen, grundlegenden Werte oder die internationalen Beziehungen des Arbeitgebers direkt und massiv gefährden. Diese Rücksichtnahmepflicht ist besonders hoch, wenn Sie als Tendenzträger auftreten.

Als Tendenzträger verkörpern Sie die inhaltliche Ausrichtung Ihres Arbeitgebers, beispielsweise in wissenschaftlichen oder politisch orientierten Institutionen. In dieser exponierten Position müssen Sie besonders vorsichtig sein, da Ihre Person die Reputation des Instituts in der Öffentlichkeit direkt beeinflusst. Die Schranke entsteht dort, wo Äußerungen geeignet sind, das Existenzrecht wichtiger Kooperationspartner zu negieren und somit unmittelbar dem Ruf des Instituts oder dessen Zielen schaden.

Posts auf öffentlichen Social-Media-Plattformen verlieren den Schutz des rein Privaten, sobald sie mit Ihrer beruflichen Rolle in Verbindung gebracht werden können. Nehmen wir an: Ein Institut pflegt enge Beziehungen zu bestimmten Ländern oder Organisationen. Stellt ein Projektleiter öffentlich deren Legitimität infrage, verletzt er die Loyalitätspflicht. Gerichte urteilen hierbei nicht nach Ihrer subjektiven Gesinnung, sondern nach der objektiven Wirkung Ihrer Worte und der Schädigung der Arbeitgeberinteressen.

Prüfen Sie vor kontroversen Posts immer, ob die Äußerungen im direkten Widerspruch zu den offiziellen Bekenntnissen, Ethikrichtlinien oder Kooperationszielen Ihres Arbeitgebers stehen.


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Wann genau beginnt die 2-Wochen-Frist für eine fristlose Kündigung?

Die Zwei-Wochen-Frist für eine fristlose Kündigung ist eine strikte Ausschlussfrist nach § 626 Abs. 2 BGB. Sie beginnt exakt in dem Moment, in dem die kündigungsberechtigte Stelle – oft die Geschäftsführung oder Institutsleitung – eine sichere und vollständige Kenntnisnahme der maßgeblichen Tatsachen erlangt. Interne Prüfungen, das Einholen von Rechtsrat oder das Warten auf eine öffentliche Eskalation verschieben den Fristbeginn in der Regel nicht.

Diese sehr kurze Frist dient dazu, Rechtssicherheit zu schaffen und zu verhindern, dass Arbeitgeber Kündigungsgründe strategisch auf Vorrat halten. Die Regel verlangt, dass der Arbeitgeber sofort handelt, sobald er die Sachlage ausreichend überblickt und die Tatsachen für einen wichtigen Grund reif sind. Trifft die Kenntnis zunächst nur bei einem einfachen Vorgesetzten ein, der nicht kündigen darf, läuft die Frist noch nicht an. Sie startet erst mit der Unterrichtung der obersten Führungsebene.

Im Fall des gekündigten Wissenschaftlers lag genau hier der Formfehler: Die Direktoren des Instituts kannten die fraglichen Social-Media-Posts bereits im November 2023 und führten ein Gespräch über die Mäßigung des Verhaltens. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie alle notwendigen Informationen. Die Kündigung, die erst im darauffolgenden Februar erfolgte, kam daher Monate zu spät. Die Frist wird nicht dadurch gehemmt, dass der Arbeitgeber abwartet, bis die Angelegenheit etwa durch einen Zeitungsartikel öffentlich bekannt wird.

Dokumentieren Sie sofort minutiös alle Daten von Gesprächen oder E-Mails, in denen die Arbeitgeberseite auf das Fehlverhalten hingewiesen hat, um den exakten Startzeitpunkt der Zwei-Wochen-Frist zu fixieren.


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Was darf ich als sogenannter Tendenzträger auf Social Media nicht posten?

Als Tendenzträger sind Sie zur besonderen Loyalität verpflichtet und müssen auf Social Media Inhalte vermeiden, die den Kerninteressen und Grundwerten Ihres Arbeitgebers direkt widersprechen. Dies gilt besonders, wenn Ihre Äußerungen die inhaltliche Mission des Instituts konterkarieren oder wichtige Kooperationen massiv gefährden. Kritische Meinungsäußerungen zur allgemeinen Politik sind zwar geschützt, jedoch endet dieser Schutz dort, wo Sie das Existenzrecht von Partnern negieren, mit denen Ihr Institut eng zusammenarbeitet.

Ihre private Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) wird durch die vertragliche Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) eingeschränkt. Diese erhöhte Pflicht betrifft Personen, die die inhaltliche Ausrichtung ihres Arbeitgebers verkörpern, wie es bei Leitern wissenschaftlicher, kirchlicher oder politischer Einrichtungen der Fall ist. Sobald öffentliche Posts das offizielle Bekenntnis des Arbeitgebers – etwa zum Kampf gegen Diskriminierung oder zur guten wissenschaftlichen Praxis – direkt untergraben, verletzen Sie Ihre arbeitsvertraglichen Pflichten schwer.

Die größte juristische Gefahr besteht darin, sich auf die „private Meinung“ zu berufen. Als Tendenzträger verschwimmen die Grenzen, da Ihre Posts dem Ruf des Instituts schaden können. Konkret: Wenn Ihr Arbeitgeber ein klares Bekenntnis zu bestimmten internationalen Beziehungen abgibt, müssen Sie Posts unterlassen, die diese Partnerschaften öffentlich infrage stellen oder sabotieren. Das Gericht beurteilt nicht Ihre subjektive Gesinnung, sondern die objektive Wirkung Ihrer Worte auf die Interessen des Arbeitgebers.

Machen Sie Ihre Social-Media-Profile entweder komplett privat oder fügen Sie einen klaren Disclaimer hinzu, der Ihre Ansichten als rein privat kennzeichnet, und unterlassen Sie gleichzeitig jegliche Angriffe auf die Kernwerte Ihres Arbeitgebers.


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Wann ist eine Abmahnung vor der Kündigung nicht notwendig?

Die Abmahnung dient primär als Warnfunktion und ist nur bei steuerbarem Verhalten zwingend erforderlich. Sie wird ausnahmsweise entbehrlich, wenn die Schwere der Pflichtverletzung das bestehende Vertrauensverhältnis unwiederbringlich zerstört hat. Entscheidend ist die juristische Einschätzung, ob der Arbeitnehmer nach einer Warnung überhaupt bereit oder fähig wäre, sein pflichtwidriges Verhalten zu ändern.

Arbeitsgerichte verzichten auf eine vorherige Abmahnung, falls die Pflichtverletzung derart gravierend ist, dass eine Besserung von vornherein ausgeschlossen scheint. Dies betrifft in der Regel erhebliche Straftaten oder massive, vorsätzliche Angriffe auf die grundlegenden Werte des Arbeitgebers. Wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist untragbar erscheint, gilt das Vertrauensverhältnis als irreparabel zerstört.

Die Abmahnung entfällt auch, wenn der Arbeitnehmer keine Einsicht in das begangene Fehlverhalten zeigt. Konkret: Der gekündigte Wissenschaftler bekräftigte seine umstrittene Haltung auch noch im Kündigungsschutzprozess. Die Richter werteten dies als klaren Beleg dafür, dass eine formelle Abmahnung nutzlos gewesen wäre. Bei Personen in exponierten Positionen, wie Tendenzträgern, wiegt der Verstoß gegen die Loyalitätspflicht besonders schwer, da die Rufschädigung des Instituts direkte Folgen für Kooperationen hat.

Wer sich im Kündigungsprozess ohne Abmahnung befindet, sollte schriftlich darlegen, welche konkreten Verhaltensänderungen er sofort nach Erhalt einer Warnung vorgenommen hätte.


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Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.


Glossar für Fachbegriffe aus dem Arbeitsrecht: Der Schriftzug 'Glossar' vor dem Foto einer belebten Baustelle

Glossar


Juristische Fachbegriffe kurz erklärt

Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB)

Die Rücksichtnahmepflicht ist eine gesetzlich verankerte Nebenpflicht aus dem Schuldverhältnis, die von Vertragspartnern verlangt, die Rechte und Interessen des anderen Teils nicht zu verletzen. Dieses Prinzip stellt sicher, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufeinander achten und insbesondere in der Öffentlichkeit keine Äußerungen tätigen, die den Ruf oder die Existenzgrundlage des anderen gefährden. Sie begrenzt somit die Meinungsfreiheit im Arbeitskontext.

Beispiel: Wegen seiner kritischen Posts, die die internationalen Beziehungen des Arbeitgebers massiv gefährdeten, verletzte der Wissenschaftler seine arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht, die bei Tendenzträgern besonders hoch ist.

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Sozial gerechtfertigt

Juristen sprechen von einer sozial gerechtfertigten Kündigung, wenn der Arbeitgeber Gründe vorweisen kann, die entweder im Verhalten oder in der Person des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt sind. Diese zentrale Anforderung aus dem Kündigungsschutzgesetz (§ 1 KSchG) soll verhindern, dass Arbeitgeber willkürlich kündigen, indem sie die Beendigung des Arbeitsverhältnisses an strenge Interessenabwägungen bindet.

Beispiel: Das Arbeitsgericht Halle prüfte, ob die ordentliche Kündigung des Wissenschaftlers sozial gerechtfertigt war, und bejahte dies angesichts der massiven Verletzung der Loyalitätspflichten des Tendenzträgers.

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Tendenzträger

Ein Tendenzträger ist eine Person in exponierter Stellung, die durch ihre Tätigkeit die inhaltliche, politische oder wissenschaftliche Ausrichtung ihres Arbeitgebers maßgeblich repräsentiert und verkörpert. Für diesen Personenkreis gelten erhöhte Loyalitätsanforderungen, da ihre öffentlichen Äußerungen die Reputation und die Kerninteressen des Arbeitgebers direkt beeinflussen können. Das Gesetz schützt so die inhaltliche Mission von Institutionen.

Beispiel: Als Projektleiter in einem wissenschaftlichen Institut galt der Forscher als Tendenzträger und musste deshalb eine höhere Rücksichtnahme auf die Kooperationen und die ethischen Bekenntnisse des Arbeitgebers wahren.

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Vertrauensverhältnis

Das Vertrauensverhältnis beschreibt die elementare Basis für jede erfolgreiche Zusammenarbeit, die intakt sein muss, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre vertraglichen Pflichten erfüllen können. Wenn dieses Verhältnis durch besonders schwere Verfehlungen oder mangelnde Einsicht nachhaltig zerstört wird, entfällt die Notwendigkeit einer Abmahnung, da die Fortführung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar ist.

Beispiel: Weil der Wissenschaftler keinerlei Einsicht in seine Pflichtverletzung zeigte und seine umstrittene Haltung im Kündigungsschutzprozess bekräftigte, werteten die Richter das Vertrauensverhältnis als irreparabel zerstört.

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Zwei-Wochen-Frist (§ 626 Abs. 2 BGB)

Die Zwei-Wochen-Frist ist eine Ausschlussfrist im Arbeitsrecht, innerhalb derer eine fristlose Kündigung zwingend ausgesprochen werden muss, nachdem die kündigungsberechtigte Stelle vollständige Kenntnis vom Kündigungsgrund erlangt hat. Mit dieser extrem kurzen Frist schafft der Gesetzgeber Rechtssicherheit und zwingt den Arbeitgeber zu einem sofortigen Handeln, wenn der Kündigungsgrund tatsächlich so wichtig ist, dass er eine sofortige Beendigung rechtfertigt.

Beispiel: Da die Institutsleitung die umstrittenen Posts des Forschers bereits im November kannte, war die Zwei-Wochen-Frist bei der Kündigung im Februar längst abgelaufen, was die fristlose Kündigung unwirksam machte.

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Das vorliegende Urteil


ArbG Halle (Saale) – Az.: 1 Ca 378/24 – Urteil vom 10.12.2024


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