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Kein regelkonformes Betriebliches Eingliederungsmanagement – krankheitsbedingte Kündigung

Hessisches Landesarbeitsgericht – Az.: 16 Sa 231/21 – Urteil vom 19.07.2021

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 29. Januar 2021 – 4 Ca 378/20 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung.

Die Beklagte (Arbeitgeber) produziert Reifen und beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet. Der am xx.xx.1972 geborene, verheiratete Kläger ist seit 4. November 1991 bei der Beklagten als Operator an Inspektionsarbeitsplätzen zu einer Bruttomonatsvergütung von ca. 3600 € beschäftigt.

Mit Schreiben vom 13. Februar 2020 (Bl. 48 der Akte) lud die Beklagte den Kläger zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement ein, dem der Kläger unter dem 19. Februar 2020 (Bl. 49 der Akte) zustimmte. Es erfolgte sodann ein Gespräch am 28. Februar 2020, dessen Inhalt im Einzelnen streitig ist. Mit Schreiben vom 3. März 2020 forderte die Beklagte den Kläger auf, um seine persönlichen Einschränkungen am Arbeitsplatz besser nachprüfen zu können, bis spätestens 17. April 2020 ein entsprechendes aktuelles fachärztliches Attest vorzulegen (Bl. 50 der Akte). Dem kam der Kläger nicht nach.

Unter dem 25. September 2020 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung an; insoweit wird auf Bl. 20-23 der Akte Bezug genommen. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung am 2. Oktober 2020 gemäß § 102 Abs. 3 Nr. 3 BetrVG (Bl. 24 der Akte) und begründete seinen Widerspruch damit, dass der Kläger erst seit einem Jahr auf einem mutmaßlich leidensgerechten Arbeitsplatz beschäftigt werde und der Umstand, dass im letzten Jahr weitere erhebliche Fehlzeiten aufgetreten sind, nicht ohne ein weiteres BEM- Verfahren eine Kündigung rechtfertige. Die Ursachen der Fehlzeiten im letzten Jahr seien nicht festgestellt, ebenso ob durch Umgestaltungen des Arbeitsplatzes oder der Arbeitsabläufe Abhilfe geschaffen werden könne.

Mit Schreiben vom 6. Oktober 2020 (Bl. 5 der Akte) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers ordentlich zum 31. Mai 2021. Dagegen hat sich der Kläger mit seiner am 8. Oktober 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage gewandt.

Hinsichtlich der Einzelheiten des unstreitigen Sachverhalts, des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und der gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der Entscheidung des Arbeitsgerichts (Bl. 105-106 der Akte) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben; hinsichtlich der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 106R bis 109 der Akte) verwiesen.

Dieses Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 4. Februar 2021 zugestellt, die dagegen am 2. März 2021 Berufung eingelegt und diese am 26. März 2021 begründet hat.

Die Beklagte rügt, erstinstanzlich sei vorgetragen worden, dass am 28. Februar 2020 ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt worden sei, das ohne Ergebnis blieb. Im Schriftsatz vom 5. Januar 2021 (Bl. 86 der Akte) sei angeboten worden, dazu näher vorzutragen, wenn der Kläger der Verwendung der dem Datenschutz unterliegenden Information zustimmen würde. Eine solche Zustimmung sei nicht erfolgt. Damit sei der erstinstanzliche Vortrag der Beklagten entgegen dem Arbeitsgericht ausreichend. Gleichwohl werde der Ablauf nachfolgend näher dargestellt: Die Einladung und Zustimmungserklärung seien bereits erstinstanzlich vorgelegt worden. Das Gespräch habe am 28. Februar 2020 stattgefunden und sei auf Seiten der Beklagten von Frau A geführt worden. Auf Wunsch des Klägers sei das Betriebsratsmitglied B anwesend gewesen. Frau A habe den Sinn und Zweck des BEM erläutert und darauf hingewiesen, dass die Mitwirkung des Klägers freiwillig ist. Sie habe ihn sodann nach den Ursachen für die Arbeitsunfähigkeitszeiten gefragt, insbesondere, ob diese im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit stehen. Der Kläger habe erklärt, die Arbeit sei halt schwer, aber er könne sie ausüben. Die Beklagte könne insoweit keine Hilfestellung geben. Es habe keinen Hinweis darauf gegeben, dass sein Arbeitsplatz in Widerspruch zu dem von ihm vorgelegten Attest vom 30. April 2018 stehe. Die Beklagte ist der Auffassung, die Ansicht des Arbeitsgerichts, wonach aus den vorgetragenen Umständen nicht feststellbar sei, ob die Tätigkeit des Klägers den Vorgaben im ärztlichen Attest vom 30. April 2018 entspreche, sei nicht nachvollziehbar. Der Kläger müsse die Reifen nicht heben.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 29. Januar 2021 -4 Ca 378/20- abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe zutreffend festgestellt, dass kein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt wurde. Die Erteilung einer Zustimmung des Klägers zur Verwertung der während des BEM-Verfahrens erlangten Informationen sei nicht erforderlich gewesen. Der Kläger könne zwar nicht ausschließen, dass es zu der von der Beklagten behaupteten Einladung zu einem BEM gekommen sei. Es werde jedoch bestritten, dass er über Sinn und Zweck des Verfahrens, dessen Methoden und Möglichkeiten aufgeklärt wurde. Ebenso seien Erläuterungen zu den zu erhebenden Daten und deren Verwendung aus Sicht des Klägers nicht gegeben worden. Aufgrund des Gesprächs sei der Kläger nicht dazu in der Lage gewesen, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Die Beklagte habe den BEM-Termin nicht dazu genutzt, die gesundheitliche Situation, den tatsächlichen und möglichen Einsatz des Klägers und die Kompatibilität seiner Leistungsfähigkeit mit den Arbeitsbedingungen abzugleichen. Weder sei der Kläger informiert noch dazu aufgefordert bzw. ihm aufgezeigt worden, welche Daten zu erheben waren, um Chancen zu ermitteln und gegebenenfalls nutzen zu können. Auffällig sei, dass die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat keine Angaben zu BEM-Gesprächen im Jahr 2020 gemacht hat. Deshalb habe der Betriebsrat auch der Kündigung widersprochen. Dass hier Rückkehrgespräche stattfanden und Atteste außerhalb des BEM angefordert wurden, reiche nicht aus. Im Übrigen komme es nicht darauf an, ob die Arbeitsunfähigkeitszeiten auf private Ursachen zurückzuführen seien. Entscheidend sei alleine, ob im Rahmen des BEM ein zutreffendes Leistungsbild ermittelt und anschließend geprüft wurde, welche Einsatzmöglichkeiten mit Aussicht auf Minderung der Fehlzeiten für den Kläger bestanden. Dies sei nicht erfolgt. Der Kläger sei im Jahr 2020 damit befasst gewesen, fehlerhafte Reifen zu reparieren, fehlerhafte Reifen einzusammeln, wobei bis zu 17 kg schwere Reifen gehoben und getragen werden mussten. Es sei also kein Einsatz gemäß dem Attest vom 30. April 2018 erfolgt. Die gegenteilige Darstellung der Beklagten zu den Tätigkeiten des Klägers (kein Heben und Tragen der Reifen) werde bestritten. Ebenso seien weder der Betriebsarzt noch der Vertrauensmann der Schwerbehinderten noch das Integrationsamt eingeschaltet worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung ist statthaft, § 8 Abs. 2 ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO, § 64 Abs. 2b Arbeitsgerichtsgesetz. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, § 66 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO und damit insgesamt zulässig.

II.

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht im Wesentlichen stattgegeben. Die Berufungskammer schließt sich der zutreffenden Begründung des Arbeitsgerichts an und nimmt darauf Bezug. Das Vorbringen der Beklagten in der Berufungsinstanz führt zu keiner abweichenden Beurteilung.

Die ordentliche Kündigung ist sozial ungerechtfertigt, weil sie nicht durch Gründe in der Person des Klägers bedingt ist, § 1 Abs. 2 KSchG. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Dies können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen -leidensgerechten- Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung die Chance zu bieten, gegebenenfalls spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen (Bundesarbeitsgericht 20. November 2014 -2 AZR 755/13- Rn. 24).

Die Beklagte war gemäß § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX verpflichtet, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen, da der Kläger innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig war. Dies ist zwischen den Parteien auch nicht streitig. Ein regelkonformes BEM hat jedoch nicht stattgefunden. Dies setzt zunächst voraus, dass der Arbeitgeber den betreffenden Arbeitnehmer auf die Ziele des BEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hinweist (Bundesarbeitsgericht 20. November 2014 -2 AZR 755/13- Rn. 32). Kommt es sodann darauf an, ob bestimmte vom Arbeitgeber tatsächlich ergriffene Maßnahmen den Anforderungen eines BEM genügen, ist zu prüfen, ob sie sich als der vom Gesetz vorgesehene umfassende, offene und an den Zielen des BEM ausgerichtete Suchprozess erweisen. Dafür reicht es nicht aus, mit dem betreffenden Arbeitnehmer die Fragestellung eines möglichen Zusammenhangs zwischen seiner Tätigkeit und den Erkrankungen zu besprechen (Bundesarbeitsgericht, a.a.O., Rn. 36).

Selbst wenn Frau A den Kläger in dem Gespräch am 28. Februar 2020 nach den Ursachen seiner Arbeitsunfähigkeitszeiten, insbesondere, ob diese im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit stehen, gefragt und der Kläger erklärt habe, die Arbeit sei halt schwer, aber er könne sie ausüben, die Beklagte könne insoweit keine Hilfestellung geben, reicht dies nicht aus (vergleiche hierzu: BAG, a.a.O., Rn. 44). Als medizinischer Laie konnte der Kläger selbst nicht beurteilen, ob ein Zusammenhang zwischen seinen Arbeitsunfähigkeitszeiten und seiner Tätigkeit besteht. Die Beklagte hätte daher weitere Maßnahmen ergreifen müssen, um zu klären, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Fehlzeiten des Klägers zu mindern. Hierfür wäre es jedenfalls angezeigt gewesen, einen Arbeitsmediziner hinzuzuziehen, der den Kläger untersucht und die gesundheitlichen Anforderungen seines Arbeitsplatzes mit seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen abgleicht, Feststellungen über mögliche (technische) Hilfestellungen (z.B. Hebehilfen) oder eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes trifft. Allein die Aufforderung an den Kläger, ein aktuelles fachärztliches Attest vorzulegen (Bl. 50 der Akte), reicht hierfür nicht aus. Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass bei ordnungsgemäßer Durchführung eines BEM Rehabilitationsbedarfe in der Person des Klägers hätten erkannt und durch entsprechende Maßnahmen künftige Fehlzeiten spürbar hätten reduziert werden können. Auch dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

Hat der Arbeitgeber ein BEM unterlassen, muss er von sich aus die objektive Nutzlosigkeit der angezeigten Maßnahmen aufzeigen und gegebenenfalls beweisen. Dies ist nicht erfolgt.

Da die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, ist der Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiter zu beschäftigen (Bundesarbeitsgericht 27. Februar 1985 – GS 1/84).

III.

Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihres ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.

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