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Krankheitsbedingte Kündigung bei häufigen Fehlzeiten

Und negativer Gesunheitsprognose

Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) – Az.: 3 Sa 918/16 – Urteil vom 30.11.2016

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts … vom 05.07.2016 – 2 Ca 285/16 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen (krankheitsbedingten) Kündigung sowie Weiterbeschäftigungsansprüche der Klägerin.

Die am … geborene, verheiratete Klägerin ist seit dem 02.01…. bei der Beklagten als … zu einem durchschnittlichen Bruttomonatseinkommen von zuletzt 3.100,00 Euro beschäftigt.

Nach den Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht werden die Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie des Landes Nordrhein-Westfalen angewendet; die Beklagte selbst ist tarifgebunden.

Die Beklagte beschäftigt ca. 480 Arbeitnehmer in dem Betrieb in … in dem die Klägerin tätig ist; es besteht ein Betriebsrat.

  • In den Jahren ab 2012 war die Klägerin wiederholt arbeitsunfähig infolge Erkrankung. Im Jahre 2012 erkrankte die Klägerin in drei Blöcken an insgesamt 33 Tagen arbeitsunfähig; die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung für 33 Tage.
  • Im Jahr 2013 erkrankte die Klägerin in drei Blöcken an insgesamt 55 Arbeitstagen arbeitsunfähig; die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung für 55 Tage.
  • Im Jahr 2014 erkrankte die Klägerin in drei Blöcken an insgesamt 30 Arbeitstagen arbeitsunfähig; die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung für 30 Arbeitstage.
  • Im Jahr 2015 erkrankte die Klägerin in insgesamt sechs Blöcken arbeitsunfähig an 47 Tagen; die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung für 47 Tage.
  • Ferner war die Klägerin vom 18.01. bis zum 22.01.2016 bei Entgeltfortzahlung arbeitsunfähig.
  • Wegen der Einzelheiten der Krankheitszeiten und der geleisteten Entgeltfortzahlung wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 13.04.2016 … Bezug genommen.

Nach schriftlichen Anhörung vom 26.10.2016 (wegen deren Einzelheiten auf … … verwiesen wird) des Betriebsrates zu einer beabsichtigten ordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung unter Mitteilung der Sozialdaten der Klägerin sowie der Krankheitszeiten und Entgeltfortzahlungskosten und dessen Zustimmung vom 29.01.2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 02.02.2016 …, der Klägerin am 02.02.2016 zugegangen, ordentlich zum 30.09.2016.

Gegen diese Kündigung wendet sich die Klägerin mit ihrer am 15.02.2016 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage.

Die Klägerin hat die Kündigung für unwirksam gehalten.

Zum einen sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden.

Die Klägerin hat insoweit mit Nichtwissen bestritten, dass das von der Beklagten vorgelegte Anhörungsschreiben vom 26.01.2016 dem Betriebsrat am 26.01.2016 übergeben worden sei und das auf den 02.02.2016 datierte Kündigungsschreiben erst nach Zugang einer Zustimmungserklärung des Betriebsrats den Machtbereich der Beklagten verlassen habe.

Außerdem kranke die Anhörung daran, dass die Beklagte in der Anhörung nicht die objektive Nutzlosigkeit eines BEMs dargelegt habe.

Die Klägerin hat des Weiteren die Ansicht vertreten, die Kündigung sei nicht wegen wiederholter Arbeitsunfähigkeit sozial gerechtfertigt.

Zunächst liege eine negative Gesundheitsprognose nicht vor.

Die Krankheitszeiten seien teilweise durch ausgeheilte Erkrankungen verursacht worden, teilweise seien sie dadurch verursacht worden, dass der Arbeitsplatz nicht ausreichend gestaltet sei.

Bei einer Veränderung des Arbeitsplatzes dahingehend, dass eine Überbelastung von Schulter, Rücken und Nacken vermieden werde, sei auch nach den erhobenen radiologischen Befunden in Zukunft nicht mit erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen dieser Beeinträchtigung mehr zu rechnen“.

Wegen der weiteren Einzelheiten des diesbezüglichen Vorbringens der Klägerin wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 04.05.2016 … verwiesen.

Von der Beklagten sei vor der Kündigung auch kein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt worden, da sie zwar zu einem solchen eingeladen, indes nicht hinreichend informiert worden sei.

Der insofern vorliegenden erhöhten Darlegungs- und Beweislast sei die Beklagte nicht nachgekommen.

Im Übrigen sei die Kündigung ihrer Meinung nach auch bei Bestehen einer negativen Zukunftsprognose unverhältnismäßig, da sie seit 20 Jahren bei der Beklagten sei und ihre Erkrankungen auf einer Überbelastung am Arbeitsplatz beruhten.

Die Klägerin hat beantragt,

1.

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 02.02.2016 zum 30.09.2016 nicht aufgelöst wurde, sondern fortbesteht,

2.

die Beklagte zu verurteilen, sie zu den Bedingungen des Arbeitsvertrages als … weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei wirksam erfolgt.

Der Betriebsrat sei mit Schreiben vom 26.01.2016, dem Betriebsrat am 26.01.2016 übergeben, ordnungsgemäß angehört worden; unter dem 29.01.2016 habe der Betriebsrat der Kündigung zugestimmt.

Das diesbezügliche Bestreiten der Klägerin mit Nichtwissen hat die Beklagte nicht für ausreichend gehalten.

Die Kündigung sei auch wegen häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten der Klägerin sozial gerechtfertigt.

Die Klägerin sei in den Jahren von 2012 bis 2015, insoweit unstreitig, erheblich arbeitsunfähig erkrankt gewesen, über 30 Arbeitstage im Jahr hinaus.

Hieraus ergebe sich eine negative Zukunftsprognose. Die von der Klägerin angegebenen Krankheitsursachen hat die Beklagte ebenso bestritten wie die Behauptung der Klägerin, Ausfallzeiten beruhten auf einer arbeitsplatzbedingten Überlastung.

Die Fehlzeiten in der Vergangenheit hätten auch zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, insbesondere durch Entgeltfortzahlungskosten von über 26.000,00 Euro in den letzten vier Jahren, geführt. Die in den Folgejahren zu erwartende erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen hinzunehmen sei ihr nicht mehr zuzumuten.

Sie habe auch ein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt, da sie die Klägerin mit Schreiben vom 01.10.2013 und 30.11.2015 … zum betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen habe und die Klägerin diese Einladung jeweils abgelehnt habe.

Mit Urteil vom 05.07.2016 hat das Arbeitsgericht den Anträgen der Klägerin entsprochen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung sei unwirksam und beende das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht.

Die Kündigung sei nicht wegen häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten der Klägerin sozial gerechtfertigt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts habe die Prüfung einer Kündigung wegen häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten in drei Stufen zu erfolgen:

Zunächst sei eine negative Zukunftsprognose erforderlich. Die prognostizierten Fehlzeiten müssten zudem zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen und im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung sei schließlich zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber gleichwohl hingenommen werden müssten.

Träten während der letzten Jahre regelmäßig mehrere (Kurz-)Erkrankungen auf, spreche dies für eine entsprechende zukünftige Entwicklung des Krankheitsbildes, es sei denn, die Krankheiten seien ausgeheilt.

Der Arbeitgeber dürfe sich deshalb in der 1. Prüfungsstufe darauf beschränken, die Fehlzeiten in der Vergangenheit darzustellen und zu behaupten, in Zukunft seien Krankheitszeiten in entsprechendem Umfang zu erwarten.

Alsdann sei es Sache des Arbeitnehmers, gem. § 138 Abs. 2 ZPO darzulegen, weshalb zum Kündigungszeitpunkt mit einer baldigen Genesung zu rechnen gewesen sei. Je nach Erheblichkeit des Vortrages ist es Sache des Arbeitgebers, den Beweis für eine Berechtigung einer negativen Zukunftsprognose zu führen.

Vorliegend gehe das Gericht zu Gunsten der Beklagten davon aus, dass auch in Zukunft mit krankheitsbedingten Fehlzeiten über 30 Arbeitstage im Jahr hinaus zu rechnen sei. Das Gericht gehe zu Gunsten der Beklagten auch davon aus, dass die Voraussetzungen der 2. Prüfungsstufe vorlägen, da die Klägerin offenbar in den Jahren 2013 – 2015 über 30 Arbeitstage im Jahr hinaus (im Durchschnitt) Entgeltfortzahlung erhalten habe.

Die Voraussetzungen der 3. Stufe lägen indes nicht vor. Denn der Beklagten sei noch zuzumuten, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen.

Aus den von der Klägerin als prognoserelevant eingeräumten Krankheitstagen sei eine Prognose allenfalls dahingehend zu bilden, dass die Klägerin für 38,6 Arbeitstage im Jahr aufgrund prognosrelevanter Erkrankungen erkranken werde.

Dies sei indes nicht sicher zu erwarten. Der Beklagten drohe daher für die Zukunft, soweit bisher prognostizierbar, eine Entgeltfortzahlung von allenfalls 38,6 Tagen, mithin von 8,6 Arbeitstagen mehr als hier von ihr ohnehin hinzunehmen seien.

Im Hinblick auf die langjährige, offenbar durch Krankheitszeiten nicht beeinträchtigte Beschäftigungsdauer sei die Hinnahme dieser Belastung durch Entgeltfortzahlungskosten der Beklagten noch zuzumuten; dies werde indes bei weiterer Fortdauer der Erkrankungen im bisherigen Umfang nicht mehr der Fall sein.

Ebenfalls stattzugeben sei der Klage mit dem Antrag auf Weiterbeschäftigung.

Gegen das unter dem 06.07.2016 zugestellte Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe im Übrigen Bezug genommen wird, hat die Beklagte unter dem 02.08.2016 Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 06.10.2016 unter dem 05.10.2016 begründet.

Sie hält an ihrer Auffassung zur Wirksamkeit der Kündigung fest.

Zwar verneine das Arbeitsgericht zu Recht weder das Vorliegen einer negativen Zukunftsprognose noch das Vorliegen erheblicher betrieblicher Beeinträchtigungen durch Entgeltfortzahlungskosten; der vom Arbeitsgericht vorgenommenen Interessenabwägung könne aus ihrer Sicht jedoch nicht gefolgt werden. Ihr könne nicht zugemutet werden, Entgeltfortzahlungskosten von über 30 Arbeitstagen jährlich leisten zu müssen. Soweit das Arbeitsgericht darüber hinaus seine Entscheidung mit der Vermutung begründe, dass die langjährige Beschäftigungsdauer der Klägerin offenbar nicht durch Krankheitszeiten beeinträchtigt gewesen sei, sei dies unzutreffend, da die Klägerin in 2007 an 29 Tagen mit Entgeltfortzahlung, in 2008 an 45 Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung, 2009 mit 27 Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung, 2010 mit 59 Arbeitstagen und 50 Tagen Entgeltfortzahlung und 2011 mit 16 Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung krankheitsbedingt gefehlt habe. Daraus wäre auch ersichtlich, dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin sich vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung gesteigert hätten.

Bei ihr herrschten auch keine negativen Arbeitsbedingungen. Die Klägerin werde rotierend an verschiedenen Pressen eingesetzt. In diesem Arbeitsbereich beständen keine hohen körperlichen Belastungen, die Klägerin habe Produkte mit einem Gewicht von max. 5 kg zu heben. Zur Unterstützung stehen der Klägerin ohnehin elektrische Hubwagen zur Verfügung. Falsch sei auch der Vortrag der Klägerin zu klimatischen Bedingungen. Die Beklagte bestreitet insoweit, kalter Luftstrom sei zwangsläufige Folge für Atemwegerkrankungen, Muskelverspannungen und -verhärtungen. Die Beklagte bestreitet des Weiteren den Vortrag der Klägerin, dass das Anheben schwerer Teile zu einer Überlastung der rechten Schulter und Verspannungen der Rücken- und Nackenmuskulatur geführt habe und diese Beeinträchtigungen auch wesentlich auf die klimatischen Bedingungen in der Halle zurückzuführen seien. Ebenso bestreitet die Beklagte, dass infolge des hohen Arbeitstempos und der zu hebenden Gewichte die Klägerin ins Schwitzen gerate und die Zugluft zu Muskelverspannungen und -verhärtungen führe. Das Arbeitstempo in dem Bereich, in dem die Klägerin beschäftigt sei, habe sich nicht erhöht. Auch treffe ihrer Meinung nach die Klägerin die Darlegungslast, warum ein ursächlicher Zusammenhang zwischen betrieblicher Tätigkeit und Arbeitsunfähigkeit bestehen solle.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgericht … vom 06.07.2016 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil.

Den nunmehrigen Vortrag zu Arbeitsunfähigkeitszeiten in den Jahren 2007 – 2011 hält die Klägerin für nicht ausreichend substantiiert. Sie bestreite die aus ihrer Sicht Pauschalbehauptungen zunächst ebenso pauschal.

Bei der Frage der Zumutbarkeit künftiger Entgeltfortzahlungskosten sei ihrer Meinung nach zudem zu berücksichtigen, dass sie im Mai 2016 das 55. Lebensjahr erreicht habe und aufgrund tariflicher Bestimmung ordentlich unkündbar sei. Dann seien der Beklagten auch deutlich höhere Entgeltfortzahlungskosten zuzumuten.

Auch sei zu berücksichtigen, dass in der Abteilung, in der sie arbeite, ein deutlich erhöhter Krankenstand bestehe. Dieser bestehe infolge der negativen Arbeitsbedingungen, die allein die Beklagte zu vertreten habe. Zum einen seien es hohe körperliche Belastungen insbesondere der Packer, zum anderen die klimatischen Bedingungen in den Hallen. Beide Hallen, in denen sie arbeite, verfügten über keine Schleuseneinrichtung oder Ausgleichsgebläse. Wenn die großen Tore geöffnet seien, herrsche ein starker kalter Luftzug. Die zwangsläufige Folge seien Atemwegerkrankungen und Muskelverspannungen und -verhärtungen. Nicht nur das Anheben schwerer Teile führe zu einer Überbelastung der rechten Schulter und Verspannungen der Rücken- und Nackenmuskulatur, sondern diese Beeinträchtigungen seien auch wesentlich auf die klimatischen Bedingungen in der Halle zurückzuführen. Mitarbeiter hätten sich auch immer wieder beim Betriebsrat über die Zugluft in den Hallen beschwert.

Die Beklagte könne sich nicht darauf beschränken, die Arbeitsplatzbedingtheit eines erheblichen Teils der Arbeitsunfähigkeitszeiten mit Nichtwissen zu bestreiten.

Soweit die Beklagte behaupte, dass weitere Verbesserungen an ihrem Arbeitsplatz nicht möglich seien, werde dies vorsorglich bestritten.

Schließlich könne die Beklagte auch nicht mit pauschalem Bestreiten ihrer Darlegung, dass das Arbeitstempo in den letzten Jahren erhöht worden sei, durchdringen. Die Beklagte möge konkret zur Entwicklung der Zahlen an den einzelnen Maschinen Stellung nehmen.

Letztlich habe vor der Kündigung keine Initiative zur Durchführung eines ordnungsgemäßen BEM stattgefunden.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

A.

Durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung bestehen nicht.

Die Berufung ist statthaft gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 b), c) ArbGG.

Die Berufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 517 ff. ZPO.

B.

Die Berufung der Beklagten ist aber nicht begründet.

Das Arbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die streitbefangene Kündigung der Beklagten nicht wirksam aufgelöst worden ist (I.). Daher hat es auch die Beklagte richtigerweise zur vorläufigen Weiterbeschäftigung der Klägerin verurteilt (II.)

I.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung der Beklagten vom 02.12.2016 nicht wirksam aufgelöst worden.

Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat ordnungsgemäß vor Ausspruch der Kündigung angehört hat und die Kündigung nach Zugang einer abschließenden Stellungnahme des Betriebsrates ausgesprochen hat.

Denn jedenfalls ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG und daher unwirksam.

Die Kündigung lässt sich nicht unter den Kriterien für eine Kündigung wegen wiederholter Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit rechtfertigen.

1.

Wiederholte Erkrankungen eines Arbeitnehmers sind an sich geeignet, eine ordentliche Kündigung dann sozial zu rechtfertigen, wenn auch in Zukunft mit weiteren Ausfällen zu rechnen ist.

Die Überprüfung einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen häufiger, auf Arbeitsunfähigkeit beruhender Kurzerkrankungen hat nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z.B. Urteil vom 07.11.1985, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 17; Urteil vom 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27; BAG 07.11.2002, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50) in drei Stufen zu erfolgen:

In einer ersten Stufe ist zu prüfen, ob eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes gegeben ist, d.h, ob zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen rechtfertigen.

In einer zweiten Stufe ist zu erfordern, dass die bisherigen und nach der Prognose zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Eine solche Beeinträchtigung kann dabei durch Störungen im Betriebsablauf, aber auch durch wirtschaftliche Belastungen des Arbeitgebers herbeigeführt werden.

In der dritten Stufe, der Interessenabwägung, ist sodann noch zu prüfen, ob die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen ein solches Ausmaß erreicht haben, dass die weitere Hinnahme dem Arbeitgeber nicht mehr zuzumuten ist.

2.

Eine negative Prognose lässt sich nur hinsichtlich bestimmter Erkrankungen annehmen.

a)

Maßgebender Zeitpunkt für die vom Arbeitgeber anzustellende Prognose bei einer krankheitsbedingten Kündigung ist wie allgemein bei der Beurteilung der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung der Zeitpunkt des Zugangs beim Gekündigten. Erst nach Zugang der Kündigung eingetretene weitere Umstände, die sich auf die weitere Entwicklung des Arbeitnehmers auswirken können, dürfen nicht berücksichtigt werden (BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27).

b)

Häufige Erkrankungen in der Vergangenheit können eine Wiederholungsgefahr für die Zukunft begründen (BAG 26.05.1977, EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 30; BAG 23.06.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 12, BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27).

Denn häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes sprechen. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Krankheiten ausgeheilt sind (BAG 07.11.2002, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50).

Daher kann sich der Arbeitgeber zunächst darauf beschränken, die Indizwirkung der bisherigen Erkrankungen darzulegen. Daraufhin muss der Arbeitnehmer gemäß § 138 Absatz 2 ZPO dartun, weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen sei (BAG 23.06.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 12; BAG 02.11.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 13; BAG 10.11.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 14; BAG 07.11.2002, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50).

c)

Sofern der Arbeitnehmer selbst konkrete Umstände für seine Erkrankungen und deren Ausheilen oder Abklingen vorträgt, müssen diese geeignet sein, die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten zu erschüttern; allerdings muss der Arbeitnehmer nicht den Gegenbeweis führen, es sei nicht mit weiteren Erkrankungen zu rechnen (BAG 23.06.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 12; BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27).

Stehen dabei die in der Vergangenheit angefallenen krankheitsbedingten Fehlzeiten nach Dauer und Ursache fest, ist gemäß § 286 ZPO zu entscheiden, ob diese Umstände die Annahme entsprechender Ausfälle in der Zukunft rechtfertigen (BAG 06.09.1989, aaO).

Hat der Arbeitnehmer durch einen ausreichenden Vortrag die Indizwirkung der bisherigen Krankheitszeiten erschüttert, ist es alsdann Sache des Arbeitgebers, den Beweis für das Vorliegen einer negativen Gesundheitsprognose zu führen (BAG 07.11.2002, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50).

Die Annahme einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit des Arbeitnehmers wird nicht allein dadurch zweifelhaft, dass die Erkrankungen auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen sind. Eine Wiederholungsgefahr lässt sich auch aus der Häufigkeit verschiedener Krankheiten folgern (BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27).

d)

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist die Erwartung weiterer krankheitsbedingter Fehlzeiten hinsichtlich eines Teils der Erkrankungen berechtigt.

aa)

Nach der Darlegung der Klägerin zu den Gründen der Erkrankung sind eine Reihe von Ausfalltagen schon auf Grund der Art der dem Ausfall zu Grunde liegenden Art der Erkrankung nicht prognoserelevant.

Nicht prognoserelevant ist eine Arbeitsunfähigkeit der Klägerin in der Zeit vom 09.06.2012 bis zum 29.06.2012, die nach den Angaben der Klägerin auf einer Vereitelung wegen Verengung der Nasenmuscheln/Nebenhöhlen mit einer operativen Beseitigung am 19.06.2012 beruht, da es sich insoweit um eine einmalige Erkrankung handelt, die in der Folgezeit nicht erneut aufgetreten ist.

Nicht prognoserelevant ist des Weiteren die Arbeitsunfähigkeitszeit vom 06.01.2014 bis 08.01.2014, die nach Angaben der Klägerin auf einem Besuch des Schlaflabors beruht. Arbeitsunfähigkeit aus den dem Besuch zu Grunde liegenden Erkrankungen liege im Übrigen nicht vor.

Ebenso nicht prognoserelevant sind die Ausfalltage vom 01.09.2015 bis zum 14.09.2015, nach Angaben der Klägerin beruhend auf einer Magenverstimmung. Gleiches gilt für die Tage im November 2015 infolge eines Zahnextraktes.

Die Arbeitsunfähigkeit vom 22.12.2015 bis 30.12.2015 beruhte nach Angaben der Klägerin auf Beschwerden, die operativ behandelt worden sind. Erkrankungen dieser Art waren einmalig.

Schließlich war die Zeit vom 18.01.2016 bis 22.01.2016 infolge eines operativen Eingriffs nicht zu berücksichtigen.

Soweit die Beklagte die von der Klägerin angegebenen Ursachen allein mit Nichtwissen bestreitet, genügt sie ihrer Darlegungs- und Beweislast nicht. Die Beweislast für das Vorliegen einer negativen Gesundheitsprognose trägt die Beklagte. Hierzu gehört auch ein entsprechender Beweisantritt, dass die von der Klägerin angegebenen Krankheitsursachen unzutreffend sind und gleichwohl mit erheblichen krankheitsbedingten Ausfällen in der Zukunft zu rechnen ist. Mangels Kenntnis der Beklagten von den den Ausfallzeiten zu Grunde liegenden Krankheiten ist kein besonderes Maß an Substantiierung und Vortrag der Beklagten insoweit zu stellen, allein ein Bestreiten der Krankheitsursachen mit Nichtwissen reicht nicht aus, wenn im Übrigen kein Beweisantritt dafür geboten wird, dass angegebene Krankheitsursachen unzutreffend sind und auch hinsichtlich solcher Ausfallzeiten eine negative Prognose aus medizinischer Sicht gegeben ist. Die zunächst von der Beklagten allgemein beantragte Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu einem Zeitpunkt, als die Krankheitsursachen durch die Klägerin nicht vorgetragen waren, ist insoweit unzureichend.

Geht man zu Gunsten der Beklagten im Übrigen davon aus, dass hinsichtlich aller übrigen Ausfallzeiten, die auf Erkältungs- oder Atemwegerkrankungen sowie auf Erkrankungen der Schulter oder im Rückenbereich sich als prognoserelevant darstellen, ergäbe sich eine negative Prognose im Umfang von 136 Arbeitstagen.

e)

Damit liegen zu erwartende erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen infolge Entgeltfortzahlungskosten noch gerade vor, wenn man die innerhalb von vier Kalenderjahren und einem weiteren Monat aufgetretenen prognoserelevanten Ausfallzeiten auf die Zeit nach Ausspruch der Kündigung projiziert.

aa)

Eine erhebliche und unzumutbare Beeinträchtigung betrieblicher Interessen kann sich sowohl aus eingetretenen und zu erwartenden unzumutbaren Störungen des betrieblichen Ablaufes, wie z.B. Maschinenstillständen, Produktionsausfällen, als auch aus unzumutbaren wirtschaftlichen Belastungen infolge außergewöhnlich hoher Lohnfortzahlungskosten ergeben (BAG 23.06.1983,. EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 12; BAG 02.11.1983, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 13).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können dabei allein die entstandenen und künftig zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten, die jeweils für einen Zeitraum von mehr als 6 Wochen aufzuwenden sind, eine erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen darstellen (BAG 29.07.1993. EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 40; BAG 20.01.2000, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 47).

Die Erheblichkeit der wirtschaftlichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen hängt zunächst davon ab, welche Kostenbelastung der Arbeitgeber in der Zukunft zu besorgen hat; es können hierfür somit nur die Lohnfortzahlungskosten berücksichtigt werden, die auf die auch in Zukunft zu erwartenden, im Rahmen der negativen Gesundheitsprognose ermittelten Ausfallzeiten entfallen (BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit).

Eine Belastung mit Entgeltfortzahlungskosten für sechs Wochen im Kalenderjahr, das sind 30 Arbeitstage, hat der Arbeitgeber als Mindestbelastung hinzunehmen (BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27).

f)

Diese auch künftig zu erwartenden wirtschaftlichen Belastungen erreichten jedoch nach Auffassung der Kammer in Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht kein solches Ausmaß, dass die weitere Hinnahme durch die Beklagte unzumutbar ist.

aa)

Im Rahmen der Interessenabwägung ist zu prüfen, ob die betrieblichen Beeinträchtigungen auf Grund der Erkrankungen des Arbeitnehmers nach den Besonderheiten des Einzelfalles vom Arbeitgeber billigerweise noch hinzunehmen sind oder ihn überfordern (BAG 20.01.2000, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 47). Hierbei ist allgemein insbesondere zu berücksichtigen, ob die Erkrankungen auf betriebliche Ursache zurückzuführen sind ((BAG 07.11.2002, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 50), ob bzw. wie lange das Arbeitsverhältnis zunächst ungestört verlaufen ist, ferner das Alter und der Familienstand des Arbeitnehmers. Im Rahmen der Interessenabwägung sind bei einer krankheitsbedingten Kündigung auch seine familiären Verhältnisse, insbesondere seine Unterhaltspflichten, sowie eine mögliche Schwerbehinderung einzubeziehen. In der dritten Stufe ist auch zu prüfen, ob es dem Arbeitgeber zumutbar ist, die erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen durch an sich mögliche weitere Überbrückungsmaßnahmen zu verhindern (BAG 06.09.1989, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 27; BAG 05.07.1990, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 32; BAG 20.01.2000, EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 47).

bb)

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien war der Beklagten die weitere Hinnahme der zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten noch zuzumuten.

Dabei kann zu Gunsten der Beklagten unterstellt werden, dass die von ihr angegebenen Ausfallzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit mit den angegebenen Entgeltfortzahlungskosten vor 2012 gegeben waren und daher das Arbeitsverhältnis zumindest auch seit 2007 schon mit nicht unerheblichen Entgeltfortzahlungskosten infolge Arbeitsunfähigkeit belastet war; ebenso kann zu Gunsten der Beklagten unterstellt werden, dass ein Zusammenhang der Krankheiten mit betrieblichen Gegebenheiten nicht anzunehmen ist. Selbst dann ist es der Beklagten zuzumuten, Entgeltfortzahlungskosten auch künftig hinzunehmen, die nur knapp über den 30 Arbeitstagen liegen, die der Beklagten ohnehin zuzumuten sind. Hierbei müssen das fortgeschrittene Lebensalter der Klägerin mit Mitte 50 und die erhebliche Dauer des Arbeitsverhältnisses seit dem 02.01…. somit von mehr als 20 Jahren zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, berücksichtigt werden.

II.

Infolge Unwirksamkeit der Kündigung steht der Klägerin daher auch der vom Arbeitsgericht ausgeurteilte Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung zu.

Über die aufgrund des Ausspruches der Kündigung bestehende Unsicherheit des Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses hinaus hat die Beklagte keine Umstände geltend gemacht, die einer vorläufigen Weiterbeschäftigung entgegenstehen können.

C.

Die Beklagte hat die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, in welchem Umfang zu erwartende Entgeltfortzahlungskosten über sechs Wochen im Kalenderjahr noch hinnehmbar sind, hat die Kammer die Revision nach § 72 Abs. 2 ArbGG zugelassen.

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