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Krankheitsbedingte Kündigung – Betriebliches Eingliederungsmanagement

Landesarbeitsgericht Hamm – Az.: 15 Sa 1787/17 – Urteil vom 22.03.2018

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 17.08.2017 – 1 Ca 791/16 – abgeändert. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 05.04.2016 nicht beendet worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer arbeitgeberseitigen Kündigung.

Der 1965 geborene Kläger, verheiratet und noch einem Kind unterhaltspflichtig, ist seit 1995 bei der Beklagten aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrags vom 09.01.1995 (für die Einzelheiten: Bl. 50 – 51 d. A.) beschäftigt. Er weist einen anerkannten Grad der Behinderung von 100 auf.

Die Beklagte, für deren Betrieb ein Betriebsrat gebildet ist, betreibt mit etwa 200 Arbeitnehmern ein Unternehmen der kunststoffverarbeitenden Industrie.

Der Kläger war zunächst in der Gerberei eingesetzt. Seit 1996 war er Mitarbeiter in der Abteilung „Führungsbahnabdeckungen“ und arbeitete über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren als Blockschweißer. Zum Zeitpunkt seiner Kündigung war er in der Abteilung „Trumpf“ tätig, beschäftigt mit HF-Schweißarbeiten. Das monatliche Bruttoentgelt des Klägers belief sich zuletzt auf 2.300,00 EUR.

Mit Schreiben vom 05.04.2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zu dem Klägers aus krankheitsbedingten Gründen zum 30.11.2016 (Bl. 10 d. A.).

Zuvor hatte das Integrationsamt Westfalen durch Bescheid vom 04.03.2016 die Zustimmung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses erteilt (Bl. 7 – 9R d. A.). Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, der abschlägig beschieden wurde. Der Kläger hat sodann Klage vor dem Verwaltungsgericht Minden (6 K 2594/17) gegen die Entscheidung des Widerspruchsausschusses erhoben, über die noch nicht entschieden ist.

Der Kläger wurde von der Beklagten im Rahmen eines Prozessarbeitsverhältnisses weiter beschäftigt. In diesem war er bis zum 10.04.2017 tätig und ist seitdem durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.

Gegen die Kündigung vom 05.04.2016 hat sich der Kläger mit seiner am 05.04.2016 bei Gericht eingegangenen Klage gewehrt. Er hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Trotz seiner erheblichen Vorerkrankungen sei er durchaus in der Lage, für die Beklagte vertragsgemäß zu arbeiten. Der Kläger geht zudem davon aus, dass die Entscheidung des Integrationsamts rechtswidrig sei, so dass die Kündigung der Beklagten an einer fehlenden Zustimmung scheitere. Der Kläger hat schließlich bestritten, dass der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß gehört worden sei.

Der Kläger hat beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgrund der Kündigung vom 05.04.2016 beendet worden ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die streitgegenständliche Kündigung als rechtswirksam verteidigt und gemeint, die Kündigung sei als krankheitsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers in der Vergangenheit begründeten die tatsächliche Vermutung, dass auch in Zukunft mit erheblichen Fehlzeiten zu rechnen sei. Der Kläger sei

  • im Jahr 2008 an 133 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2009 an 102 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2010 an 17 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2011 an 118 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2012 an 251 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2013 an 111 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2014 an 68 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2015 an 157 Arbeitstagen,
  • im Jahr 2016 an 33 Arbeitstagen (bis zur Kündigung)

krank gewesen.

Insgesamt habe sie in der Zeit von 2008 bis 2016 an Entgeltfortzahlungskosten 41.228,00 EUR aufgebracht. Diese Entgeltfortzahlungskosten seien für sie wirtschaftlich nicht mehr tragbar. Hinzu komme, dass ein Arbeitseinsatz des Klägers aufgrund der Häufigkeit und Dauer seiner Erkrankungen nicht mehr planbar sei. Seine persönlichen Fehlzeiten lägen deutlich über den Fehlzeiten aller anderen Mitarbeiter.

Aufgrund der hohen Fehlzeiten sei mit dem Kläger am 26.03.2008 ein Gespräch zur Einleitung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) geführt worden. In diesem Gespräch habe der Kläger mitgeteilt, dass die erheblichen Fehlzeiten in den ersten drei Monaten des Jahres auf einer Bypass-Operation beruhten. Im weiteren Verlauf sei eine Wiedereingliederung erfolgreich am 19.05.2008 abgeschlossen worden. Ihre Betriebsärztin, Frau Dr. N, habe mitgeteilt, dass keine gesundheitlichen Bedenken gegen die Arbeit an der Kleinblockschweißblockmaschine bestünden.

Im Jahr 2009 sei es zu einer längeren Krankheitsperiode vom 18.05. bis 27.09.2009 gekommen. In einem Gespräch am 31.08.2009 habe der Kläger mitgeteilt, dass er an beiden Händen habe operiert werden müssen. Die Operationen seien gut verlaufen.

Im Jahre 2011 sei es wieder zu langen Krankheitsperioden gekommen. Der Kläger sei an einem Krebsleiden erkrankt. Mit Rücksicht darauf seien mit ihm keine weiteren Gespräche geführt worden. Der Kläger sei dann im Jahr 2012 ganzjährlich arbeitsunfähig gewesen. Eine Reha-Maßnahme im November 2012 sei nicht erfolgreich gewesen; der Kläger sei arbeitsunfähig aus der Reha-Maßnahme entlassen worden. Im Jahr 2013 hätten die Fehlzeiten zunächst im normalen Bereich gelegen. Dann sei es erneut zu einer dauerhaften Fehlzeitenperiode gekommen. Im November 2013 habe der Kläger an einer weiteren Reha-Maßnahme teilgenommen. Daran angeschlossen habe sich eine Wiedereingliederungsmaßnahme. Beginnend mit dem Jahr 2014 werde der Kläger auf einem sehr leichten Arbeitsplatz eingesetzt, nämlich dem Arbeitsplatz HF-Schweißen. Gleichwohl habe es weiterhin erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten gegeben. Nach den Krankheitsbildern, die ihr bekannt seien, nämlich dass der Kläger an einer Herzerkrankung leide, aufgrund derer er sich im Jahr 2009 einer Bypass-Operation habe unterziehen müssen, zudem eine Erkrankung an den Händen, die im Mai/Juni 2009 hätten operiert werden müssen, sei davon auszugehen, dass es bei ihr – der Beklagten – keinen Arbeitsplatz gebe, den der Kläger einnehmen könne. Dies gelte insbesondere auch im Hinblick darauf, dass seitens des Gutachters gefordert worden sei, dass der Kläger nur an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden könne, an dem der Herzschrittmacher, den der Kläger trage, keine Bedeutung habe. Dies sei bei ihr jedoch nicht der Fall. Nach Auskunft ihrer Betriebsärztin träten an dem Arbeitsplatz HF-Schweißen relevante elektromagnetische Felder auf, aufgrund derer es dem Kläger als Träger eines Herzschrittmachers nicht möglich sei, diesen Arbeitsplatz einzunehmen. Die Einschränkungen, die per Gutachter vorgegeben worden seien, nämlich dass der Kläger weder Arbeiten durchführen solle, die im Stehen und Gehen erfolgten, noch dass er mehr als 10 kg heben könne, könnten nicht erfüllt werden. Auch der Arbeitsplatz als Staplerfahrer scheide für den Kläger aus. Hier sei zu berücksichtigen, dass der Kläger dabei teilweise „händisch“ Gewichte von 10 oder 20 kg heben müsse.

Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß gehört worden. Die Beklagte hat insoweit auf die schriftliche Anhörung vom 31.03.2016 (Bl. 27 – 30 d. A.) verwiesen. Der Betriebsrat habe unter dem 04.04.2016 Bedenken erhoben (Bl. 31 d. A.).

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben zu der Frage, ob der Kläger aufgrund seiner Gesundheit in der Lage ist, einen Arbeitsplatz bei der Beklagten einzunehmen, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Zentrums für Begutachtungen – Facharztzentrum Bochum. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Gutachtens (Bl. 111-120 d. A.) verwiesen.

Das Arbeitsgericht Bielefeld hat alsdann durch Urteil vom 17.08.2017 die Klage abgewiesen und entschieden, dass das Arbeitsverhältnis durch die streitgegenständliche Kündigung vom 05.04.2016 wirksam beendet worden sei. Es hat diese Entscheidung wesentlich wie folgt begründet:

Der Kläger sei in den letzten Jahren des Arbeitsverhältnisses in ganz erheblichem Maße arbeitsunfähig krank gewesen. Dies habe begonnen im Jahre 2008 mit 133 Arbeitstagen. In den letzten fünf Jahren sei der Kläger ebenfalls sehr erheblich erkrankt gewesen. Der Kläger leide im Wesentlichen an drei Krankheitsbildern: Er sei schwer herzkrank, Träger eines eingebauten Defibrillators und eines Herzschrittmachers. Er habe des Weiteren eine Krebskrankheit erlitten. Schließlich habe er an beiden Händen operiert werden müssen. Zudem habe der Kläger am 20.09.2015 einen Herzinfarkt erlitten. Die Frage, ob davon auszugehen sei, dass der Kläger auch weiterhin in erheblichem Maße bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses krank sein werde, habe der hinzugezogene Gutachter – auszugsweise – wie folgt beantwortet:

Anamnestisch ergibt sich eine Belastbarkeit von 75 Watt, da der Kläger sich selbständig ankleidet und auf der Ebene ohne Luftnot stabil mobil ist.

Mit dem neuimplantierten Kardiovertreter-Defibrillator kann er nicht mehr in dem Raum mit zwei Computer/Maschinen, in dem er zuvor gearbeitet hat, arbeiten, da mit einem Schrittmacher (ICD) eine Arbeit in einem solchen Raum nicht möglich ist.

Darüber hinaus ist drei Monate nach Auslösen des ICD der Kläger nicht fahrfähig bzw. ist bis zu diesem Zeitpunkt ein Fahrverbot auszusprechen. Eine längere Arbeitsunfähigkeit von drei bis vier Monaten wird nach dem genannten akuten Ereignis eintreten. Eine ambulante Rehabilitation mit Kardiotraining und geführter Gewichtsabnahme sollte erfolgen.

Mit dem hochmotivierten Kläger kann ca. vier Monaten eine berufliche Wiedereingliederung beginnen, die jedoch nicht in dem Raum, welcher für Schrittmacherträger verboten ist, durchgeführt werden kann. Eine berufliche Umsetzung ist demnach medizinisch notwendig.

Dem Gutachtenaufbau liegt die AWMF-Leitlinie „Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung“ zu Grunde.

Die Leistungsfähigkeit des Klägers von 75 Watt in der Spitze und 50 Watt auf Dauer sei extrem gering. Dies entspreche allenfalls dem, dass die betreffende Person in der Lage ist, auf einer Ebene zu gehen. Weitere körperliche Leistungen seien bei einer Dauerleistungsfähigkeit von 50 Watt ausgeschlossen. Hinzu komme, dass der Kläger sowohl einen Defibrillator als auch einen Herzschrittmacher trage. Der Kläger sei schwer herzleidend und habe am 20.09.2015 einen Herzinfarkt erlitten. Am 11.04.2017 habe der Kläger am Steuer seines Fahrzeuges einen Verkehrsunfall gehabt, weil eine Asystolie (Herzstillstand) eintrat. Das Leben des Klägers sei durch eine Wiederbelebung gerettet worden. Grund des Herzinfarkts sei eine erneute Verengung eines Bypasses gewesen. Daraufhin sei dem Kläger ein Defibrillator am 25.04.2017 implantiert worden. Nach Rehabilitation und Wiederherstellung der körperlichen Belastbarkeit sei es am 07.06.2017 zu einem erneuten Herzflimmern aufgrund einer gefährlichen Herzrhythmusstörung gekommen.

Das Gericht habe keinen Zweifel daran, dass der Kläger aufgrund seiner Konstitution nicht mehr in der Lage ist, seine arbeitsvertraglich geschuldete Leistung vollschichtig bei der Beklagten zu erbringen, so dass von einer objektiven Unmöglichkeit ausgegangen werden müsse, aufgrund derer das Arbeitsverhältnis von der Beklagten habe gekündigt werden dürfen.

Im Rahmen der Interessenabwägung sei zu sehen: Der Kläger sei zum Zeitpunkt der Kündigung 50 Jahre alt gewesen. Er sei einziger Ernährer seiner Familie und hätte zumindest zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch ein unterhaltspflichtiges Kind gehabt. Bis zur Erreichung der gesetzlichen Altersgrenze liege noch ein Zeitraum von 17 Jahren. Der Kläger habe deshalb ein ganz erhebliches Interesse an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Er sei sehr motiviert und halte die medizinischen Behandlungsanweisungen diszipliniert ein. Gleichwohl überwiege das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, da ein vertragliches Austauschverhältnis, wie es § 611 BGB vorsehe, nicht mehr gegeben sei. Der Kläger könne keine Arbeitsleistung mehr erbringen, die ein wirtschaftliches Interesse für die Beklagte habe. Es liege ein Fall der subjektiven Unmöglichkeit vor.

Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß angehört worden.

Gegen das dem Kläger am 23.11.2017 zugestellte erstinstanzliche Urteil hat dieser am 18.12.2017 Berufung eingelegt und diese mit einem am 09.01.2018 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Der Kläger wendet gegen das Urteil des Arbeitsgerichts im Wesentlichen ein, der Herzstillstand am 11.04.2017 dürfe zur Begründung der Kündigung nicht berücksichtigt werden, da abzustellen sei auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung. Auch habe im Hinblick auf seine Herzerkrankung ein bEM nicht stattgefunden.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 17.08.2017 (Az.: 1 Ca 791/18) abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 05.04.2016 nicht beendet worden ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die kardiologischen Erkrankungen des Klägers seit 2008. An der schweren Herzerkrankung des Klägers werde sich in Zukunft nichts mehr ändern. Die Prognose im Kündigungszeitpunkt habe sie vollends zutreffend gestellt. Auch lege der Kläger die betriebsärztliche Stellungnahme zu einem Einsatz im Versand nicht vor. Die Betriebsärztin habe die Feststellung getroffen, dass der Kläger seinen Arbeitsplatz im Betrieb bei dem HF-Schweißen nicht mehr wahrnehmen könne.

Wegen des weiteren tatsächlichen Vorbringens der Parteien wird verwiesen auf deren wechselseitige Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Protokolle der öffentlichen Sitzungen in erster und zweiter Instanz, die insgesamt Gegenstand der letzten mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet.

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom 17.08.2017 ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1,64 Abs. 2 Buchst. c,66 Abs. 1,64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO an sich statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden.

II. Auch in der Sache erweist sich die Berufung als begründet.

1. Entgegen der Entscheidung des Arbeitsgerichts ist die Kündigung vom 05.04.2016 rechtsunwirksam. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 1, 2 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt.

Die Beklagte hat die streitige Kündigung auf in der Person des Klägers liegende Gründe gestützt und gemeint, diese sei als krankheitsbedingte Kündigung sozial gerechtfertigt. Dem war nicht zu folgen.

a) Es kann dahinstehen, ob mit dem Arbeitsgericht im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 05.04.2017 eine negative Prognose hinsichtlich der Gesundheitsentwicklung des Klägers anzunehmen war. Zutreffend hat das Arbeitsgericht angenommen, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in einem ersten Prüfungsschritt festzustellen ist, ob im Kündigungszeitpunkt objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen zulassen.

b) Denn bei jeder Kündigung ist abschließend die Durchführung einer Interessenabwägung geboten, so auch bei der krankheitsbedingten Kündigung (st. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts, vgl. nur etwa BAG, 16.07.2015 – 2 AZR 15/15, BAGE 152, 118). Hier ist etwa zu prüfen, ob als milderes Mittel gegenüber der Beendigungskündigung die Weiterbeschäftigung des Klägers auf einem anderen, leidensgerechten Arbeitsplatz in Betracht kam. Eine aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers ausgesprochene Kündigung ist nämlich unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Mildere Mittel können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder eben die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz sein (BAG, 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, NZA 2015, 612). Sollte eine ausreichende Initiative zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) im Sinne des § 167 Abs. 2 SGB IX (alte Fassung: § 84 Abs. 2 SGB IX) mit dem auch zuletzt über sechs Wochen krankheitsbedingt arbeitsunfähigen Kläger nicht feststellbar sein, bestünden insoweit erhöhte Anforderungen an eine Darlegung von dessen objektiver Nutzlosigkeit durch die Beklagte (vgl. BAG, 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 , NZA 2016, 99). Im Streitfall traf die Beklagte insoweit eine erweiterte Darlegungs- und Beweislast. Sie hatte es verabsäumt, ein bEM durchzuführen. Ihrer Obliegenheit detailliert darzulegen, dass keine Möglichkeit bestanden habe, die Kündigung durch angemessene mildere Maßnahmen zu vermeiden, ist sie nicht nachgekommen.

c) Die Beklagte war gemäß § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, vor Ausspruch der streitigen Kündigung ein bEM vorzunehmen. Das bEM wird erforderlich, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist. Das ist gemäß § 191 BGB ein Zeitraum von 365 Tagen. Maßgeblich ist der jeweils zurückliegende Jahreszeitraum. In diesem Zeitraum war der Kläger wiederum an mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt. Es kommt dafür auf die Gesamtheit der Fehltage und nicht darauf an, ob einzelne durchgehende Krankheitsperioden den Zeitraum von sechs Wochen überschritten (BAG, 24.03.2011 – 2 AZR 170/10, NZA 2011, 993). Die Durchführung eines bEM setzt nicht voraus, dass bei dem betroffenen Arbeitnehmer eine Behinderung vorliegt (BAG, 30.09.2010 – 2 AZR 88/09, NZA 2011, 39). Die Krankheitszeiten hätten die Beklagte veranlassen müssen, dem Kläger erneut ein bEM anzubieten. Ob die Beklagte am 26.03.2008 ein bEM durchgeführt hat, kann offenbleiben. Selbst wenn man die Durchführung des bEM am 26.03.2008 unterstellt, wirkt dies nur so lange fort, bis sich in einem Zeitraum von maximal 365 Tagen abermals Fehlzeiten im in § 167 Abs. 2 Satz SGB IX genannten Umfang angesammelt haben. Denn die neuen Arbeitsunfähigkeitszeiten können das Ergebnis des bEM ändern. Die bisherigen Ergebnisse können überholt oder entfallen sein (LAG Schleswig-Holstein, 03.06.2015 – 6 Sa 396/14). Es ist zudem Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des bEM zu ergreifen (BAG, 07.02.2012 – 1 ABR 46/10, NZA 2012, 744).

d) Das Unterlassen eines bEM führt hier dazu, dass die Kündigung unverhältnismäßig ist.

aa) Die Durchführung des bEM ist zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX ist dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden (BAG, 20.03.2014 – 2 AZR 565/12, NZA 2014, 602).

bb) Möglich ist, dass auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall darf dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen hat. Will sich der Arbeitgeber hierauf berufen, hat er die objektive Nutzlosigkeit des bEM darzulegen und ggf. zu beweisen. Dazu muss er umfassend und detailliert vortragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz, noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen seien und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM im keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten (BAG, 20.03.2014 – 2 AZR 565/12, a.a.O.).

cc) Ist es dagegen denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau der Fehlzeiten also Erfolg gehabt hätte, muss sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe „vorschnell“ gekündigt.

dd) Ein bEM ist nicht nur bei lang andauernden Krankheiten geboten. Es ist auch bei häufigen Kurzerkrankungen des Arbeitnehmers nicht ausgeschlossen oder von vorneherein überflüssig. Nach der gesetzlichen Regelung des § 167 Abs. 2 SGB IX kommt es allein auf den Umfang, nicht auf die Ursache der Erkrankungen an. Auch aus Krankheiten, die auf unterschiedlichen Grundleiden beruhen, kann sich – zumal wenn sie auf eine generelle Krankheitsanfälligkeit des Arbeitnehmers hindeuten – eine Gefährdung des Arbeitsverhältnisses ergeben, der das bEM entgegenwirken soll (BAG, 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, a.a.O.). Dies ist hier ohne weiteres der Fall, als die Erkrankungen des Klägers verschiedene Ursachen haben.

ee) Dem Vorbringen der Beklagten ist nicht zu entnehmen, dass einem künftigen Auftreten erheblicher, über sechs Wochen hinausgehender Fehlzeiten des Klägers durch innerbetriebliche Anpassungsmaßnahmen nicht hätte entgegengewirkt werden können. Dass ihr entsprechende Maßnahmen nicht möglich oder zumutbar gewesen wären, hat sie nicht aufgezeigt.

Zudem hätten bei Durchführung eines bEM Rehabilitationsbedarfe in der Person des Klägers erkannt werden und durch entsprechende Maßnahmen künftige Fehlzeiten möglicherweise reduziert werden können. Denn es ist möglich, dass der Kläger sich durch eine oder mehrere bEM-Maßnahmen veranlasst gesehen hätte, zu seiner Gesundheitsprävention aktiv beizutragen. In einem bEM hätten die Maßnahmen zur Gesundheitsprävention auch durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger unterstützt werden können. Solche Maßnahmen muss der Arbeitgeber grundsätzlich in Erwägung ziehen (BAG, 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, a.a.O.). Hat er ein bEM unterlassen, muss er von sich aus ihre objektive Nutzlosigkeit aufzeigen und ggf. beweisen. Daran fehlt es.

2. Offen bleiben kann bei diesem Ergebnis, ob die Kündigung auch wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht des § 102 Abs. 1 BetrVG rechtsunwirksam ist.

III. Die im Rechtsstreit unterlegene Beklagte hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten zu tragen.

Gründe gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG für eine Zulassung der Revision lagen nicht vor.

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