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Krankheitsbedingte Kündigung – Verpflichtung zum erneuten Angebot eines bEM

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Az.: 17 Sa 57/21 – Urteil vom 10.02.2022

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 19. Mai 2021 – Az: 15 Ca 3932/20 – abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Mai 2020 nicht aufgelöst wurde.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin über den 31. Dezember 2020 hinaus arbeitsvertragsgemäß als Sachbearbeiterin in S. bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über den Kündigungsschutzantrag weiter zu beschäftigen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits in zweiter Instanz hat die Beklagte zu tragen.

Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz hat die Beklagte zu 81 % und die Klägerin zu 19 % zu tragen.

III. Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung und einen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Die am xx.xx.xxxx geborene, . . . , einem schwerbehinderte Menschen gleichgestellte Klägerin war ab dem 1. Januar 1999 bei der Beklagten in S. als Versicherungssachbearbeiterin in Teilzeit mit 20 Wochenstunden zu einer Bruttomonatsvergütung in Höhe von zuletzt 2.105,75 Euro beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb in S. weit mehr als zehn Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung sind im Betrieb gebildet.

Bei der Tätigkeit als Versicherungssachbearbeiterin handelt es sich um eine überwiegend im Sitzen ausgeführte Tätigkeit. Die Arbeit findet am Telefon und am PC statt. Der Klägerin wurden Geschäftsvorfälle zur Bearbeitung zugewiesen. Für die Bearbeitung gab es je nach Geschäftsvorfall einzuhaltende Vorgaben. Zur Stelle gehört auch die Kommunikation mit in- und externen Stellen, die per Telefon oder schriftlich stattfinden kann. Der Arbeitsplatz der Klägerin befand sich in einem sog. Gruppenarbeitsraum. Hierbei handelt es sich um ein Büro, in dem mehrere Schreibtische mit Computern und Telefonen stehen und in dem mehrere Personen arbeiten. Die gesetzlichen Vorgaben zum Arbeitsschutz wie z.B. Beleuchtung, Lüftung, Heizung wurden stets eingehalten. Die Arbeit findet nicht im Schichtdienst statt und üblicherweise auch nicht in der Nacht oder am Wochenende. Im Rahmen einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitflexibilisierung (BV Flexible Arbeitszeit) können die Mitarbeiter weitgehend selbst über Beginn und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit sowie über die Lage der Pausen bestimmen.

Die Klägerin war vom 12. Dezember 2014 an bis zum 27. Mai 2020 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Am 21. Februar 2019 stellte die Klägerin sich auf Aufforderung der Beklagten beim Betriebsarzt vor, der keine eigene Untersuchung durchführte, sondern zunächst die Vorlage sämtlicher Arztberichte und Befunde forderte, keine Auskunft zu den von ihm vorgesehenen Untersuchungen und hierfür benötigten Informationen gab und den Vorschlag der Klägerin, dass er Kontakt mit der behandelnden Ärztin aufnehme, ablehnte.

Am 24. Mai 2019 fand auf Initiative der Klägerin ein Präventionsgespräch statt, an dem auch Mitarbeiterinnen des Integrationsamts teilnahmen. Mit Schreiben vom 24. Mai 2019 (Blatt 106 bis 109 ArbG-Akte) lud die Beklagte die Klägerin zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (im Folgenden: bEM) ein. Die Klägerin teilte mit Schreiben vom 3. Juni 2019 (Blatt 173 bis 174 LAG-Akte) mit, dass sie an einem beM teilnehmen wolle, sie unterzeichnete aber die ihr diesbezüglich übermittelte datenschutzrechtliche Einwilligung nicht, sondern stellte Rückfragen und wählte eigene Formulierungen. Hierauf erhielt die Klägerin mit Schreiben vom 25. Juni 2019 eine Einladung zu einem Gespräch am 24. Juli 2019. In diesem Gespräch wurde die Klägerin von der Beklagten darauf hingewiesen, dass ohne Unterschrift der von der Beklagten formulierten Datenschutzerklärung ein bEM-Verfahren nicht durchgeführt werden könne. Das bEM-Verfahren wurde in der Folge nicht fortgesetzt, ein weiteres bEM wurde nicht mehr angeboten. Auch danach wies die Beklagte die Klägerin mehrfach, zuletzt in einem Gespräch vom 27. August 2019, darauf hin, dass eine Durchführung eines bEM ohne die datenschutzrechtliche Einwilligung nicht möglich sei.

Zwischen dem 28. November 2018 und dem 16. Dezember 2019 stellte die Klägerin sechs Wiedereingliederungsanträge. Hiervon kam nur aus dem Plan vom 13. September 2019 (Blatt 142 LAG-Akte) eine Wiedereingliederung zustande, die vom 17. September 2019 bis zum 29. Oktober 2019 dauerte. In dieser Zeit wurde der Klägerin ein höhenverstellbarer Schreibtisch, nicht aber ein Einzelbüro oder ein sog. Active Noise Cancelling Headset zur Verfügung gestellt.

Mit Schreiben vom 22. November 2019 (Blatt 114 bis 126 ArbG-Akte) hörte die Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung der Klägerin an. Mit Schreiben vom 25. November 2019 (Blatt 127 ArbG-Akte) teilte der Betriebsrat der Beklagten mit, dass er den Vortrag der Beklagten zur beabsichtigten Kündigung der Klägerin im Rahmen einer Sondersitzung vom 22. November 2019 zur Kenntnis genommen und beschlossen habe, sich nicht weiter zum Kündigungsvortrag zu äußern.

Mit Antrag vom 10. Dezember 2019 beantragte die Beklagte die Zustimmung des Integrationsamtes zur beabsichtigten ordentlichen personenbedingten Kündigung der Klägerin. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt wurde eine Stellungnahme der die Klägerin behandelnden Ärztin vom 4. März 2020 eingeholt (Blatt 105 ArbG-Akte), die auszugsweise lautet:

„Wie bei jeder chronischen Erkrankung ist aus ärztlicher Sicht keine Verlaufsprognose voraussagbar. Chronische Erkrankungen sind von multiplen Faktoren abhängig. Es wird, wie bei vielen Arbeitnehmern mit chronischen Erkrankungen, auf das Arbeitsumfeld und die Arbeitsplatzfaktoren, welche, aus ärztlichen Erfahrungen, auf die Stabilisierung und den Verlauf, einen entscheidenden Einfluss haben, hingewiesen. (…)

Die erwartete Leistungsfähigkeit wäre durch eine gute Zusammenarbeit und Unterstützung sicherlich zu erzielen. Bei der Teilzeitbeschäftigung und in Anbetracht der Langzeiterkrankung und Einschränkungen werden Möglichkeiten für Schulungen und Qualifizierungen empfohlen. (…)

Bezug nehmend auf weitere Fehlzeiten ist aus momentaner ärztlicher Sicht und auf Grund ausstehender, weiterer Entscheidungen des Integrationsamtes sowie der [Name der Beklagten] nicht absehbar. Für die Rückführung, stufenweise Erlangung der Arbeitsfähigkeit, wurden Wiedereingliederungen und Verlängerungen ausgestellt. (…)

Allgemeine, weitere Faktoren, welche berücksichtigt, vermindert, auszuschließen wären: Psychische Belastungsfaktoren, Anpassung der Aufgabenbereich, regelmäßige, kurze Pausen, ausreichende Zeitfenster für Übungen und praktische Routine, die wöchentliche Teilzeitarbeit auf 2-3 Tage zu verlagern und die Wiedereingliederung auf täglich 4h durchzuführen.“

Mit Bescheid vom 18. Mai 2020 (Blatt 128 bis 140 ArbG-Akte, auf den Inhalt wird Bezug genommen), den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zugegangen am 25. Mai 2020, erteilte das Integrationsamt die Zustimmung zu der beabsichtigten Kündigung. Der Bescheid lautet auszugsweise:

„Sachverhalt:

In ihrer Stellungnahme vom 03.03.2020 erklärt Frau Dr. F., dass Frau X. unterhalbschichtig von 2 bis 3 Stunden täglich, in Tagesschicht, in temperierten Räumen arbeiten könne. Frau X. könne Heben, Tragen oder Hantieren mit entsprechendem Kraftaufwand bis max. 5 kg. Die Arbeitshaltung sei zeitweise Stehen, Gehen, Sitzen im Wechsel. Auszuschließen sei: erhöhter Zeitdruck, Fahr- und Steuertätigkeiten, Arbeiten unter erhöhter Verletzungsgefahr, Stehen/Arbeiten auf Leitern, Gase, Dämpfe, Aerosole, Stäube, Rauch, Lösemittel, Öle, Fette, Vibrationen, Torsion der Wirbelsäule, seitliche Rumpfneigung, Zwangshaltungen, Nässe, Kälte, Zugluft, Temperaturschwankungen, Hitze, Lärm, erhöhte psychische Anforderungen, erhöhte Anforderungen an die Feinmotorik der Hände. Vermieden werden sollte: Erhöhte Anforderungen an die Grobmotorik der Hände.

(…)

Aus Sicht der Fachberaterin des Integrationsfachdienstes sei es für die zukünftige Wiederaufnahme von Arbeit entscheidend, dass Frau X. in Form einer rehabilitativen Maßnahme bei einer Leistungs- und Belastungserprobung durch den Maßnahmeträger eng begleitet werde. Langfristig könne im Rahmen einer medizinischen Reha eine berufliche Perspektive erarbeitet werden, bei der der Zusammenhang zwischen chronischer Schmerzerkrankung, depressiver Symptomatik und Arbeitskonflikt betrachtet werde. Dies würde allerdings die Zustimmung von Frau X. voraussetzen.

(…)

Entscheidungsgründe:

(…)

Das Integrationsamt hat weiter berücksichtigt, dass aus Sicht der Fachberaterin des Integrationsfachdienstes für die zukünftige Wiederaufnahme von Arbeit entscheidend ist, dass Frau X. in Form einer rehabilitativen Maßnahme bei einer Leistungs- und Belastungserprobung durch den Maßnahmeträger eng begleitet wird. Langfristig könnte im Rahmen einer medizinischen Reha eine berufliche Perspektive erarbeitet werden. Dass dies die Zustimmung von Frau X. voraussetzt zeigt, dass dies im Moment nicht möglich ist.“

Mit Schreiben vom 26. Mai 2020, der Klägerin zugegangen am 27. Mai 2020, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis daraufhin ordentlich zum 31. Dezember 2020.

Mit der am 9. Juni 2020 bei Gericht eingegangenen Klage machte die Klägerin geltend, die streitgegenständliche Kündigung vom 26. Mai 2020 sei unwirksam. Die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG. Sie sei nicht durch Gründe in der Person der Klägerin bedingt. Vorsorglich werde die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritten. Auch werde bestritten, dass die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß angehört worden sei.

Die Klägerin hat erstinstanzlich zuletzt beantragt:

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Mai 2020 nicht zum 31. Dezember 2020 und auch zu keinem anderen Zeitpunkt aufgelöst wird;

2. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin über den 31. Dezember 2020 hinaus zu unveränderten Bedingungen arbeitsvertragsgemäß als Sachbearbeiterin in Stuttgart weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie meinte, die Kündigung sei wirksam. Sie sei aus krankheitsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Die lang andauernde Erkrankung verbunden mit der Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 4. März 2020 begründe die negative Prognose, dass es sich um eine dauerhafte gesundheitliche Einschränkung handele. Da das Arbeitsverhältnis mangels Austausch von Arbeitsleistung und -entgelt seit Jahren nur noch als sinnentleerte Hülle bestehe und zudem nicht damit zu rechnen sei, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern werde, sei es der Beklagten nicht zuzumuten, weiter am Arbeitsverhältnis festzuhalten.

Die Weigerung der Klägerin zur Abgabe der von der Beklagten geforderten datenschutzrechtlichen Einwilligung sei nicht anders zu bewerten, als wenn die Klägerin dem am 25. Mai 2020 angebotenen bEM insgesamt nicht zugestimmt hätte. Eine Veranlassung, vor Ausspruch der Kündigung einen weiteren Versuch der Durchführung eines bEM zu unternehmen, habe nicht bestanden. Nach der Ablehnung im August 2019 habe gem. § 167 Abs. 2 SGB IX nicht vor September 2020 ein neuerlicher Versuch gestartet werden müssen. Jeder neuer Versuch eines bEM wäre ferner voraussichtlich wieder an demselben Problem gescheitert, nachdem es keine Anzeichen dafür gegeben habe, dass die Klägerin ihre Position im Hinblick auf den Datenschutz geändert habe. Ein milderes Mittel gegenüber der Beendigungskündigung sei nicht ersichtlich. Insbesondere könne auch kein leidensgerechter Arbeitsplatz zugewiesen werden. Nachdem die Beklagte bei Ausspruch der Kündigung keine Informationen über den Gesundheitszustand der Klägerin gehabt habe, müsse bestritten werden, dass ein leidensgerechter Arbeitsplatz überhaupt existiere. Alle Tätigkeiten, welche bei der Beklagten vorhanden seien und für welche die Klägerin qualifiziert sei oder mit zumutbaren Aufwand qualifiziert werden könne, würden ähnliche körperliche und geistige Anforderungen aufweisen, so dass angenommen werden müsse, dass die Arbeitsunfähigkeit auch bei einer Versetzung in eine andere Abteilung fortbestehen würde. Die Klägerin habe auch im Rahmen des Verfahrens vor dem Integrationsamt keine konkret umsetzbaren Schritte genannt, welche in der Summe einen leidensgerechten Arbeitsplatz hätten ergeben können.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 19. Mai 2021 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung sei wirksam. Eine negative Prognose liege vor. Der durch die sehr lange Arbeitsunfähigkeit in der Vergangenheit begründeten Indizwirkung sei die Klägerin nicht entgegengetreten. Nachdem aufgrund der negativen Prognose davon auszugehen sei, dass die Klägerin weiter unabsehbar lange fehle, sei die erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen infolge des sinnentleerten Austauschverhältnisses – bezogen auf den bisherigen Arbeitsplatz der Klägerin – indiziert. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass mildere Mittel als eine Beendigungskündigung gegeben gewesen wären, um die erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen der Beklagten zu vermeiden, insbesondere durch eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung der Klägerin. Zwar spreche Vieles dafür, dass die Beklagte kein ordnungsgemäßes bEM durchgeführt habe. Ein weiteres beM-Angebot habe wohl erfolgen müssen und sei nicht gemacht worden, obwohl die Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 SGB IX in der Zwischenzeit erneut vorlagen. Selbst wenn kein ordnungsgemäßes bEM durchgeführt worden sein sollte, gelte hier jedoch keine verschärfte Darlegungslast der Beklagten, weil die Klägerin keine Angaben gemacht habe, welche Diagnosen ihren Arbeitsunfähigkeitszeiten zu Grunde lagen. Der „normalen“ Darlegungslast habe die Beklagte genügt, indem sie dargelegt habe, dass und – soweit ihr überhaupt möglich – weshalb eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung der Klägerin aus ihrer Sicht nicht möglich sei. Hierauf habe die Klägerin konkret erwidern und insbesondere darlegen müssen, wie sie sich eine Änderung des bisherigen Arbeitsplatzes oder eine anderweitige Beschäftigung vorgestellt habe, die sie trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung hätte ausüben können. Mangels jeglichen Vortrags der Klägerin hierzu sei davon auszugehen, dass für die Beklagte keine Möglichkeit einer leidensgerechten Weiterbeschäftigung der Klägerin bestanden habe. Die Interessenabwägung führe nicht zu einem Überwiegen der Interessen der Klägerin an einem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört und die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß beteiligt worden. Sonstige Unwirksamkeitsgründe seien nicht ersichtlich. Die Kündigungsfrist sei gewahrt. Der als uneigentlicher Hilfsantrag auszulegende Weiterbeschäftigungsantrag sei nicht zur Entscheidung angefallen.

Gegen das ihr am 26. Mai 2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17. Juni 2021 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 28. August 2021 am 28. August 2021 begründet.

Die Klägerin meint, die Kündigung sei nicht sozial gerechtfertigt. Eine negative Zukunftsprognose habe ebenso wenig vorgelegen wie eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Darüber hinaus hätten mildere Mittel zur Verfügung gestanden.

Die Klägerin hat im Rahmen der Berufungsbegründung die den Zeiten ihrer Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden ärztlichen Diagnosen in Form einer Auskunft ihrer Krankenkasse (Blatt 78 LAG-Akte) sowie diverser Entlassungsberichte (Blatt 81 bis 103 LAG-Akte) und ärztlicher Stellungnahmen (insbesondere Blatt 79 bis 80, 104 bis 108, 112 bis 113 LAG-Akte) offengelegt und sämtliche behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden. Nach dem ebenfalls vorgelegten Bescheid über die Feststellung der Behinderung vom 14. April 2015 (Blatt 114 bis 115 LAG-Akte) lagen bei ihr insbesondere folgende Beeinträchtigungen vor: Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Schulter-Arm-Syndrom, Depression, Psychovegetative Störungen, Chronisches Schmerzsyndrom, Kopfschmerzsyndrom, Bronchialasthma, Gebrauchseinschränkung beider Beine, Ohrgeräusche beidseitig (Tinnitus), Schwindel. Von einer dauernden Leistungsunfähigkeit sei nicht auszugehen. Bereits aus der Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 4. März 2020 ergebe sich, dass mit einer Stabilisierung des Gesundheitszustands der Klägerin zu rechnen gewesen sei.

Darüber hinaus habe es mildere Mittel, nämlich die Möglichkeit zur leidensgerechten Beschäftigung gegeben. Die Klägerin habe das am 24. Mai 2019 angebotene bEM nicht abgelehnt, sondern ein solches sei von der Beklagten pflichtwidrig unterlassen worden. Die Einschränkung der Einwilligung in den Umfang der Datenverarbeitung sei kein Hinderungsgrund für die Durchführung eines bEM. Das Angebot eines bEM sei ferner aus mehreren Gründen fehlerhaft gewesen, insbesondere aufgrund der vorgesehenen Beteiligung der verantwortlichen Mitarbeiterin der Personalabteilung, wegen eines fehlenden Hinweises auf eine mögliche Kündigung als Folge fehlender Zustimmung und wegen eines fehlenden Hinweises auf die Hinzuziehung der Rehabilitationsträger und des Integrationsamts. Zudem habe aufgrund der fortbestehenden Erkrankung der Klägerin vor Ausspruch einer Kündigung ein weiteres bEM angeboten werden müssen. Die Beklagte habe daher die objektive Nutzlosigkeit eines bEM im konkreten Fall darlegen und beweisen müssen. Diesen hohen Anforderungen sei die Beklagte nicht gerecht geworden. Es habe mögliche Maßnahmen zur leidensgerechten Anpassung des Arbeitsplatzes der Klägerin gegeben. Durch einen Einsatz in einem Einzelbüro oder alternativ die Bereitstellung eines sog. Active Noise Cancelling Headsets hätte zB die Konzentrationsfähigkeit erheblich gesteigert sowie die Belastung und der Stress durch Tinnitus gesenkt werden können. Die Gewährung eines längeren Einarbeitungszeitraums zum Erlernen der veränderten Technik und neuen Aufgaben der Sachbearbeitung ohne Leistungsdruck hätte es ihr ermöglicht, sich überhaupt die erforderlichen Wissengrundlagen zur ordnungsgemäßen Erledigung ihrer Aufgaben neu anzueignen. Solche und vermutlich weitere Möglichkeiten zur leidensgerechten Beschäftigung hätten im Rahmen eines bEM herausgefunden werden können.

Die Klägerin meint, ihr Sachvortrag in der Berufungsbegründung sei nicht präkludiert, sondern in Anwendung von § 67 Abs. 2 ArbGG zuzulassen. Eine Zurückweisung in analoger Anwendung von § 67 ArbGG sei mangels planwidriger Regelungslücke ausgeschlossen.

Die Klägerin beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 19. Mai 2021, Az. 15 Ca 3932/20 wird abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 26. Mai 2020 nicht zum 31. Dezember 2020 und auch zu keinem anderen Zeitpunkt aufgelöst wurde.

3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin über den 31. Dezember 2020 hinaus bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über den Kündigungsschutzantrag zu unveränderten Bedingungen arbeitsvertragsgemäß als Sachbearbeiterin in S. weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung kostenpflichtig abzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts unter Wiederholung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens und ist nach wie vor der Ansicht, dass die Kündigung wirksam ist.

Der Sachvortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung sei präkludiert, jedenfalls aber analog § 67 ArbGG zurückzuweisen.

Es sei von einer negativen Prognose auszugehen. Die Beklagte könne nicht beurteilen, ob die Liste der Diagnosen zutreffend und vollständig sei und bestreite mit Nichtwissen, dass die Auflistung der gesundheitlichen Probleme vollständig, aktuell und zutreffend sei. Jedenfalls begründe allein die Spondylose, die schon im Dezember 2014 zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe und dies auch im Dezember 2020 noch tat, die negative Prognose. Auch der Tinnitus habe schon 2015 vorgelegen und liege immer noch vor. Im Übrigen könne nur spekuliert werden, welche Erkrankungen überwunden seien und welche nicht; mit Nichtwissen werde bestritten, dass auch nur einige der von der Klägerin genannten gesundheitlichen Probleme überwunden seien. Es sei daher von einer auf absehbare Zeit fortbestehenden vollständigen Arbeitsunfähigkeit auszugehen und der Beklagten daher nicht zumutbar, die bloße Hülle eines Arbeitsverhältnisses auf Dauer fortzuführen.

Mildere Mittel habe es nicht gegeben. Die Durchführung eines bEM sei objektiv unmöglich gewesen, weil sich die Zustimmung des Mitarbeiters nicht nur auf das bEM per se, sondern auch auf die Verarbeitung von Gesundheitsdaten beziehen müsse. Die Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, erneut ein bEM anzubieten. Die vom Arbeitsgericht hierzu zitierten Entscheidungen seien nicht überzeugend. Aus § 167 Abs. 2 SGB IX folge jedenfalls nicht, dass im Falle einer Langzeiterkrankung eine einzige Arbeitsunfähigkeit mehr als einmal die Pflicht für ein bEM auslöse, jedenfalls nicht mehr als einmal im Jahr. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber eine solch überbordende und im Ergebnis für beide Seiten sinnlose Pflicht für Dauertatbestände habe schaffen wollen. Die Klägerin habe im Übrigen im Rahmen der versuchten Wiedereingliederung und im Verfahren vor dem Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung jederzeit die Möglichkeit gehabt, auf gesundheitliche Probleme hinzuweisen und Verbesserungsmöglichkeiten anzusprechen, habe dies aber allenfalls rudimentär getan.

Auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Erkenntnisse über die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin sei ein Arbeitsplatz, der allen körperlichen und seelischen Problemen der Klägerin gerecht werde, nicht vorhanden gewesen. Es sei nicht ersichtlich, dass im Unternehmen der Beklagten eine Stelle vorhanden sei, die deutlich besser zu den vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen passe, als der bisherige Arbeitsplatz, in Bezug auf den die Klägerin jedoch langjährig arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Die Klägerin habe dies auch nicht widerlegen und keinen Arbeitsplatz benennen können, der allen ihren Problemen soweit Rechnung getragen hätte, dass wieder von einer Arbeitsfähigkeit auszugehen gewesen wäre. Die Bereitstellung eines Einzelbüros oder spezieller Kopfhörer sei zur Vermeidung der Arbeitsunfähigkeit im Hinblick auf die vorhandene Spondylose nicht ausreichend. Nachdem die Klägerin außerdem im Rahmen der Wiedereingliederung weit von einer Normalleistung blieb, sei es der Beklagten nicht zuzumuten, dauerhaft eine erhebliche Minderleistung hinzunehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens in beiden Instanzen wird gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der erst- und zweitinstanzlich gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über die mündlichen Verhandlungen beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

A.

Bedenken bezüglich der Zulässigkeit der Berufung bestehen nicht. Sie ist gem. § 64 Abs. 2 Buchst. b und c ArbGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere gem. §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG iVm. §§ 519, 520 Abs. 3 Satz 2 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und ausreichend begründet worden.

B.

Die Berufung ist begründet. Die Klage ist zulässig und begründet.

I.

Die Klage ist nach gebotener Auslegung zulässig. Der Weiterbeschäftigungsantrag war entsprechend der Klarstellung der Klägerin in der Berufungsverhandlung dahin auszulegen, dass der Teilsatz „zu unveränderten Bedingungen“ kein eigenständiges Begehren, sondern lediglich eine Floskel darstellt, die die begehrte Beschäftigung zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen als Sachbearbeiterin bekräftigen sollte. Aus der Antragsbegründung ließ sich kein weitergehendes Begehren entnehmen. Zudem war der Antrag aufgrund der Klagebegründung, in der sich die Klägerin hierzu auf den allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch berief, als uneigentlicher Hilfsantrag für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag für die Zeit bis zur Rechtskraft einer Entscheidung auslegen. Dieses Verständnis hat die Klägerin in der Berufungsverhandlung ebenfalls bestätigt. Mit dieser Auslegung ist der Antrag hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

II.

Die Klage ist begründet. Die streitgegenständliche Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet (1.). Der Klägerin steht deshalb der geltend gemachte Weiterbeschäftigungsanspruch zu (2.).

1. Die rechtzeitig erhobene Kündigungsschutzklage ist begründet. Die im Anwendungsbereich des KSchG ausgesprochene streitgegenständliche Kündigung der Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet. Die Kündigung ist nicht aus personenbedingten (krankheitsbedingten) Gründen sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG.

a) Die Überprüfung der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung ist in drei Stufen vorzunehmen. Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG, wenn eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegt – erste Stufe –, eine darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen ist – zweite Stufe – und eine Interessenabwägung ergibt, dass die betrieblichen Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen – dritte Stufe – (st. RSpr., vgl. zB BAG 13. Mai 2015 – 2 AZR 565/14 – Rn. 12 mwN).

b) Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Kündigung der Beklagten nicht sozial gerechtfertigt. Offenbleiben konnte dabei, ob der Klägerin eine negative Gesundheitsprognose zu stellen ist und ob die zu prognostizierenden arbeitsunfähigkeitsbedingten Fehlzeiten zu erheblichen betrieblichen Auswirkungen führen. Jedenfalls erweist sich die Kündigung als unverhältnismäßig. Die Beklagte hätte vor Ausspruch der Kündigung nochmals den Versuch eines beM unternehmen müssen. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass das bEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

aa) Eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern (BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 12 mwN).

Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten (BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 13).

bb) Vorliegend wurde die Klägerin von der Beklagten zuletzt mit Schreiben vom 24. Mai 2019 zu einem beM eingeladen. Selbst wenn zugunsten der Beklagten angenommen würde, dass die Einladung ordnungsgemäß war und die Antwort der Klägerin hierauf als Ablehnung zu verstehen ist, hätte die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung keine vorherige ordnungsgemäße Durchführung eines bEM versucht. Denn die Beklagte wäre – wie schon das Arbeitsgericht unter I.1.a) cc) ddd) (4) (a) der Urteilsgründe zu Recht angenommen hat – dann verpflichtet gewesen, wegen erneuten Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX noch vor Einleitung des Verfahrens vor dem Integrationsamt ein erneutes bEM einzuleiten.

(1) In der Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte wurde bereits mehrfach bejaht, dass ein Arbeitgeber verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer nach Beendigung eines vorangegangenen bEM ein erneutes bEM anzubieten, wenn innerhalb des der Kündigung vorausgegangenen Jahres erneut Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen aufgetreten sind, seit der Beendigung des letzten bEM aber noch kein Jahr vergangen ist (vgl. LAG Düsseldorf 9. Dezember 2020 – 12 Sa 554/20 – Rn. 67 ff.; LAG Rheinland-Pfalz 10. Januar 2017 – 8 Sa 359/16 – Rn. 31 ff.; LAG Schleswig-Holstein 3. Juni 2015 – 6 Sa 396/14 – Rn. 113; LAG Hamm 29. Mai 2018 – 7 Sa 48/18 – Rn. 59; LAG Düsseldorf 20. Oktober 2016 – 13 Sa 356/16 – Rn. 36).

Auch das Bundesarbeitsgericht hat in der Entscheidung vom 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – angenommen, dass der Arbeitgeber gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX grundsätzlich ein neuerliches bEM durchzuführen hat, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist; hierfür spreche der Gesetzeswortlaut und der Sinn und Zweck des bEM, durch eine geeignete Gesundheitsprävention das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft zu sichern (vgl. BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 18 ff. mit ausführlicher Begründung). War der Suchprozess in einem vorherigen bEM zunächst abgeschlossen, entsteht eine erneute Verpflichtung des Arbeitgebers, ein bEM zu initiieren, grundsätzlich auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen bEM hinaus ununterbrochen weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat; selbst bei einer ununterbrochen andauernden Arbeitsunfähigkeit können sich, nachdem sie weitere mehr als sechs Wochen angedauert hat, neue Erkenntnismöglichkeiten für zielführende Präventionsmaßnahmen ergeben (vgl. BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 31 mwN). Hat der Arbeitgeber seiner Initiativlast zur Durchführung eines bEM genügt, der Arbeitnehmer einem solchen jedoch zunächst seine Zustimmung nicht erteilt, ist der Arbeitgeber dennoch grundsätzlich gehalten, den weiteren Versuch eines bEM zu unternehmen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres, nachdem er die Durchführung eines bEM abgelehnt hat, erneut mehr als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig gewesen ist, selbst wenn seit der nicht erteilten Zustimmung nicht bereits wieder ein Jahr vergangen ist (BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 32 mwN).

Die erkennende Kammer hält diese Auffassung für überzeugend und schließt sich der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in der genannten Entscheidung vollinhaltlich an. Eine erneute Einladung bzw. eine konkrete Nachfrage des Arbeitgebers, ob sich etwas an der Bereitschaft des Arbeitnehmers zur Durchführung eines bEM geändert hat, stellt entgegen der Auffassung der Beklagten insbesondere auch keinen unzumutbaren bürokratischen Aufwand dar (vgl. ähnlich BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 32).

(2) Unter Zugrundelegung der Rechtsansicht der Beklagten wäre das am 24. Mai 2019 angebotene beM entweder schon mit dem von der Beklagten als Ablehnung gewerteten Schreiben der Klägerin vom 3. Juni 2019, spätestens jedoch am 24. Juli 2019 beendet gewesen. Zwischen diesen Tagen und dem Antrag der Beklagten vom 10. Dezember 2019 an das Integrationsamt auf Zustimmung zur Kündigung lagen jeweils erneut mehr als sechs Wochen, in denen die Klägerin weiterhin durchgehend arbeitsunfähig krank war. Die Beklagte wäre also verpflichtet gewesen, schon vor der Antragstellung beim Integrationsamt erneut ein bEM einzuleiten.

Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf verwies, sie habe auch nach dem 3. Juni 2019 bzw. 24. Juli 2019, zuletzt in einem Gespräch vom 27. August 2019, die Klägerin mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Durchführung des bEM ohne eine datenschutzrechtliche Einwilligung nicht möglich sei, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Auch zwischen dem 27. August 2019 und dem 10. Dezember 2019 lagen erneut mehr als sechs Wochen, in denen die Klägerin arbeitsunfähig krank war.

(3) Zwar hat das LAG Berlin-Brandenburg in einem Einzelfall angenommen, dass die Nichteinleitung eines bEM unschädlich ist, wenn der Arbeitgeber im konkreten Fall zu Recht davon ausgegangen ist, der Arbeitnehmer hätte einer Einladung, sich am beM zu beteiligen, keine Folge geleistet (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 27. Februar 2019 – 17 Sa 1605/18 – Rn. 19 mit ablehnender Anmerkung Schunder NZA-RR 2019, 309; ebenfalls ablehnend MHdB ArbR/Kiel 5. Aufl. 2021 § 113 Rn. 63). Mangels Ablehnung eines entsprechenden bEM-Angebots der Beklagten durch die Klägerin fehlen im vorliegenden Fall jedoch hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme der Beklagten, ein solches Angebot wäre nach dem 3. Juni 2019 bzw. 24. Juli 2019 bzw. 27. August 2019 nutzlos gewesen, weil die Klägerin es abgelehnt hätte. Die in der Vergangenheit ablehnende Haltung des Arbeitnehmers kann sich allein durch die zusätzlich aufgetretenen Arbeitsunfähigkeitszeiten geändert haben (BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 32). Auch hatte die Klägerin bereits in der Vergangenheit nicht generell jede Zusammenarbeit mit der Beklagten im Hinblick auf den Versuch von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit abgelehnt, sondern war zB im Hinblick auf Wiedereingliederungsversuche wiederholt aktiv an die Beklagte herangetreten, hatte sich für eine Untersuchung beim Betriebsarzt vorgestellt und an einem Präventionsgespräch mit dem Integrationsamt teilgenommen.

cc) Nachdem ein bEM erforderlich war, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es dazu hätte beitragen können, neuerliche Krankheitszeiten bezogen auf den maßgeblichen Prognosezeitpunkt des Zugangs der Kündigung zumindest zu vermindern und so das Arbeitsverhältnis zu erhalten (vgl. BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 37).

Der Arbeitgeber kann aber unabhängig davon, ob bereits ein zuvor durchgeführtes bEM Rückschlüsse auf die Nutzlosigkeit eines weiteren erlaubt, geltend machen, dass die Durchführung eines (weiteren) bEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können. Für die objektive Nutzlosigkeit trägt er die Darlegungs- und Beweislast. Dazu muss er umfassend und konkret vortragen, weshalb weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. Darüber hinaus muss er dartun, dass künftige Fehlzeiten auch nicht durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger in relevantem Umfang hätten vermieden werden können. Es ist nicht erforderlich, dass sich der Arbeitnehmer im Verfahren auf eine bestimmte Umgestaltungsmaßnahme, Beschäftigungsalternative oder Hilfe bzw. Leistung des Rehabilitationsträgers beruft. Da der Arbeitgeber die primäre Darlegungslast für die Nutzlosigkeit eines bEM trägt, muss vielmehr er von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. Allerdings gilt dies nur im Rahmen des ihm Möglichen und des nach den Umständen des Streitfalls Veranlassten. Das heißt, der Arbeitgeber hat von sich aus alle vernünftigerweise in Betracht kommenden – und vom Arbeitnehmer ggf. bereits außergerichtlich genannten Alternativen – zu würdigen und, soweit ihm aufgrund seines Kenntnisstands möglich, im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes an dem Arbeitnehmer zuträgliche Arbeitsbedingungen noch die Beschäftigung auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz noch eine Maßnahme des Rehabilitationsträgers in Betracht kommt. Dabei ist eine Abstufung seiner Darlegungslast vorzunehmen, falls ihm die Krankheitsursachen unbekannt sind (st. Rspr, vgl. zB BAG 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 – Rn. 42 mwN).

Die in § 167 Abs. 2 SGB IX vorgesehene Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann, erfordert bei schwerbehinderten Arbeitnehmern und ihnen gleichgestellten Beschäftigten die Prüfung, ob die Arbeitsunfähigkeit durch eine iSv. § 164 SGB IX leidensgerechte Beschäftigung überwunden werden kann (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 46 mwN zu §§ 81, 84 Abs. 2 SGB IX a.F.). Hierunter fällt auch die – in § 164 Abs. 5 Satz 3 SGB IX als Anspruch ausgestaltete – Möglichkeit einer Beschäftigung in zeitlich reduziertem Umfang (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 46 mwN zu § 81 Abs. 5 Satz 3 SGB IX a.F.).

dd) Eine Abstufung dieser Darlegungslast wegen fehlender Kenntnis der Beklagten von den Krankheitsursachen war nicht vorzunehmen.

(1) Die Klägerin hat im Rahmen der Berufungsbegründung die den Zeiten ihrer Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden ärztlichen Diagnosen offengelegt.

(2) Dieses Vorbringen war nicht nach § 67 Abs. 1 ArbGG präkludiert und entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nach §§ 67 Abs. 2 bzw. Abs. 3 ArbGG (analog) als verspätet zurückzuweisen.

Eine Präklusion nach § 67 Abs. 1 ArbGG scheidet schon deshalb aus, weil das Arbeitsgericht kein Vorbringen der Klägerin in erster Instanz als verspätet zurückgewiesen hat.

Der in der Berufungsbegründung hierzu geleistete Vortrag war nicht nach §§ 67 Abs. 2 und 3 ArbGG zurückzuweisen, weil dieser den Rechtsstreit nicht verzögert hat. Es musste nicht aufgrund dieses Vorbringens später entschieden werden. Die Beklagte hatte innerhalb der Berufungserwiderungsfrist Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu und das Vorbringen konnte bereits bei der Anberaumung des Termins Berücksichtigung finden. Das Vorbringen hat weder dazu geführt, dass der Termin zur Berufungsverhandlung später anberaumt werden musste, noch hat es einen weiteren Termin erforderlich gemacht.

Der Vortrag war auch nicht analog §§ 67 Abs. 2 und 3 ArbGG zurückzuweisen. Es fehlt an einer planwidrigen Regelungslücke. Der Umstand, dass durch das ZPO-ReformG einerseits die Zulässigkeit von neuem Vorbringen in der zweiten Instanz für die Zivilgerichte nach den §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO erheblich beschränkt wurde, andererseits die Sonderregelung des § 67 ArbGG für die Arbeitsgerichtsbarkeit (vgl. dazu BAG 15. Februar 2005 – 9 AZN 892/04 – Rn. 25) nur redaktionell geändert wurde, spricht dafür, dass die Voraussetzungen für eine Zurückweisung neuen Vorbringens durch den Gesetzgeber bewusst unterschiedlich geregelt wurden. Nach den §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO hat das Berufungsgericht bei seiner Verhandlung und Entscheidung neues Tatsachenvorbringen nur zuzulassen, wenn es (a) einen Gesichtspunkt betrifft, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist, (b) infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurde oder (c) im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden ist, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht. Demgegenüber lassen die §§ 67 Abs. 2 und 3 ArbGG generell eine Zulassung dann zu, wenn die Zulassung nach der freien Überzeugung des Landesgerichts die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde, und zwar selbst dann, wenn die Verspätung nicht genügend entschuldigt wird bzw. das Vorbringen im ersten Rechtszug aus grober Nachlässigkeit unterlassen wurde. Sowohl an den Regelungen zum Zivilprozess als auch an den weiteren Gründen, aus denen neues Vorbringen nach §§ 67 Abs. 2 und 3 ArbGG im Arbeitsgerichtsprozess zugelassen werden kann, ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit gesehen hat, dass Parteien in erster Instanz in vorwerfbarer Weise zum Kern des Sachverhalts nicht vortragen. § 67 ArbGG ist entgegen der Auffassung der Beklagten dabei – anders als die Regelungen zum Zivilprozess – nicht von der Vorstellung getragen, dass ein Nachholen (nur) bei genügender Entschuldigung möglich sein soll. Indem der Gesetzgeber als eigenständigen Zulassungsgrund für den Arbeitsgerichtsprozess die fehlende Verzögerung vorsah, hat er erkennbar zugelassen, dass auch vorwerfbare Verletzungen der Prozessförderungspflicht ohne Konsequenzen bleiben dürfen, wenn sie den Prozess nicht verzögern. § 67 ArbGG berücksichtigt, dass im arbeitsgerichtlichen Verfahren anders als im Zivilprozess die zweite Instanz in stärkerem Maße eine Tatsacheninstanz ist (GMP/Schleusener, 9. Aufl. 2017, ArbGG § 67 Rn. 1; vgl auch BeckOK ArbR/Klose 62. Ed. 1.12.2021, ArbGG § 67 Rn. 1).

ee) Es kann nicht festgestellt werden, dass das bEM nicht dazu hätte beitragen können, Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

(1) Insbesondere entfaltet die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung der Klägerin keine Vermutungswirkung dahingehend, dass ein bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.

Das BAG hat zwar erkannt, dass wenn das Integrationsamt nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Zustimmung zu einer verhaltensbedingten Kündigung zu erteilen ist, nur bei Vorliegen besonderer Anhaltspunkte davon ausgegangen werden könne, dass ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX die Kündigung hätte verhindern können (BAG 7. Dezember 2006 – 2 AZR 182/06 – Rn. 28 zu § 84 Abs. 1 SGB IX a.F.). Ob diese Rechtsprechung auch im Fall der Unterlassung eines gebotenen bEM übertragen werden kann, hat das BAG hingegen ausdrücklich offengelassen (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 664/13 – Rn. 39 ff.).

Eine solche Übertragung wird zT befürwortet (vgl. Schiefer RdA 2016, 196, 203; Baumeister/Richter ZfA 2010, 3, 23; im Ergebnis ohne Begründung ebenso LAG Nürnberg 21. Juni 2006 – 4 (9) Sa 933/05 – Rn. 45). Dafür spricht zwar zunächst, dass auch insoweit gilt, dass das Verwaltungsverfahren der Prüfung der Rechte des schwerbehinderten Arbeitnehmers dient und die Entscheidung des Integrationsamts durch mehrere Instanzen nachprüfbar ist. Dieses hat grundsätzlich auch zu prüfen, ob die gesetzlich gebotenen Möglichkeiten zur Vermeidung der Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Beschäftigten ausgeschöpft worden sind. Ist ein bEM als eine solche Möglichkeit nicht durchgeführt worden, hat das Integrationsamt auch die Möglichkeit, das Zustimmungsverfahren ggf. auszusetzen und den Arbeitgeber zur Nachholung des bEM aufzufordern (vgl. dazu Schmidt, Sozialversicherungsrecht in der arbeitsrechtlichen Praxis 4. Auflage 2018 Rn. 853 mwN).

Eine solche Übertragung der Rechtsprechung auf das bEM ist jedoch abzulehnen (ebenso Schmidt, SozialVersR 4. Auflage 2018 Rn. 855 mwN; im Ergebnis auch Deinert NZA 2010, 969, 974). Die damit begründete Vermutungswirkung würde nämlich zu einer Schlechterstellung schwerbehinderter Menschen führen gegenüber nicht schwerbehinderten Mitarbeitern, bei denen mangels Erfordernis eines Zustimmungsverfahrens eine solche Vermutungswirkung nicht greifen könnte. § 167 Abs. 1 SGB IX gilt nach seinem Anwendungsbereich nur für schwerbehinderte Menschen (BAG 7. Dezember 2006 – 2 AZR 182/06 – Rn. 24 mwN zu § 84 Abs. 1 SGB IX a.F.), während das Erfordernis des bEM nach § 167 Abs. 2 SGB IX für alle Arbeitnehmer, auch für nicht schwerbehinderte Menschen, besteht. Würde es auf die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes ankommen, so führt dies dazu, dass nicht behinderte Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess bessergestellt wären als schwerbehinderte Arbeitnehmer (Schmidt SchwbArbR 3. Auflage 2019 Rn. 434). Auch das LAG Düsseldorf hat mit Urteil vom 30. Januar 2009 (– 9 Sa 699/08 – Rn. 45) schon erkannt, dass aus diesem Grund die Zustimmung des Integrationsamts nicht zu der Vermutung führt, dass das bEM die Kündigung nicht hätte verhindern können; dem hat das Bundesarbeitsgericht im hierzu ergangenen Urteil vom 10. Dezember 2009 – 2 AZR 198/09 – nicht widersprochen. Insbesondere die Möglichkeit der Integrationsämter, ggf. das Zustimmungsverfahren zum Zwecke der Durchführung eines beM auszusetzen, spricht außerdem dafür, dass die dialogische und kooperative Suche nach betrieblichen Beschäftigungsmöglichkeiten im Rahmen eines beM nicht regelmäßig durch die Einholung von Stellungnahmen und die Prüfungsmöglichkeit in einem mündlichen Anhörungstermin im Rahmen des Zustimmungsverfahrens ersetzt werden kann (vgl. ähnlich LPK-SGB IX/Düwell 6. Aufl. 2022 SGB IX § 167 Rn. 127).

(2) Es kann auch nicht festgestellt werden, dass ein bEM objektiv nutzlos gewesen wäre, wenn es durchgeführt worden wäre.

(a) Im Rahmen der durchgeführten Wiedereingliederung war schon ersichtlich, dass es die Verwendung eines höhenverstellbaren Schreibtisches der Klägerin erlaubt, trotz ihrer vorhandenen Rückenbeschwerden jedenfalls die reduzierte Arbeitszeit von drei Stunden täglich körperlich abzuleisten. Dies deckt sich auch mit der im Zustimmungsbescheid des Integrationsamts zusammengefassten Stellungnahme der behandelnden Ärztin vom 3. März 2020 (Blatt 132 bis 133 ArbG-Akte). Auch die Beklagte berief sich nicht darauf, dass die Klägerin während der Dauer der Wiedereingliederung in diesem zeitlichen Umfang nicht an ihrem Arbeitsplatz tätig werden konnte. Soweit die Beklagte darauf verwies, die Wiedereingliederung habe zu einer massiven Verschlechterung der gesundheitlichen Lage geführt, bezog sich dies darauf, dass sich nach Mitteilung der Klägerin ihre Beschwerden aufgrund des Abschlussgesprächs massiv verschlechtert hatten, und zwar nicht konkret in Bezug auf die Wirbelsäule, sondern in Bezug auf Schmerzen, Schwindel, Erschöpfung und Angstgefühlen. Entgegen der Auffassung der Beklagten erscheint danach nicht ausgeschlossen, dass im Hinblick auf die der Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegenden Diagnosen „Sonstige näher bezeichnete Bandscheibenverlagerung“ und „Spondylose, nicht näher bezeichnet: Nicht näher bezeichnete Lokalisation“ im Rahmen eines beM eine Lösung, zB durch eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit auf weniger als vier Stunden in Verbindung mit der Verwendung eines höhenverstellbaren Schreibtischs, hätte gefunden werden können, die die hierdurch verursachten Fehlzeiten maßgeblich reduziert hätten.

(b) In einem beM hätten zudem weitere Maßnahmen geprüft und ggf. erprobt werden können, bei denen nicht ausgeschlossen erscheint, dass diese zu einer Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und damit auch zu einer für den Erhalt des Arbeitsplatzes hinreichenden Erhöhung der Leistungen der Klägerin in qualitativer und quantitativer Hinsicht hätten führen können.

Hier erscheint zB ein Einsatz nicht im Großraumbüro, sondern in einem Einzelzimmer, und/oder die Verwendung eines Active Noise Cancelling Headsets denkbar und es sind keine Gründe ersichtlich, die dies unmöglich oder unzumutbar machen würden. Nachdem dies auch im Rahmen der Wiedereingliederung nicht erprobt wurde, ist nicht auszuschließen, dass sich hierdurch bereits eine wesentliche Verbesserung der Leistung der Klägerin hätte ergeben können.

Im Hinblick auf eine ggf. dann (nur) noch verbleibende Leistungsminderung ist deshalb auch nicht feststellbar, dass diese nicht durch gezielte Schulungsmaßnahmen, die in ihrer Ausgestaltung auf die Einschränkungen der Klägerin Rücksicht nehmen, ggf. unter Inanspruchnahme von Leistungen der Rehabilitationsträger soweit hätte beseitigt werden können, dass eine ausreichende Leistung der Klägerin hätte erreicht werden können.

(c) Insbesondere im Hinblick auf die weitere der Arbeitsunfähigkeit zugrundeliegende Diagnose “Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben“ erscheint ebenfalls nicht ausgeschlossen, dass in einem bEM eine Möglichkeit zum Abbau dieser Problematik hätte gefunden werden können.

Soweit die Beklagte hierzu darauf verweist, es sei die Klägerin, die das Thema psychischer bzw. psychosomatischer Arbeitsunfähigkeitsursachen nicht weiter angegangen sei und die Beklagte könne diese nicht dazu bringen, sich einer psychologischen Behandlung zu unterziehen, verkennt sie, dass sich auch die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben kann, auf bestehende Therapiemöglichkeiten Bedacht zu nehmen. Wenn er ein bEM unterlassen hat, kann er gegen eine solche Verpflichtung nicht einwenden, ihm seien im Kündigungszeitpunkt – etwa schon mangels Kenntnis der Krankheitsursachen – entsprechende Möglichkeiten weder bekannt gewesen, noch hätten sie ihm bekannt sein können (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 49). Auch der Integrationsfachdienst hat zudem angenommen, dass langfristig im Rahmen einer medizinischen Reha eine berufliche Perspektive erarbeitet werden könne, bei der der Zusammenhang zwischen chronischer Schmerzerkrankung, depressiver Symptomatik und Arbeitskonflikt betrachtet werde, und dass für die zukünftige Wiederaufnahme von Arbeit entscheidend sei, dass Frau X. in Form einer rehabilitativen Maßnahme bei einer Leistungs- und Belastungserprobung durch den Maßnahmeträger eng begleitet werde. Danach erscheint nicht ausgeschlossen, dass in einem bEM eine Möglichkeit zur Umsetzung einer solchen Maßnahme hätte gefunden werden können.

Soweit das Integrationsamt im Zustimmungsbescheid hierzu zu dem Ergebnis kam, die Zustimmungsbedürftigkeit einer solchen Maßnahme zeige, dass diese im Moment nicht möglich sei, war dieser Schluss nicht logisch nachvollziehbar. Auch aus dem vom Integrationsamt zugrunde gelegten Sachverhalt ergab sich hierzu lediglich, dass die Maßnahme die Zustimmung voraussetzt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Klägerin überhaupt die Durchführung einer solchen Maßnahme in der Vergangenheit vorgeschlagen und von dieser abgelehnt wurde.

Der Verweisung des Arbeitnehmers auf eine Maßnahme der Rehabilitation steht als denkbares Ergebnis eines bEM im Übrigen nicht entgegen, dass die Durchführung solcher Maßnahmen von dessen Mitwirkung abhängt und nicht in der alleinigen Macht des Arbeitgebers steht. Ggf. muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine angemessene Frist zur Inanspruchnahme der Leistung setzen. Eine Kündigung kann er dann wirksam erst erklären, wenn die Frist trotz Kündigungsandrohung ergebnislos verstrichen ist (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 49 mwN). Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass sie der Klägerin einen solchen Vorschlag unter Fristsetzung mit Kündigungsandrohung unterbreitete.

2. Der zur Entscheidung angefallene Antrag auf Weiterbeschäftigung ist zulässig und begründet. Da das Arbeitsverhältnis nicht beendet ist, steht der Klägerin der erhobene Weiterbeschäftigungsanspruch zu (vgl. BAG Großer Senat 27. Februar 1985 – GS 1/84). Die Beklagte hat auch in der Berufungsinstanz keine Umstände dargelegt, die trotz des Urteils, das die Unwirksamkeit der Kündigung feststellt, im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers ergeben, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen.

Es kann auch nicht festgestellt werden, dass es der Klägerin auf unabsehbare Zeit unmöglich sein wird, die geschuldeten Dienste zu erbringen, so dass der Weiterbeschäftigungsantrag deshalb abzuweisen wäre. Die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers setzt zwar dessen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit voraus. Ist es dem Arbeitnehmer auf unabsehbare Zeit im Sinne des § 275 BGB unmöglich, seinen geschuldeten Dienst zu erbringen, kann der Arbeitgeber ihn auch nicht beschäftigen. Eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers macht es dem Arbeitgeber seinerseits unmöglich, diesem eine Beschäftigung zuzuordnen (LAG Hamm 11. März 2020 – 6 Sa 1182/19 – Rn. 98 mwN). Die Beweislast für eine Leistungsbefreiung nach § 275 BGB trägt nach allgemeinen Grundsätzen diejenige Partei, die daraus eine ihr günstige Rechtsfolge herleitet (vgl. zB MüKoBGB/Ernst, 8. Aufl. 2019, BGB § 275 Rn. 169 mwN; BeckOK BGB/Lorenz, 61. Ed. 1.2.2022, BGB § 275 Rn. 74). Die Beklagte als Schuldnerin des Weiterbeschäftigungsanspruchs hat aber ihre Annahme, die Klägerin sei über den streitgegenständlichen Beendigungstermin hinaus weiterhin auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig erkrankt, im Wesentlichen mit einem Verweis auf die bis zum 31. Dezember 2020 eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen begründet, die allerdings keine Aussage für die Zeit danach beinhalten, und hat ihre Schlussfolgerung – trotz Bestreitens der Klägerin, die sich schon erstinstanzlich auf eine zwischenzeitliche Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit berufen hatte und zur Substantiierung hierzu zweitinstanzlich zwei aktuelle Atteste vom 7. Dezember 2021 (Blatt 237 LAG-Akte) und 16. Dezember 2021 (Blatt 238 LAG-Akte) vorlegte – auch nicht unter Beweis gestellt. Soweit sie sich darauf berief, die Klägerin habe noch im August 2021 vorgetragen, dass sie weiterhin unter einer Reihe gesundheitlicher Einschränkungen leide und aufgrund ihrer Schwerbehinderung keine Normalleistung erbringen könne, folgt hieraus nicht, dass diese auch weiterhin arbeitsunfähig war bzw. ist.

C.

Die Kosten der Berufung hat die Beklagte als unterlegene Partei zu tragen, § 91 ZPO.

Die Kosten erster Instanz waren nach dem Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen nach §§ 92 Abs. 1 Satz 1, 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO unter Berücksichtigung des erstinstanzlich zurückgenommenen allgemeinen Feststellungsantrags zu verteilen. Auszugehen war dabei – unter Berücksichtigung der teilweisen Klagerücknahme – von einem Gesamtstreitwert von 8.423,00 Euro, der sich wie folgt zusammensetzt:

  • Kündigungsschutzantrag: 6.317,25 Euro (drei Bruttomonatsvergütungen)
  • Allgemeiner Feststellungsantrag: 2.105,75 Euro (eine Bruttomonatsvergütung, wegen wirtschaftlicher Identität mit dem Kündigungsschutzantrag jedoch nicht hinzuzurechnen)
  • Weiterbeschäftigungsantrag: 2.105,75 Euro (eine Bruttomonatsvergütung)

Die Klägerin unterlag hinsichtlich des zurückgenommenen allgemeinen Feststellungsantrags und hat damit die Kosten für die wirtschaftlich identischen Bestandsschutzanträge zu ¼ zu tragen, also in Höhe von 1.579,31 Euro; sie hat daher die erstinstanzlichen Kosten im Verhältnis 1.579,31 Euro zu 8.423,00 Euro zu tragen, also zu 19 %. Die Beklagte ist im Übrigen unterlegen und hat daher die erstinstanzlichen Kosten im Übrigen zu tragen.

Die Revision war für die Beklagte gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

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