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Krankheitsbedingte Kündigung – Wirksamkeit – Drei-Stufen-Prüfung

LAG Berlin-Brandenburg – Az.: 10 Sa 864/19 – Urteil vom 26.09.2019

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 6. März 2019 – 24 Ca 10673/18 wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.

III. Der Gebührenwert für das Berufungsverfahren wird auf 10.956,80 EUR festgesetzt.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung.

Die Klägerin ist 52 Jahre alt (geb. …. 1967) und seit dem 18. Juni 2005 bei der Beklagten als Luftsicherheitsassistentin zunächst am Flughafen Tegel und zuletzt am Flughafen Schönefeld in Vollzeit mit 160 Std./mtl. und durchschnittlich 2.739,20 EUR brutto/mtl. zzgl. Zeitzuschlägen beschäftigt. Mit Schreiben vom 19. Juli 2018 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2018. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 27. Juli 2018 zu.

Bereits seit Beginn des Kalenderjahres 2006 weist das Arbeitsverhältnis der Parteien arbeitsunfähigkeitsbedingte Fehlzeiten auf. Nachdem diese in den Jahren 2009, 2011 und 2012 mit jeweils mehr als 30 Arbeitstagen erheblich waren, gingen sie in den Jahren 2013 und 2014 auf minimale Fehltage zurück. Seit dem Jahr 2015 stiegen sie wieder an und überschritten mit 36 Arbeitstagen (2015), 41 Arbeitstagen (2016), 37 Arbeitstagen (2017) und 31 Arbeitstagen (bis 30. Juni 2018) in jedem Jahr den Zeitraum von 6 Wochen.

Die Beklagte leistete im Kalenderjahr 2015 Entgeltfortzahlung i.H.v. 4.490,62 € brutto, im Kalenderjahr 2016 5.094,17 € brutto und im Kalenderjahr 2017 5.040,90 € brutto. Im Kalenderjahr 2018 leistete sie bis zum Ausspruch der Kündigung Entgeltfortzahlung i.H.v. 1.923,60 € brutto.

Unter dem 12. Juli 2018 leitete die Beklagte mit einer Anhörung beim Betriebsrat die Kündigung der Klägerin ein. In dem Anhörungsschreiben ist u.a. ausgeführt, dass die Klägerin ledig sei und auf ihrer Steuerkarte kein Kinderfreibetrag vermerkt sei. Ein Sonderkündigungsschutz bestehe nicht.

In dem Anhörungsschreiben hat die Beklagte die Anzahl der Fehltage (Kalendertage) seit 2009 und die Anzahl der jeweiligen Einzelerkrankungen aufgeführt. In den vergangenen Jahren sei die Klägerin durch überwiegende Kurzzeiterkrankungen von 1-2 Wochen sowie teilweise Langzeiterkrankungen von mehr als 20 Wochen pro Jahr arbeitsunfähig krank gewesen. Die Ursachen der Erkrankungen seien der Beklagten gänzlich unbekannt. Die Klägerin sei seit 2015 mit 18 verschiedenen Einzelerkrankungen insgesamt 204 Kalendertage arbeitsunfähig gewesen. Es sei zu zahlreichen nicht vorhersehbaren Wiederholungen krankheitsbedingter Fehlzeiten gekommen.

Die Beklagte fuhr in der Anhörung des Betriebsrates fort, dass es für die Klägerin von 2015 bis 2017 insgesamt Entgeltfortzahlungskosten von 14.625,69 EUR brutto gegeben habe. In 2018 seien es bis zum 30. Juni 2018 bereits wieder 1.923,80 EUR brutto. Weiter führte die Beklagte gegenüber dem Betriebsrat zu Betriebsablaufstörungen aufgrund kurzfristiger Ausfälle der Klägerin aus.Zweimal sei das betriebliche Eingliederungsmanagement mit der Klägerin durchgeführt worden, nämlich einmal mit einer Einleitung unter dem 11. März 2012 und einmal unter dem 8. Juni 2016 (wobei es sich um den 8. Februar 2016 handelte, wie den übrigen Ausführungen entnommen werden kann). Da es keine betrieblichen Indikatoren gegeben habe, sei das Verfahren am 25. Februar 2016 abgeschlossen worden.

Darauf beschloss der Betriebsrat am 17. Juli 2018, der Kündigung zu widersprechen. Der Betriebsrat verwies darauf, dass nach Februar 2016 bereits zweimal ein erneutes BEM hätte durchgeführt werden müssen.

Die Klägerin hält die Kündigung für sozial nicht gerechtfertigt. Sie hat unter Beifügung einer Auskunft ihrer Krankenkasse zu den Ursachen der aufgetretenen Fehlzeiten vorgetragen. Insgesamt würden sich die Ausfallgründe in 6 Kategorien aufteilen:

  1. Depressive Episode
  2. Erkrankung der Atemwege (Virusinfektionen, Sinusitis, Rhinitis)
  3. Schmerzen des Muskel-Skelett-Systems (Lumboischialgie, Bandscheibenvorfall)
  4. Gehörgangsentzündung
  5. Darminfektion
  6. Kurze Einzelerkrankungen (Stimmritzenkrampf, Gastritis, Schwindel und Taumel)

Sie behauptet, dass die sogenannte depressive Episode ausgeheilt und nicht mehr prognosefähig sei. Insbesondere eine 40-tägige Rehabilitationsmaßnahme vom 9. August 2017 bis 19. September 2017 habe dazu gedient, einem Wiederauftreten depressiver Symptome vorzubeugen. Weiterhin sei in der Rehabilitationsmaßnahme keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, sondern eine Präventionsmaßnahme zu sehen.

Bei den Atemwegserkrankungen handele es sich um jahreszeittypische Erkältungen. Die Mitarbeiter der Beklagten seien aufgrund des ständigen Publikumsverkehrs einer hohen Ansteckungsgefahr für derartige Krankheiten ausgesetzt.

Der Bandscheibenvorfall der Klägerin sowie die Ischiasnervschmerzen in den Jahren 2016 und 2018 seien ausgeheilt und hätten sich seitdem nicht wiederholt. Die Arbeit im Stehen würde zu häufigen Problemen mit dem Muskelskelettapparat führen.

Weiterhin sei die Gehörgangsentzündung ausgeheilt und habe sich nie wiederholt. Auch die Darminfektion sei ausgeheilt und sei in dreieinhalb Jahren nur ein einziges Mal aufgetreten.

Die Klägerin ist daher der Auffassung, dass einzig die jahreszeitüblichen Atemwegserkrankungen als Prognosegrundlage dienen könnten, weshalb eine negative Prognose nicht zu erteilen sei. Im Rahmen der Interessenabwägung sei unter anderem zu berücksichtigen, dass die Erkrankungen zu einem erheblichen Teil betrieblich bedingt seien durch besonders belastende Arbeitsbedingungen. Diese Probleme hätten auch mit einem BEM gelöst werden können, jedoch sei kein aktuelles BEM mehr durchgeführt worden.

Die Beklagte geht von erheblichen krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstagen auch in den Jahren 2015 bis 2018 aus. Dabei ergebe sich ein vergleichbares Bild auch dann, wenn man jeweils auf die Zeiträume August bis Juli abstelle. Die Prognose sei negativ. Mit den dabei zu tragenden Entgeltfortzahlungskosten seien bereits erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen anzunehmen. Hinzu kämen erhebliche Betriebsablaufstörungen. So hätten die Kontrollstellen nicht optimal besetzt werden können, da meist kurzfristig keine Ersatzkraft habe organisiert werden können. Die Passagierdurchlasszahlen seien beeinträchtigt, da mit weniger Personal als geplant die vorgegebene Passagierzahl habe bewältigt werden müssen. Insbesondere bei einer Krankmeldung nur eine halbe bis zwei Stunden vor Dienstbeginn könne bei telefonischer Krankmeldung keine Ersatzkraft mehr organisiert werden. Für immer wieder auftretende kurzfristige Ausfälle sei ein Ausgleich mittels Vorhaltens einer Ersatzkraft nicht realisierbar.

Im Rahmen der Interessenabwägung bestehe kein besonders schützenswertes Interesse der Klägerin an der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten. Das Arbeitsverhältnis sei seit Jahren durch die vielen Ausfälle seitens der Klägerin geprägt. Die schützenswerten Interessen der Beklagten würden daher die Interessen der Klägerin an der Fortsetzung des Arbeitsergebnisses überwiegen. Ein weiteres BEM habe kaum Erfolg versprechend durchgeführt werden können. Im Bereich der Luftsicherheitsassistenz seien „Schonarbeitsplätze“ bzw. leidensgerechte Arbeitsplätze kaum vorhanden. Die Tätigkeit bringe es naturgemäß mit sich, dass körperliche Arbeit an einem Ort mit einem erhöhten Publikumsverkehr anfalle. Die äußeren Umstände an einem Flughafen könnten von der Beklagten nicht geändert werden. Für eine andere Tätigkeit bringe die Klägerin zudem nicht die erforderliche Qualifikation mit.

Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß beteiligt worden.

Mit Urteil vom 6. März 2019 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben, da die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt sei. Es könne angesichts der zurückliegenden Fehlzeiten zwar eine negative Prognose ebenso angenommen werden, wie angesichts der angefallenen Kosten der Entgeltfortzahlung eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Die Kündigung sei aber nicht verhältnismäßig.

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sei u. a. zu berücksichtigen, ob der Arbeitgeber ein BEM gem. § 167 Abs. 2 SGB IX durchgeführt habe, zu dem er stets dann verpflichtet sei, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig gewesen sei. Habe der Arbeitgeber ein BEM unterlassen, müsse er konkret vortragen, dass der Arbeitnehmer auf dem konkreten Arbeitsplatz nicht mehr eingesetzt werden könne und auch leidensgerechte Anpassungen und Veränderungen ausgeschlossen seien sowie auf anderen Arbeitsplätzen bei geänderter Tätigkeit nicht eingesetzt werden könne. Dieser verschärften Darlegungslast unterliege der Arbeitgeber indes nur, wenn bei der Durchführung eines BEM ein positives Ergebnis möglich gewesen wäre.

Um darzutun, dass die Kündigung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genüge und dem Arbeitgeber keine milderen Mittel zur Überwindung der krankheitsbedingten Störung des Arbeitsverhältnisses als die Beendigungskündigung offen gestanden hätte, müsse der Arbeitgeber bei einem unterlassenen BEM dessen objektive Nutzlosigkeit darlegen. Hierzu habe er umfassend und detailliert vorzutragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen wären und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können.

Der Arbeitgeber trage die primäre Darlegungslast für die Nutzlosigkeit des BEM. Er habe von sich aus alle denkbaren oder vom Arbeitnehmer gegebenenfalls außergerichtlich genannten Alternativen zu würdigen und im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes an dem Arbeitnehmer zuträgliche Arbeitsbedingungen noch die Beschäftigung auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz in Betracht komme.

Diesen Anforderungen habe die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit nicht genügt. Da die Klägerin seit dem zuletzt durchgeführten BEM im Februar 2016 innerhalb eines Jahres – sowohl im Jahr 2016 als auch im Jahr 2017 – länger als sechs Wochen arbeitsunfähig gewesen sei, sei die Beklagte wieder zur Durchführung eines BEM verpflichtet gewesen. Sie habe hierzu lediglich vorgetragen, dass bei ihr keine „Schonarbeitsplätze“ vorhanden seien und sie die Räumlichkeiten des Flughafens nicht ändern könne. Die Klägerin könne lediglich an einer anderen Sicherheitskontrolle eingesetzt werden, die sich jedoch exakt genauso gestalten würde.

Gegen dieses den Beklagtenvertretern am 27. März 2019 zugestellte Urteil legten diese am Montag, dem 29. April 2019 Berufung ein und begründeten diese nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist am 17. Juni 2019.

Das Arbeitsgericht habe rechtsfehlerfrei festgestellt, dass aufgrund der erheblichen Fehlzeiten der Klägerin von einer negativen Gesundheitsprognose ausgegangen werden könne. Auch die erheblichen wirtschaftlichen Belastungen habe das Arbeitsgericht zutreffend angenommen. Lediglich bei der Interessenabwägung sei dem Arbeitsgericht ein Fehler unterlaufen. Denn entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts wäre die Durchführung eines BEM mit der Klägerin objektiv nutzlos gewesen. Weder arbeitsorganisatorische noch medizinische Maßnahmen hätten zu einer Verringerung der Fehlzeiten der Klägerin führen können. Die Tätigkeiten im Rahmen der Luftsicherheitsassistenz könne nicht geändert werden. Der Arbeitsplatz könne nicht umgestaltet werden und eine Umsetzung sei nicht möglich. Im Übrigen wiederholt und vertieft die Beklagte ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Die Tätigkeiten im Rahmen der Luftsicherheitsassistenz würden sich im Wesentlichen gleich gestalten. Sie seien insbesondere mit Stehen/Gehen und mit einem erhöhten Publikumsverkehr verbunden. Das ordnungsgemäße Hinlegen der Gepäckstücke für die Röntgendurchstrahlung, das Hin- und Hertragen der Plastikschalen für die Gepäckstücke und die Bekleidung, das Weiterreichen der Plastikschalen nach der Durchleuchtung und die nach Geschlechtern unterteilte Nachkontrolle der Passagiere im Falle des Anschlagens der Geräte zur Personenkontrolle sei bei allen Kontrollstellen gleich. Der Ort der Arbeitsleistung und die Örtlichkeit könne die Beklagte nicht verändern. Das Auslegen von sogenannten Stehmatten sei nicht möglich. Zu einem früheren Zeitpunkt habe es solche gegeben. Die Betreiberin der Flughäfen habe diese jedoch aufgrund der Arbeitssicherheit und der Sicherheit der Fluggäste untersagt. Es sei damals aufgrund der Matten zu Stürzen von Mitarbeitern und Flugpassagieren gekommen.

Es gebe einige wenige Arbeitsplätze, die zumindest teilweise im Sitzen ausgeführt werden könnten. Diese seien alle ausnahmslos mit schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Arbeitnehmer*innen besetzt. Diese Arbeitsplätze könnten im Rahmen einer Inklusionsvereinbarung in Anspruch genommen werden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 6. März 2019 – 24 Ca 10673/18 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin meint, dass bereits keine negative Prognose hinsichtlich zukünftig erheblicher Fehlzeiten angenommen werden könne. Die depressiven Episoden seien ausgeheilt und nicht prognosefähig. Sie seien in den Jahren 2017 und 2018 auch nicht mehr aufgetaucht. Da zwischen den Atemwegserkrankungen in 2016 und 2018 mehr als 12 Monate gelegen hätten, könne ein chronisches Grundleiden nicht angenommen werden. Ansonsten seien diese ausgeheilt und nur noch jahreszeitentypisch aufgetreten. Der einmalige Bandscheibenvorfall und die Lumboischialgie seien jeweils ausgeheilt. Die „sonstigen Erkrankungen“ seien auch nicht prognosefähig.

Mangels negativer Prognose sei zukünftig auch kein Zeitraum von mehr als 6 Wochen pro Jahr mit entgeltfortzahlungsrelevanten Fehlzeiten zu erwarten. In jedem Fall aber sei das Arbeitsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass das BEM nicht nutzlos gewesen wäre. Die Beklagte sei ihrer Darlegungslast nicht nachgekommen. Es werde bestritten, dass es keine freien Sitz-Arbeitsplätze gebe. Auch die Unmöglichkeit bzw. die Untersagung des Auslegens der Stehmatten werde bestritten. Diese könnten jedenfalls in Bereichen ohne Publikumswege ausgelegt werden. Es könne orthopädische Schuheinlagen und veränderte Arbeitszeit-/Pausenlagen geben und man könne die Raumluft verbessern.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsbegründung der Beklagten vom 17. Juni 2019 sowie deren Schriftsatz vom 23. September 2019, auf den vorgetragenen Inhalt der am 23. August 2019 ohne Datum eingegangenen Berufungserwiderung der Klägerin und das Sitzungsprotokoll vom 26. September 2019 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 519, 520 Zivilprozessordnung (ZPO) eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig, jedoch nicht begründet.

1.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13) erfolgt die Prüfung der Wirksamkeit einer sogenannten krankheitsbedingten Kündigung in drei Stufen. Nur wenn die Fragen auf allen drei Stufen zu Gunsten der Beklagten zu beantworten sind, ist die Kündigung wirksam.

1.1

Die Wirksamkeit einer wie hier auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen (erste Stufe).

Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen (zweite Stufe).

Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe).

1.2

Die auf Arbeitsunfähigkeit beruhenden Fehlzeiten der Klägerin in der Vergangenheit waren schon nicht erheblich.

1.2.1

Für die im Jahre 2016 einmalig aufgetretene Diagnose M512 (Sonstige näher bezeichnete Bandscheibenverlagerung) vom 26. Februar 2016 bis 16. März 2016 war nicht prognosefähig. Wenn eine solche Erkrankung über mehr als 2 Jahre nicht mehr auftritt, kann sie nicht mehr zur Begründung einer negativen Prognose herangezogen werden. Auch die in den gleichen Zeitraum fallende Diagnose J40 (Bronchitis, nicht als akut oder chronisch bezeichnet) ändert daran nichts. Denn angesichts der Tatsache, dass es sich gerade nicht um eine chronische Erkrankung handelt, fehlt es an Anhaltspunkten, dass es zukünftig in übermäßigem Umfang zu diesbezüglichen Fehlzeiten kommen wird. Ohne diesen Zeitraum der Fehlzeiten verbleiben für das Jahr 2016 jedoch nur noch Fehlzeiten im Umfang von 38 Kalendertagen bzw. 28 Arbeitstagen. Das ist keine eine negative Prognose indizierende Anzahl von Fehltagen mehr.

1.2.2

Im Zeitraum der Rehabilitationsmaßnahme vom 9. August 2017 bis 19. September 2017 war die Klägerin nicht arbeitsunfähig im kündigungsrechtlichen Sinne. Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen Richtlinie über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) definiert. Nach der dort in § 3 Abs. 2 enthaltenen Regelung liegt bei Durchführung von ambulanten oder stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen keine Arbeitsunfähigkeit vor, es sei denn, dass vor Beginn der Leistung bereits eine Arbeitsunfähigkeit bestand und diese fortbesteht oder die Arbeitsunfähigkeit durch eine interkurrente Erkrankung ausgelöst wird. Selbst wenn man aber diesen Zeitraum als Arbeitsunfähigkeit ansehen würde, würde es sich nicht um prognosefähige Fehlzeiten handeln, da nicht angenommen werden kann, dass die Klägerin alljährlich eine entsprechende Maßnahme durchführen würde. Ohne diesen Zeitraum der Fehlzeiten verbleiben für das Jahr 2017 jedoch nur noch Fehlzeiten im Umfang von 1 Kalendertagen bzw. 8 Arbeitstagen. Das ist keine eine negative Prognose indizierende Anzahl von Fehltagen mehr.

1.2.3

Die vom 19. April 2018 bis 14. Mai 2018 aufgetretene Diagnose M544 (Lumboischialgie links) ist nicht prognosefähig. Sie ist soweit ersichtlich erstmalig bei der Klägerin aufgetreten. Anhaltspunkte, dass eine entsprechende Diagnose in der Zukunft regelmäßig auftreten wird, sind nicht ersichtlich. Ohne diesen Zeitraum der Fehlzeiten verbleiben für das Jahr 2018 jedoch nur noch Fehlzeiten im Umfang von 20 Kalendertagen bzw. 14 Arbeitstagen bis zur Betriebsratsanhörung am 12. Juli 2018. Das ist keine eine negative Prognose indizierende Anzahl von Fehltagen mehr, selbst wenn man berücksichtigt, dass es sich nur um einen Zeitraum von etwas mehr als einem halben Jahr handelt. Denn selbst bei einer Verdoppelung der Fehltage der Klägerin würde der Schwellwert von 42 Kalendertagen bzw. 30 Arbeitstagen nicht überschritten.

2.

Es kann dahinstehen, ob die Beklagte hinreichende betriebliche Auswirkungen der Arbeitsunfähigkeiten der Klägerin dargelegt hat. Jedenfalls soweit die Beklagte Betriebsablaufstörungen angeführt hat, handelte es sich nur um allgemeine Ausführungen, nicht aber um konkrete Darlegungen, was jeweils bei den Arbeitsunfähigkeiten der Klägerin konkret aus ihrem Fehlen folgte.

Aber selbst wenn man aber von erheblichen Fehlzeiten in der Vergangenheit ausgehen würde und dem folgend erhebliche betriebliche Auswirkungen annehmen würde, ist nicht nachvollziehbar, weshalb trotz auch nach Februar 2016 bestehenden erheblichen Fehlzeiten im Sinne des § 167 Abs. 2 SGB IX kein weiteres BEM mit der Klägerin durchgeführt worden ist. Ab dem 26. Februar 2016 bis 11. Oktober 2016 waren erneut 6 Wochen angefallen und am 12. Oktober 2016 überschritten sowie am 5. Mai 2018 nach Erreichen von 42 Arbeitsunfähigkeits-Tagen vom 26. Juli 2017 bis 4. Mai 2018.

Wie die Beklagte selbst ausführt, setzt die Tätigkeit als Luftsicherheitsassistentin über das übliche Maß hinausgehende Anforderungen an die physische und psychische Leistungsfähigkeit voraus. Dass derartige Anforderungen zu erheblichen Belastungen führen, liegt auf der Hand. Welche konkreten Belastungen die nach § 5 Abs. 3 ArbSchG durchzuführende Gefährdungsbeurteilung an diesen Arbeitsplätzen festgestellt hat, hat die Beklagte nicht vorgetragen. Auch etwaige zur Belastungsminderung ermittelte Maßnahmen des Arbeitsschutzes (§ 3 Abs. 1 ArbSchG) bezüglich dieser Belastungen hat die Beklagte nicht dargelegt. Dass derartige Beurteilungen und Maßnahmen von vornherein aussichtslos wären, ist nicht ersichtlich. Allein hinsichtlich der Belastungen für Rücken und Gelenke sieht etwa die DGUV-Information 208-033 verschiedene technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen vor. Auch die vom Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik erlassene Handlungsanleitung „Bewegungsergonomische Gestaltung von andauernder Steharbeit“ (LV 50) sieht zahlreiche mögliche Maßnahmen vor. Anhaltspunkte für mögliche Maßnahmen hätte die Beklagte auch bei der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) finden können. Denn in der Mitteilung M 88 (Steharbeitsplätze im Handel) und M 90 (Sichere Schuhe im Handel) der BGHW sind ebenfalls verschiedene mögliche Maßnahmen beschrieben, wie auch bei notwendiger andauernder Steharbeit die Belastung für Beschäftigte wesentlich reduziert werden kann.

All das wären Maßnahmen, die unter Umständen geeignete Maßnahmen auch für die Klägerin gewesen wären, um ihre Fehlzeiten bezüglich des Muskel-Skelett-Apparates zu reduzieren. Die Beklagte hat es jedoch versäumt, sich mit den trotz der zweifelsohne stark eingeschränkten Möglichkeiten geeigneten Maßnahmen am Arbeitsplatz der Klägerin ggf. auch mit Unterstützung der in § 167 Abs. 2 SGB IX genannten externen Akteure vollständig auseinander zu setzen. Deshalb konnte nicht angenommen werden, dass ein erneutes BEM von vornherein objektiv aussichtslos gewesen wäre.

III.

Die Kostenentscheidung folgt § 64 Abs.6 ArbGG in Verbindung mit § 97 ZPO. Die Beklagte hat als unterlegene Partei die Kosten der erfolglosen Berufung zu tragen.

Der Gebührenwert entspricht drei Bruttomonatsgehältern der Klägerin für den Feststellungsantrag und einem Bruttomonatsgehalt für den Weiterbeschäftigungsantrag.

Die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG kam nicht in Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.

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