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Krankschreibung aus dem Ausland: Wann Ihr Chef das Attest anzweifeln darf

Urlaub im Ausland, doch plötzlich werden Sie krank. Ein Arzt vor Ort stellt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus. Aber hat dieses Attest aus Tunesien, Thailand oder den USA den gleichen Stellenwert wie der „gelbe Schein“ vom deutschen Hausarzt? Ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts beleuchtet genau diese Frage und zeigt auf, wann Arbeitgeber berechtigte Zweifel anmelden dürfen und was das für Arbeitnehmer bedeutet.

Krankschreibung im Nicht-EU-Ausland? Welchen Beweiswert haben solche Arbeisunfähigkeitsbescheinigung?
BAG-Urteil: Ausländische AU-Bescheinigung hat gleichen Wert wie deutsche Atteste, wenn Arbeitsunfähigkeit eindeutig bestätigt wird. | Symbolbild: KI generiertes Bild

Das Wichtigste: Kurz & knapp

  • Grundsatz: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) aus dem Nicht-EU-Ausland haben grundsätzlich denselben Beweiswert wie deutsche Atteste.
  • Voraussetzung: Das ausländische Attest muss klar zwischen einer bloßen Erkrankung und tatsächlicher Arbeitsunfähigkeit unterscheiden.
  • Zweifel möglich: Arbeitgeber dürfen den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern, wenn berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen.
  • Gesamtschau entscheidend: Mehrere Auffälligkeiten (z.B. widersprüchliches Verhalten, ungewöhnlich lange Krankschreibung, wiederholte Erkrankungen nach Urlauben) rechtfertigen eine Ablehnung der AU-Bescheinigung.
  • Beweislastumkehr: Bestehen ernsthafte Zweifel, liegt es am Arbeitnehmer, seine tatsächliche Arbeitsunfähigkeit konkret darzulegen und zu beweisen.

Krankheit im Urlaub und die Tücken der ausländischen Krankschreibung

Wer kennt es nicht? Die schönste Zeit des Jahres, der wohlverdiente Urlaub, wird jäh durch eine Erkrankung unterbrochen. Neben dem Ärger über die verlorenen Urlaubstage stellt sich oft die Frage: Wie weise ich meinem Arbeitgeber in Deutschland meine Arbeitsunfähigkeit korrekt nach? Eine ärztliche Bescheinigung aus dem Urlaubsland scheint die logische Lösung. Doch Vorsicht: Nicht jedes ausländische Attest wird von Arbeitgebern und Gerichten ohne Weiteres akzeptiert.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG), Deutschlands höchstes Gericht für Arbeitsrechtsfragen, hat sich in einer wichtigen Entscheidung (Urteil vom 15.01.2025, Az. 5 AZR 284/24) intensiv mit dem Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU-Bescheinigungen) aus dem Nicht-EU-Ausland auseinandergesetzt. Das Urteil liefert wertvolle Leitlinien, wann ein Arbeitgeber Zweifel an einer solchen Krankschreibung haben darf und welche Konsequenzen das für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hat. Dieser Artikel erklärt die Hintergründe, die Entscheidung des BAG und was Arbeitnehmer und Arbeitgeber jetzt wissen müssen.

Der Grundsatz: Lohnfortzahlung bei Krankheit in Deutschland

Bevor wir uns den Besonderheiten ausländischer Atteste widmen, ein kurzer Blick auf die Rechtslage in Deutschland. Wer hierzulande als Arbeitnehmer krank wird und deshalb nicht arbeiten kann, hat in der Regel Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Das bedeutet: Der Arbeitgeber zahlt den Lohn oder das Gehalt für bis zu sechs Wochen weiter, obwohl der Arbeitnehmer nicht arbeitet. Geregelt ist dies im Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG), genauer gesagt in § 3 EFZG.

Die entscheidende Voraussetzung für diesen Anspruch ist die Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit. Wichtig ist hier die Betonung auf „Arbeitsunfähigkeit“. Es reicht nicht aus, „nur“ krank zu sein (wie bei einem leichten Schnupfen). Die Krankheit muss so schwer sein, dass der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringen kann oder dies nicht tun sollte, um eine Verschlimmerung zu vermeiden. Ob dies der Fall ist, beurteilt in der Regel ein Arzt.

Die Pflichten des Arbeitnehmers bei Krankheit

Damit der Anspruch auf Lohnfortzahlung entsteht und bestehen bleibt, muss der Arbeitnehmer bestimmte Pflichten erfüllen, die in § 5 EFZG festgelegt sind:

  • Anzeigepflicht: Der Arbeitnehmer muss dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitteilen. „Unverzüglich“ heißt hier: ohne schuldhaftes Zögern, also so schnell wie möglich (z.B. durch einen Anruf oder eine E-Mail am ersten Krankheitstag vor Arbeitsbeginn).
  • Nachweispflicht: Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, muss der Arbeitnehmer spätestens am darauffolgenden Arbeitstag eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer vorlegen – die sogenannte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) oder umgangssprachlich „Krankschreibung“. Der Arbeitgeber kann diese Bescheinigung aber auch schon früher verlangen.

Erfüllt der Arbeitnehmer diese Pflichten nicht, kann der Arbeitgeber die Lohnfortzahlung vorübergehend verweigern.

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Mehr als nur ein Zettel

Die ärztliche AU-Bescheinigung ist das wichtigste Instrument, um eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Ihr kommt im deutschen Arbeitsrecht ein hoher Beweiswert zu. Das bedeutet: Legt der Arbeitnehmer eine ordnungsgemäß ausgestellte AU-Bescheinigung vor, wird in der Regel vermutet, dass er tatsächlich arbeitsunfähig krank ist. Der Arbeitgeber muss diese Bescheinigung normalerweise akzeptieren und Lohnfortzahlung leisten. Er kann nicht einfach behaupten, der Arbeitnehmer sei gar nicht krank.

Was macht eine AU-Bescheinigung „ordnungsgemäß“?

Eine ordnungsgemäße AU-Bescheinigung enthält typischerweise:

  • Name des Arbeitnehmers
  • Datum der ärztlichen Untersuchung
  • Feststellung der Arbeitsunfähigkeit
  • Voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit
  • Stempel und Unterschrift des Arztes
  • Angabe, ob es sich um eine Erst- oder Folgebescheinigung handelt
  • Angabe, ob es sich um einen Arbeitsunfall handelt

Die konkrete Diagnose (also die Art der Krankheit) steht aus Datenschutzgründen nicht auf der Ausfertigung für den Arbeitgeber, sondern nur auf der für die Krankenkasse.

Sonderfall Ausland: Gilt das Attest aus Tunesien genauso wie das vom Hausarzt?

Und wie sieht es nun aus, wenn die Krankschreibung nicht vom deutschen Hausarzt, sondern von einem Arzt im Ausland stammt, insbesondere in einem Land außerhalb der Europäischen Union (Nicht-EU-Ausland)? Grundsätzlich gilt laut BAG: Auch einer solchen ausländischen AU-Bescheinigung kann der gleiche hohe Beweiswert zukommen wie einer in Deutschland ausgestellten. Eine Krankschreibung aus dem Tunesien-Urlaub zum Beispiel ist also nicht per se weniger wert als eine aus Deutschland.

Aber es gibt eine wichtige Einschränkung: Die ausländische Bescheinigung muss bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Sie muss erkennen lassen, dass der ausländische Arzt eine Beurteilung vorgenommen hat, die den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entspricht.

Die wichtige Unterscheidung: Krankheit vs. Arbeitsunfähigkeit

Der entscheidende Punkt ist hier die Differenzierung zwischen einer bloßen Erkrankung und einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Das deutsche Recht verlangt für die Lohnfortzahlung, dass die Krankheit den Arbeitnehmer an der Ausübung seiner konkreten Tätigkeit hindert. Ein Arzt muss also nicht nur feststellen, dass der Patient krank ist, sondern auch, dass er deswegen nicht arbeiten kann.

Eine ausländische Bescheinigung muss daher deutlich machen, dass der Arzt diese Unterscheidung getroffen hat. Es reicht nicht aus, wenn dort nur eine Diagnose steht oder allgemein von „Krankheit“ die Rede ist. Formulierungen wie „arbeitsunfähig“, „incapable of work“, „incapacité de travail“ oder ähnliches sind hilfreich. Fehlt eine solche Klarstellung, hat das Attest von vornherein einen geringeren Beweiswert.

Beispiel zur Verdeutlichung:

Nicht ausreichend: Ein Attest aus Land X bescheinigt Herrn Müller lediglich „Grippaler Infekt vom 10. bis 15. Mai“. Hier ist unklar, ob Herr Müller wegen des Infekts auch tatsächlich nicht arbeiten konnte.

Ausreichend: Ein Attest aus Land Y bescheinigt Frau Schmidt „Lungenentzündung“ und fügt hinzu: „Hieraus resultiert Arbeitsunfähigkeit vom 10. bis 20. Juni“. Hier ist die für das deutsche Recht relevante Feststellung getroffen.

Wenn der Arbeitgeber zweifelt: Der „erschütterte“ Beweiswert

Selbst wenn eine ausländische (oder auch inländische) AU-Bescheinigung formal korrekt ist und den hohen Beweiswert genießt, ist dieser nicht unantastbar. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände vorträgt und ggf. beweist, die ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit wecken.

Wichtig ist hierbei: Die AU-Bescheinigung begründet keine unwiderlegbare gesetzliche Vermutung. Der Arbeitgeber muss nicht das Gegenteil beweisen (also, dass der Arbeitnehmer gesund war). Es genügt, wenn er plausible Gründe darlegt, warum das Attest in diesem speziellen Fall unglaubwürdig erscheint. Die Hürden dafür sind niedriger als der volle Gegenbeweis, da der Arbeitgeber ja keine Einsicht in die Krankheitsdetails hat.

Was sind typische Gründe für Zweifel?

Solche Zweifel können sich aus verschiedenen Umständen ergeben, zum Beispiel:

Der Arbeitnehmer wird trotz Krankschreibung bei Aktivitäten gesehen, die mit der attestierten Krankheit unvereinbar sind (z.B. Arbeit auf der Baustelle trotz Rückenschmerzen, Partybesuch trotz schwerer Grippe).

Die Krankschreibung erfolgt genau für einen Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer eigentlich Urlaub beantragt hatte, dieser aber abgelehnt wurde.

Der Arbeitnehmer kündigt seine Erkrankung vorher an, falls bestimmte Wünsche (z.B. Urlaub) nicht erfüllt werden.

Die AU-Bescheinigung wird von einem Arzt ausgestellt, der dafür bekannt ist, Gefälligkeitsatteste auszustellen.

Der Arbeitnehmer reicht auffällig häufig Krankschreibungen ein, die genau an Urlaubs- oder Brückentage anschließen.

Die Umstände der Ausstellung oder der Inhalt des Attests selbst werfen Fragen auf (wie im aktuellen BAG-Fall).

Der konkrete Fall vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG 5 AZR 284/24)

Im vom BAG entschiedenen Fall kamen mehrere solcher zweifelbegründenden Umstände zusammen:

Der Sachverhalt: Ein langjähriger Lagermitarbeiter machte vom 22.08. bis 09.09.2022 Urlaub in Tunesien. Am 07.09.2022 meldete er sich per E-Mail krank und legte ein Attest eines tunesischen Arztes vom selben Tag vor. Diagnose laut Übersetzung: „schwere Ischialbeschwerden“ im engen „Lendenwirbelkanal“. Verordnung: 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.09.2022, während der er sich nicht bewegen und reisen dürfe.

Das Verhalten des Arbeitnehmers: Bereits am 08.09.2022, also nur einen Tag nach dem Arztbesuch und der Verordnung strengster Ruhe und eines Reiseverbots, buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für die Rückreise von Tunis nach Genua für den 29.09.2022. An diesem Tag – also noch während der attestierten Arbeitsunfähigkeit und des Reiseverbots – trat er die lange und beschwerliche Rückreise mit dem Auto und der Fähre (über 30 Stunden) tatsächlich an.

Die Vorgeschichte: Der Arbeitnehmer hatte in den Jahren 2017, 2019 und 2020 bereits drei weitere Male unmittelbar im Anschluss an seinen Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt (ein vierter Fall nach dem Sommerurlaub 2017 war unstrittig wegen einer Nierenstein-OP).

Die Reaktion des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber zweifelte die Arbeitsunfähigkeit an und verweigerte die Lohnfortzahlung für die Zeit vom 07.09. bis 30.09.2022. Er kürzte das Gehalt entsprechend. Der Arbeitnehmer klagte auf Zahlung.

Der Prozessverlauf: Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht gab ihr statt, weil es die einzelnen Umstände für nicht ausreichend hielt, um den Beweiswert zu erschüttern. Der Arbeitgeber legte Revision beim BAG ein.

Die Analyse des BAG: Warum die Zweifel berechtigt waren

Das BAG gab dem Arbeitgeber recht und hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf. Die Begründung: Das Landesarbeitsgericht habe den entscheidenden Fehler gemacht, die vom Arbeitgeber vorgetragenen Zweifel nur isoliert zu betrachten und nicht in einer Gesamtschau zu würdigen. Gerade das Zusammenspiel der verschiedenen Ungereimtheiten begründe hier ernsthafte Zweifel am Beweiswert des tunesischen Attests.

Folgende Punkte führte das BAG in seiner Gesamtwürdigung an:

  • Ungewöhnlich lange Krankschreibung ohne Begründung und Nachkontrolle: Die attestierte Dauer von 24 Tagen überschritt die in den deutschen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien vorgesehene Regeldauer von zwei Wochen erheblich. Obwohl eine längere Dauer möglich ist, fehlte im Attest jeglicher Hinweis, warum dies hier medizinisch notwendig war – insbesondere angesichts der strengen Ruheverordnung. Auch eine angeordnete Wiedervorstellung zur Kontrolle fehlte, was bei einer so langen Dauer und strengen Verhaltensregeln ungewöhnlich ist.
  • Widersprüchliches Verhalten des Arbeitnehmers: Das Buchen des Fährtickets nur einen Tag nach der Diagnose schwerer Beschwerden und der Anordnung strengster Ruhe und eines Reiseverbots passte nicht zusammen. Noch weniger passte der tatsächliche Antritt der über 30-stündigen Reise vor Ablauf der Krankschreibung und des Reiseverbots. Das Argument des Arbeitnehmers, die Fähre fahre nur einmal pro Woche, erklärte nicht, warum er trotz angeblich schwerer Schmerzen und ärztlicher Verbote davon ausging, die Reise überhaupt antreten zu können. Ein solches Verhalten kann als genesungswidrig oder als Indiz dafür gewertet werden, dass die Krankheit doch nicht so schlimm war.
  • Die Vorgeschichte zählt mit: Die Tatsache, dass der Arbeitnehmer schon mehrfach direkt nach dem Urlaub krankgeschrieben war, durfte nicht ignoriert werden. Auch wenn die früheren Krankschreibungen aus Deutschland stammten und vom Arbeitgeber akzeptiert wurden, kann eine solche Häufung im Zusammenhang mit Urlaub ein zusätzliches Indiz sein, das den Beweiswert des aktuellen Attests erschüttert.
  • Die Gesamtwürdigung ist entscheidend: Das BAG betonte, dass, selbst wenn jeder einzelne Punkt für sich genommen vielleicht nur leichte Zweifel begründen würde, die Kombination dieser ungewöhnlichen Umstände in einer Gesamtschau zu ernsthaften Zweifeln an der attestierten Arbeitsunfähigkeit führt.

[themifybox]Wichtig: Eine einzelne Ungereimtheit (z.B. die Krankschreibung beginnt direkt nach dem Urlaub) reicht oft nicht aus, um den hohen Beweiswert einer AU-Bescheinigung zu erschüttern. Erst das Zusammenspiel mehrerer auffälliger Umstände, die in einer Gesamtschau betrachtet werden, kann dazu führen, dass ein Gericht ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des Attests hat – das gilt für inländische wie für ausländische Bescheinigungen.[/themifybox]

Die Folgen eines erschütterten Beweiswerts: Was nun?

Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der AU-Bescheinigung durch das Vortragen solcher ernsthaften Zweifel zu erschüttern, hat das eine wichtige Konsequenz: Die Beweislast für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit fällt vollständig auf den Arbeitnehmer zurück.

Das bedeutet: Der Arbeitnehmer kann sich nicht mehr auf die Vermutungswirkung des Attests berufen. Er muss nun konkret darlegen und im Streitfall beweisen, dass er im betreffenden Zeitraum tatsächlich so krank war, dass er nicht arbeiten konnte.

Wie kann der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit doch noch beweisen?

Dieser Beweis ist oft schwierig zu führen, aber nicht unmöglich. Der Arbeitnehmer muss dem Gericht (und dem Arbeitgeber) detaillierte Informationen über seinen Gesundheitszustand liefern. Dazu gehört typischerweise:

  • Substantiierter Vortrag: Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft, aber nachvollziehbar schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen er hatte, welche Symptome auftraten und wie sich diese auf seine Arbeitsfähigkeit ausgewirkt haben. Er sollte auch angeben, welche ärztlichen Verhaltensmaßregeln (z.B. Bettruhe, Medikamente) verordnet wurden.
  • Zeugenbeweis: Der behandelnde Arzt (auch der im Ausland) kann als Zeuge benannt werden. Dafür muss der Arbeitnehmer den Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden. Der Arzt kann dann vor Gericht zu den Befunden, der Diagnose und seiner Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit aussagen.
  • Sachverständigengutachten: In manchen Fällen kann das Gericht auch ein medizinisches Sachverständigengutachten einholen, um die behauptete Arbeitsunfähigkeit nachträglich zu beurteilen.

Im Fall des tunesischen Attests hat das BAG die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dieses muss nun dem Arbeitnehmer die Gelegenheit geben, seine Arbeitsunfähigkeit für den strittigen Zeitraum konkret darzulegen und unter Beweis zu stellen (z.B. durch Vernehmung des tunesischen Arztes).

Praktische Bedeutung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Das Urteil des BAG hat erhebliche praktische Auswirkungen:

Tipps für Arbeitnehmer

  • Korrekte Atteste: Achten Sie bei Krankschreibungen im Ausland (insbesondere Nicht-EU) darauf, dass das Attest möglichst klar die Arbeitsunfähigkeit („incapacity for work“ o.ä.) bescheinigt und nicht nur eine Diagnose nennt. Eine Übersetzung kann hilfreich sein.
  • Vermeiden Sie widersprüchliches Verhalten: Wenn Ihnen strenge Ruhe oder ein Reiseverbot verordnet wird, halten Sie sich daran. Aktivitäten, die der attestierten Krankheit widersprechen (wie eine lange Reise oder körperliche Anstrengung), können den Beweiswert Ihres Attests zunichtemachen. Buchen Sie Reisen erst, wenn Sie sicher sind, diese auch antreten zu können.
  • Informieren Sie den Arzt: Teilen Sie dem ausländischen Arzt mit, dass Sie die Bescheinigung für Ihren Arbeitgeber in Deutschland benötigen und welche Anforderungen (Feststellung der Arbeitsunfähigkeit) bestehen.
  • Dokumentation: Heben Sie alle medizinischen Unterlagen aus dem Ausland gut auf (Atteste, Befunde, Rezepte). Diese können wichtig werden, falls der Arbeitgeber Zweifel äußert.
  • Seien Sie sich der Vorgeschichte bewusst: Häufige Krankschreibungen direkt nach dem Urlaub können Misstrauen wecken. Auch wenn jede einzelne Erkrankung echt war, kann die Häufung im Zweifel gegen Sie verwendet werden.

Tipps für Arbeitgeber

  • Gesamtschau vornehmen: Zweifeln Sie nicht vorschnell jedes ausländische Attest an. Prüfen Sie aber, ob mehrere Umstände zusammenkommen, die in einer Gesamtschau ernsthafte Zweifel begründen (z.B. Attest aus Urlaubsland + widersprüchliches Verhalten + auffällige Häufung nach Urlauben).
  • Dokumentation ist entscheidend: Halten Sie alle Indizien, die Ihre Zweifel begründen, schriftlich fest (z.B. E-Mail-Verkehr, Zeitpunkt der Krankmeldung, widersprüchliche Informationen, Beobachtungen Dritter – aber Vorsicht bei der Überwachung!).
  • Anforderungen an das Attest prüfen: Stellen Sie sicher, dass das ausländische Attest erkennen lässt, dass der Arzt zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit unterschieden hat. Fordern Sie ggf. eine erläuternde Bescheinigung oder Übersetzung an.
  • Das Gespräch suchen: Manchmal können Zweifel auch in einem sachlichen Gespräch mit dem Arbeitnehmer ausgeräumt werden.
  • Rechtzeitig reagieren: Wenn Sie ernsthafte Zweifel haben und die Lohnfortzahlung verweigern wollen, teilen Sie dies dem Arbeitnehmer unter Darlegung der Gründe mit.
  • Medizinischen Dienst einschalten: Bei berechtigten Zweifeln können Sie von der Krankenkasse verlangen, dass sie eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt.

Abgrenzung: Was ist mit Krankschreibungen aus EU-Ländern?

Das BAG-Urteil bezog sich explizit auf eine Bescheinigung aus einem Nicht-EU-Land (Tunesien). Für Krankschreibungen aus EU-Mitgliedstaaten gelten aufgrund europarechtlicher Regelungen (Sozialversicherungsabkommen, Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) teilweise erleichterte Bedingungen hinsichtlich der Anerkennung. Der grundsätzliche Beweiswert ist hier oft stärker abgesichert.

Aber auch bei EU-Attesten ist der Beweiswert nicht unerschütterlich. Wenn konkrete, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit bestehen (z.B. durch widersprüchliches Verhalten des Arbeitnehmers), kann der Arbeitgeber auch hier den Beweiswert erschüttern und die Lohnfortzahlung verweigern, bis der Arbeitnehmer den vollen Beweis seiner Arbeitsunfähigkeit erbracht hat. Die Grundsätze der Gesamtwürdigung von Verdachtsmomenten gelten also auch hier.

Zusammenfassung: Das Wichtigste in Kürze

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Krankschreibung aus dem Nicht-EU-Ausland stellt klar:

  • Gleichwertigkeit mit Vorbehalt: Ausländische AU-Bescheinigungen haben grundsätzlich den gleichen hohen Beweiswert wie deutsche, wenn sie erkennen lassen, dass der Arzt zwischen bloßer Krankheit und tatsächlicher Arbeitsunfähigkeit unterschieden hat.
  • Erschütterbarer Beweiswert: Der hohe Beweiswert ist nicht absolut. Arbeitgeber können ihn durch das Vortragen von Tatsachen, die ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Krankschreibung begründen, erschüttern.
  • Gesamtwürdigung entscheidend: Ob ernsthafte Zweifel bestehen, ergibt sich nicht aus einzelnen Punkten allein, sondern aus einer Gesamtschau aller relevanten Umstände (z.B. Inhalt des Attests, Verhalten des Arbeitnehmers, Vorgeschichte).
  • Beweislastumkehr: Gelingt die Erschütterung, muss der Arbeitnehmer voll beweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig krank war. Das Attest allein reicht dann nicht mehr aus.
  • Praktische Konsequenzen: Arbeitnehmer sollten im Ausland auf korrekte Atteste achten und widersprüchliches Verhalten vermeiden. Arbeitgeber sollten bei Zweifeln alle Indizien sorgfältig dokumentieren und eine Gesamtwürdigung vornehmen.

Diese Entscheidung schafft mehr Klarheit im Umgang mit ausländischen Krankschreibungen und betont die Bedeutung einer sorgfältigen Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller Umstände. Sie erinnert daran, dass Vertrauen zwar die Basis jedes Arbeitsverhältnisses ist, dieses Vertrauen aber durch nachvollziehbare Zweifel auch ins Wanken geraten kann.

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