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Außerordentliche Kündigung bei häufigen Kurzerkrankungen

LAG Berlin-Brandenburg, Az: 15 Sa 825/13, Urteil vom 27.08.2014

Leitsatz – nicht amtlich: Zu prognostizierende Arbeitsunfähigkeitszeiten im Umfang von insgesamt 17,4 Wochen pro Jahr und Entgeltfortzahlungskosten im Umfang von insgesamt 14,7 Wochen jährlich können eine krankheitsbedingte außerordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers nicht rechtfertigen.

billionphotos-1897887Eine Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit kann ein wichtiger Kündigungsgrund eines Arbeitnehmers sein. Eine außerordentliche Kündigung kommt jedoch nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher Vereinbarungen ausgeschlossen ist. Das Bundesarbeitsgericht prüft die Wirksamkeit einer auf häufigen Kurzerkrankungen gestützten Kündigung grundsätzlich in drei Schritten. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Hierbei kommt häufigen Kurzerkrankungen in der Vergangenheit indizielle Bedeutung für eine entsprechende künftige Entwicklung zu – 1. Stufe. Im Rahmen der Prüfung der 2. Stufe muss festgestellt werden, ob die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen des Arbeitgebers führen. Diese kann sich aus Betriebsablaufstörungen aber auch aus wirtschaftlichen Belastungen, etwa durch die zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen ergeben. Auf der Ebene der 3. Stufe ist dann im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen. Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Insofern bedarf es eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Es muss ein quasi sinnentleertes Arbeitsverhältnis vorliegen. Als Grundlage für eine Prognose ist ein Zeitraum von drei Jahren geeignet. Unzumutbare wirtschaftliche Belastungen hat das Bundesarbeitsgericht selbst dann nicht angenommen, wenn künftig von möglichen Fehlzeiten des Arbeitnehmers im Umfang von 11,75 Wochen pro Jahr und selbst von 18,81 Wochen auszugehen wäre.

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus vom 7. Dezember 2012 – 5 Ca 1756/11 – abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 24.10.2011 beendet worden ist.

II. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist.

Die am …… 1957 geborene Klägerin ist seit dem 1. Januar 1981 bei der Beklagten beschäftigt. Aufgrund tarifvertraglicher Regelungen ist sie ordentlich unkündbar. Auf dieser Basis ist die Beklagte auch verpflichtet, Entgeltfortzahlung in voller Höhe bis zum Ende der 26. Woche zu leisten. Die Klägerin war ursprünglich als Operaterin tätig. Mit Wirkung ab dem 1. Juni 2007 wurde eine Änderung des Arbeitsvertrages in Bezug auf die nunmehr auszuübende Tätigkeit als Servicemitarbeiterin I und K-Support (Archivverwaltung) vereinbart. Das Bruttogehalt der Klägerin betrug zuletzt 3.734,38 €. Seit dem Jahre 2000 war die Klägerin wiederholt arbeitsunfähig auch über deutlich mehr als 26 Wochen in Folge erkrankt. Hinsichtlich der einzelnen Krankheitszeiten und der aufgewandten Lohnfortzahlungskosten wird auf die Anlage B6 zum Schriftsatz vom 13. September 2013 (Bl. 206 f. d. A.) verwiesen. Bzgl. der einzelnen Diagnosen wird auf die Diagnoseliste der Krankenkasse (Anl. K9, Bl. 162 f. d. A.) Bezug genommen. Zuletzt war die Klägerin durchgängig vom 18. Februar 2011 bis zum 20. April 2012 arbeitsunfähig erkrankt. Eine Operation wegen eines Schulterengpasssyndroms im Februar 2011 führte zu keiner Besserung. Nach verschiedenen Gesprächen, in denen die Klägerin keinen konkreten Termin bzgl. der Wiederaufnahme der Arbeit mittgeilen konnte, bat die Beklagte das Integrationsamt zur Zustimmung hinsichtlich einer außerordentlichen Kündigung. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2011 hörte die Beklagte einerseits den örtlichen Betriebsrat an, in dessen Bereich die Klägerin früher tätig war, als auch den Betriebsrat, in dessen Bereich sie zuletzt tätig war (Bl. 45 ff., 77 ff. d. A.). Mit Schreiben vom 24. Oktober 2011, das die Klägerin am nächsten Tag erhielt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist zum 31. Dezember 2012. Gegen diese Kündigung wehrt die Klägerin sich mit der am 11. November 2011 beim Arbeitsgericht Berlin eingegangenen Klage, die der Beklagten am 17. November 2011 zugestellt worden ist. Mit rechtskräftigem Beschluss wurde der Rechtsstreit anschließend an das Arbeitsgericht Cottbus verwiesen.

In der Zeit vom 14. November 2011 bis 26. November 2011 befand sich die Klägerin in teilstationärer Behandlung u. a. wegen einer depressiven Störung im Krankenhaus. Am 12. März 2012 wurde die Klägerin erneut an der rechten Schulter operiert. Von April 2012 bis Dezember 2012 arbeitete die Klägerin ohne dass weitere Arbeitsunfähigkeitszeiten auftraten.

Die Klägerin hat erstinstanzlich zu den einzelnen Krankheitsperioden näher vorgetragen. Sie hat die Ansicht vertreten, der Wiedereingliederungsplan vom 27. September 2011 hätte vor Ausspruch einer Kündigung abgewartet werden müssen. Die von der Beklagten vorgetragenen Entgeltfortzahlungskosten seien für sie nicht nachvollziehbar.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

1.  festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 24.10.2011 beendet worden ist;

2.  im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Operateurin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass wegen einer wohl grundlegenden Erkrankung des Knochen- und Bewegungsapparates sämtliche Krankheitszeiten der Klägerin prognosefähig seien. Drei Wiedereingliederungsmaßnahmen in der Vergangenheit hätten nur kurzfristig Erfolge gezeigt. Daher sei der letzte Eingliederungsplan unrealistisch gewesen. Die Klägerin sei selbst davon ausgegangen, dass eine zweite Operation notwendig sei. Ihr sei eine Weiterbeschäftigung der Klägerin nicht zuzumuten, da diese in den letzten 12 Jahren über die Hälfte aller Arbeitstage arbeitsunfähig krank gewesen sei. Die Unzumutbarkeit ergebe sich auch daraus, dass zwischen 2000 und 2011 insgesamt Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von 198.691,25 € aufgelaufen seien. Die Klägerin hätte auf dem ursprünglichen Arbeitsplatz nicht wieder eingesetzt werden können, da sie seit dem Jahre 2000 nicht an Weiterbildungskursen teilgenommen habe. Durch den krankheitsbedingten Ausfall der Klägerin hätten die übrigen Mitarbeiter des Kundendienstes Archivierungsarbeiten neben ihrer bisherigen Tätigkeit selbst durchführen müssen. Rechnerisch musste daher jeder Mitarbeiter des Kundendienstes 1/8 der zuletzt von der Klägerin ausgeübten Arbeitsaufgaben miterledigen, ohne dass dadurch eine Entlastung an anderer Stelle aufgetreten sei. Die Abwesenheit der Klägerin hätte zur Arbeitsverdichtung der übrigen Kollegen im Bereich Kundendienst geführt. Sie hat ferner die Ansicht vertreten, dass auch in Zukunft mit ähnlich langen und in ähnlichen Abständen sich wiederholenden Krankheitszeiten zu rechnen sei.

Das Arbeitsgericht Cottbus hat mit Urteil vom 7. Dezember 2012 die Klage abgewiesen. Hierzu hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass ein wichtiger Grund gem. § 626 BGB gegeben sei. Aufgrund der andauernden Erkrankungen der Klägerin sei eine negative Prognose gegeben, dass die Klägerin wegen eines fortbestehenden Grundleidens in der Erkrankung des Schulter-Arm-Bereiches auf unbestimmte Dauer arbeitsunfähig sei. Es hätten Ausfallzeiten mit ansteigender Tendenz vorgelegen. Bei einer solchen negativen Indizwirkung hätte der Arbeitnehmer darlegen müssen, weshalb mit einer baldigen Genesung zu rechnen sei. Die Operation vom 24. Februar 2011 sei erfolglos bzgl. der Beseitigung der Krankheitsursache gewesen. Der Wiedereingliederungsplan des Arztes Dr. M. habe im Widerspruch zum tatsächlichen Gesundheits- besser Krankheitszustand der Klägerin gestanden. Zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs hätten keine Entscheidungen zu Behandlungsmaßnahmen vorgelegen, die zu einer Beseitigung des Leidens hätten führen können. Die physiotherapeutischen Behandlungen hätten weder zur Beseitigung der Schmerzen, geschweige denn zur Beseitigung der Krankheitsursachen geführt. Nach dem Vortrag der Klägerin hätte die Entscheidung über eine zweite Operation deutlich nach Ausspruch der Kündigung gelegen. Dieser Sachverhalt könne die anzustellende maßgebliche negative Prognose nicht beseitigen. Auch in objektiver Hinsicht bestand somit zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs für die Beklagte die negative Prognose einer dauerhaften Forterkrankung der Klägerin. Das Arbeitsverhältnis der Parteien sei als sinnentleert einzuordnen. Mit den auf die Prognose relevanten Ausfallzeiten entfallenden Entgeltfortzahlungskosten seien die betrieblichen Interessen der Beklagten auch erheblich beeinträchtigt. Die Entgeltfortzahlungskosten hätten deutlich über dem üblichen 6-Wochen-Zeitraum gelegen. Mit den Entgeltfortzahlungskosten, mit denen die Beklagte aufgrund des bisherigen Verlaufes des Arbeitsverhältnisses und der negativen Prognose auch zukünftig rechnen musste, lägen betriebliche Belastungen vor. Auch im Rahmen der Interessenabwägung überwiege das Interesse der Beklagten an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die Beklagte hätte davon ausgehen müssen, über einen Zeitraum bis zum Renteneintritt von der Klägerin keine nennenswerten Arbeitsleistungen mehr erwarten zu können, vielmehr immer wieder mit Entgeltfortzahlungen wie im zurückliegenden Zeitraum in Anspruch genommen zu werden. Die Frist nach § 626 Abs. 2 BGB sei eingehalten. Die Kündigung sei auch nicht wegen mangelhafter Beteiligung des Betriebsrates unwirksam, da die streitgegenständliche Kündigung das Arbeitsverhältnis aufgelöst habe, besitze die Klägerin auch keinen Weiterbeschäftigungsanspruch.

Dieses Urteil ist der Klägerin am 2. Mai 2013 zugestellt worden. Die Berufung ging am 3. Mai 2013 und die entsprechende Begründung am 6. Juni 2013 beim Landesarbeitsgericht ein. Die Klägerin ist der Ansicht, das Arbeitsgericht hätte Beweis erheben müssen, zumal sie die behandelnden Ärzte benannt und von der Schweigepflicht entbunden habe. Auch nach der ersten Operation habe sie alles daran gesetzt, wieder zu genesen. Die physiotherapeutischen Maßnahmen seien das Mittel der ersten Wahl gewesen, um evtl. eine zweite Operation zu vermeiden. Diese zweite Operation habe dann zur Wiederherstellung der Gesundheit geführt. Der zuletzt vorgeschlagene Wiedereingliederungsplan hätte abgewartet werden müssen. Erhöhte Entgeltfortzahlungskosten in der Zukunft seien nicht zu erwarten gewesen, da sie aus der Lohnfortzahlung ausgeschieden sei. Die Betriebsratsanhörung sei auch deswegen unwirksam, weil diesem nicht zumindest kurz die Gründe der Interessenabwägung dargelegt worden seien. Die Kündigung sei auch aus formalen Gründen unwirksam. Nachdem das Integrationsamt der außerordentlichen Kündigung per Telefax am 21. Oktober 2011 zugestimmt habe, hätte die Kündigung noch nicht ausgesprochen werden dürfen. Es hätte vielmehr die förmliche Zustellung abgewartet werden müssen. Nach Beseitigung der Krankheitsursachen durch die zweite Operation hätte die Klägerin jedenfalls einen Anspruch auf Wiedereinstellung.

Die Klägerin beantragt zuletzt, unter Abänderung des am 07.12.2012 unter dem Az. 5 Ca 1756/11 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Cottbus

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 24.10.2011 beendet wurde; hilfsweise

2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ein Angebot auf Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages nach Maßgabe der Arbeitsverträge vom 01.01.1981, vom 28.10.1992 und zuletzt vom 12.12.1996 als Servicemitarbeiterin I und K-Support (Archivverwaltung) zu unveränderten Bedingungen und unter Wahrung des Besitzstandes für die Zeit ab dem 01.01.2013 zu unterbreiten; im Fall des Unterliegens

3. die Beklagte hilfsweise zu verurteilen, der Klägerin zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit dieses Antrages ein Angebot auf Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages nach Maßgabe der Arbeitsverträge vom 01.01.1981, 28.10.1992 und zuletzt vom 12.12.1996 als Servicemitarbeiterin I und K-Support (Archivverwaltung) zu unveränderten Bedingungen und unter Wahrung des Besitzstandes und insbesondere einer Betriebszugehörigkeit ab dem 01.01.1981 zu unterbreiten; im Falle des Unterliegens

4. die Beklagte hilfsweise zu verurteilen, der Klägerin zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit dieses Antrages ein Angebot auf Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages nach Maßgabe der Arbeitsverträge vom 01.01.1981, vom 28.10.19982 und zuletzt vom 12.12.1996 als Servicemitarbeiterin I und K-Support (Archivverwaltung) zu unveränderten Bedingungen zu unterbreiten.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte behauptet, jede der aufgetretenen Krankheiten sei prognosefähig. Aufgrund der Arbeitsunfähigkeitszeiten über die letzten 12 Jahre müsse davon ausgegangen werden, dass eine Störung des Austauschverhältnisses gegeben war, so dass auch eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist zu rechtfertigen sei. Aus dem Vortrag der Klägerin ergebe sich gerade nicht, dass künftig das arbeitsvertragliche Austauschverhältnis nicht mehr, oder zumindest nur noch in weit geringerem Maße beeinträchtigt werde.

Über die Behauptung der Beklagten ist Beweis erhoben worden. Hinsichtlich des Beweisthemas wird auf die Sitzungsniederschrift vom 8. Januar 2014 verwiesen. Das schriftliche Gutachten stammt vom 24. Februar 2014 (Bl. 317 ff. d. A.).

Die Klägerin geht davon aus, dass das Sachverständigengutachten als nicht allumfassend und subjektiv schon allein aufgrund der Darstellung der Arbeitsunfähigkeitszeiten und der hier schwerpunktmäßig benannten psychischen Störungen zurückzuweisen sei. Die Beklagte ist der Ansicht, das Gutachten bestätige ihre Prognose, dass auch in der Zukunft mit weiteren erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin zu rechnen sei.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist daher zulässig.

II.

Die Berufung ist auch begründet. Im Gegensatz zur Auffassung der I. Instanz hat die außerordentliche Kündigung vom 24. Oktober 2011 trotz der Auslauffrist zum 31. Dezember 2012 das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Daher war die erstinstanzliche Entscheidung abzuändern und der Klage insofern stattzugeben. Es fehlt an einem wichtigen Grund für diese außerordentliche Kündigung.

1. Im Gegensatz zur Auffassung des Arbeitsgerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass mit einer Einsatzfähigkeit der Klägerin auf Dauer nicht mehr gerechnet werden konnte. Dies hatte die Beklagte auch gar nicht vorgetragen. Auf Seite 1 des Schriftsatzes vom 30. August 2012 (Bl. 168 d. A.) war sie vielmehr davon ausgegangen, dass entsprechend des Verlaufs in der Vergangenheit auch in Zukunft mit ähnlich langen, sich in ähnlichen Abständen wiederholenden Krankheitsphasen zu rechnen sei. Dies ist etwas anderes als die Behauptung, die Klägerin werde gar nicht mehr genesen. Die Entscheidung ist auch deswegen in sich widersprüchlich, weil das Arbeitsgericht auf Seite 13 des Urteils annimmt, dass die Beklagte auch künftig mit hohen Entgeltfortzahlungskosten rechnen müsse. Das wäre bei einer Dauererkrankung so nicht zutreffend, denn mit Auslaufen des Entgeltfortzahlungszeitraums – hier nach 26 Wochen – muss auch die Beklagte bei ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit keine weiteren Kosten mehr aufbringen.

2. Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit kann ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB sein. Eine außerordentliche Kündigung kommt jedoch nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa wenn die ordentliche Kündigung aufgrund tarifvertraglicher Vereinbarungen ausgeschlossen ist (BAG 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 26). Das BAG prüft die Wirksamkeit einer auf häufigen Kurzerkrankungen gestützten Kündigung grundsätzlich in drei Schritten. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Hierbei kommt häufigen Kurzerkrankungen in der Vergangenheit indizielle Bedeutung für eine entsprechende künftige Entwicklung zu – 1. Stufe (a. a. O. Rn. 27). Im Rahmen der Prüfung der 2. Stufe muss festgestellt werden, ob die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Diese kann sich aus Betriebsablaufstörungen aber auch aus wirtschaftlichen Belastungen, etwa durch die zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen ergeben. Auf der Ebene der 3. Stufe ist dann im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob diese Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (a. a. O. Rn. 27). Bei einer außerordentlichen Kündigung ist dieser Prüfungsmaßstab auf allen drei Stufen erheblich strenger. Insofern bedarf es eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Es muss ein quasi sinnentleertes Arbeitsverhältnis vorliegen (a. a. O. Rn. 28). Als Grundlage für eine Prognose ist ein Zeitraum von drei Jahren geeignet (a. a. O. Rn. 32). Unzumutbare wirtschaftliche Belastungen hat das BAG im konkreten Fall auch dann nicht angenommen, wenn künftig von möglichen Fehlzeiten im Umfang von 11,75 Wochen pro Jahr und selbst von 18,81 Wochen auszugehen wäre (a. a. O. Rn. 33).

3. Bei Anwendung dieser Grundsätze kann nicht festgestellt werden, dass ein Grund für eine außerordentliche Kündigung im Sinne des § 626 BGB vorliegt.

3.1 Hinsichtlich der Prüfung auf der 1. Stufe ist mit dem BAG davon auszugehen, dass ein Zeitraum von drei Jahren vor Zugang der Kündigung als Grundlage für eine Prognose ausreichend ist. In der Literatur wird eine Zeitspanne von zwei bis drei Jahren als hinreichend sicher angenommen (KR-Griebeling § 1 KSchG Rn. 330). Dieser Zeitraum ist vorliegend auch deswegen angemessen und ausreichend, weil in ihm auch mit der Zeit ab dem 18. Februar 2011 eine Periode einer lang anhaltenden Krankheit liegt.

Weiterhin ist davon auszugehen, dass Kurzerkrankungen wie akute Infektionen der oberen Atemwege, Bronchitis, Magen-Darm-Infektion und Virusinfektion allgemein ausgeheilt sind (so auch Seite 9 des Sachverständigengutachtens, Bl. 321 d. A.). Die Sachverständige hat dies in der mündlichen Befragung am 27. August 2014 nochmals bestätigt, da Anhaltspunkte für eine chronische Erkrankung nicht vorlägen. Auch in der Diagnoseliste (Bl. 162 d. A.) wird ein chronischer Verlauf nicht erwähnt. Zu Lasten der Klägerin soll an dieser Stelle aber angenommen werden, dass alle übrigen Erkrankungen (insbesondere wie sie auf depressive Störungen und Probleme im Schulterbereich zurückgeführt werden) prognosefähig sind. Insoweit soll dem Einwand der Klägerin nicht weiter nachgegangen werden, dass insbesondere im Hinblick auf das Schulter-Engpass-Syndrom (Impingement-Syndrom) auch vor Ausspruch der Kündigung ggf. eine zweite Operation schon angedacht war. Auch in dem von der Beklagten verfassten Gesprächsprotokoll vom 10. August 2011 wird von der Klägerin ggf. eine weitere Operation angesprochen. Auf Seite 5 des Beklagtenschriftsatzes vom 24. Februar 2012 wird ebenfalls widergegeben, dass im Gespräch am 26. September 2012 nach Darstellung der Klägerin eine erneute Operation und eine weitere Reha-Maßnahme erwogen werden. Insofern waren die therapeutischen Maßnahmen zu diesem Zeitpunkt möglicherweise noch nicht voll ausgeschöpft mit der Folge, dass entsprechende Krankheitszeiten aus der Vergangenheit gerade nicht prognosefähig sein könnten. Dies dahingestellt sein lassend geht die Kammer davon aus, dass die folgenden Krankheitszeiten in der Vergangenheit und die entsprechenden Krankheitsbilder bezogen auf die letzten drei Jahre prognosefähig sind:

Zeitraum 10.12.2009 – 31.12.2009

Krankheitstage 22   

Tage mit 22 Entgeltfortzahlung

Entgeltfortzahlungskosten2.428,46

01.01.2010 – 01.02.2010

32   

32   

3.532,30

 

22.07.2010 – 20.08.2010

30   

30   

3.384,38

 

26.10.2010 – 26.11.2010

32   

32   

3.610,01

 

18.02.2011 – 25.10.2011

250    

182    

20.531,91

3.2 Die künftig zu erwartenden Fehlzeiten der Klägerin führen jedoch nicht zu einer unzumutbaren wirtschaftlichen Belastung der Beklagten. Insgesamt war die Klägerin in diesen drei Jahren an 366 Tagen arbeitsunfähig erkrankt, was im Jahresdurchschnitt einem Zeitraum von 17,4 Wochen entspricht. Entgeltzahlungen musste die Beklagte an 308 Tagen leisten, so dass künftig von prognosefähigen Belastungen in Höhe von 14,7 Wochen pro Jahr auszugehen ist. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wäre damit aber noch nicht „sinnentleert“ im Sinne der Rechtsprechung des BAG. Das BAG hatte vielmehr selbst Fehlzeiten in Höhe von 18,81 Wochen nicht ausreichen lassen. Die hiesigen Zeiten liegen deutlich darunter.

Selbst wenn man abweichend von der BAG-Rechtsprechung für die prognosefähigen Belastungen einen weiteren Zeitraum von 3 Jahren hinzunähme und auch die kürzeren Erkrankungen zu Beginn des Jahres als prognosefähig werten würde, bliebe es bei der hier getroffenen rechtlichen Einschätzung. In 6 Jahren wären dann 977 Krankheitstage und 697 Tage mit Entgeltfortzahlung angefallen. Dies entspricht im Jahresdurchschnitt 23,26 bzw. 16,6 Wochen. Jedenfalls die Kosten für die Entgeltfortzahlung blieben bezogen auf die durchschnittliche Wochenanzahl noch unter dem Wert, den das BAG als hinzunehmen eingeschätzt hat.

Unabhängig von den wirtschaftlichen Belastungen kann aus dem Vortrag der Beklagten auch nicht abgeleitet werden, dass die prognostizierten Fehlzeiten künftig zu nicht mehr hinnehmbaren Betriebsablaufstörungen führen werden. Der Hinweis der Beklagten, dass die übrigen Mitarbeiter rechnerisch 1/8 mehr an Aufgaben zu erfüllen hätten, reicht insofern nicht aus. Weder hat die Beklagte vorgetragen, dass es insofern zur Ableistung von Überstunden gekommen sei, noch dass von den übrigen Beschäftigten überobligatorische Leistungen eingefordert worden seien. Unabhängig hiervon hat das BAG Vertretungsbedarf und ggf. Verzögerungen im Betriebsablauf als nicht außergewöhnlich angenommen (a. a. O. Rn. 33). Soweit die Beklagte darauf verweist, dass die Klägerin in der Vergangenheit nicht mehr weitergebildet worden sei und entsprechende Maßnahmen künftig zu Belastungen der übrigen Mitarbeiter führen würden, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Auch bei Mitarbeitern, die wenig krank sind, führen die entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen dazu, dass die Arbeitskraft für ihre eigenen Aufgaben vorübergehend nicht zur Verfügung steht und ggf. andere Mitarbeiter dies ausgleichen müssen.

3.3 Auch die allgemeine Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Klägerin aus, so dass auch aus diesem Grunde die ausgesprochene außerordentliche Kündigung unwirksam ist. Hierbei ist – wie in dem vom BAG entschiedenen Fall – zu Gunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass diese über einen langen Zeitraum ebenfalls von mehr als 10 Jahren erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten der Klägerin hingenommen hat, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen wurde. Auch hier hat die Beklagte zahlreiche Krankengespräche geführt und der Klägerin auch unter Abänderung des Arbeitsvertrages einen anderen Arbeitsplatz zugewiesen. Insofern hat sie versucht, zu einer Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin beizutragen. Trotzdem überwiegen die Interessen der Klägerin. Ihrer Betriebszugehörigkeit von mehr als drei Jahrzehnten, ihrem Alter von damals 53 Jahren und den mit beiden Merkmalen verbundenen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt kommt ganz erhebliches Gewicht zu. Die Klägerin hat im Termin vom 27. August 2014 auch vorgetragen, dass sie noch keine neue Tätigkeit gefunden habe und inzwischen Arbeitslosengeld II beziehe.

4. Ob die Kündigung auch aus anderen Gründen unwirksam ist (Betriebsratsbeteiligung, Ausspruch der Kündigung vor förmlicher Zustellung des Bescheides des Integrationsamtes) kann offen bleiben.

5. Über die hilfsweise gestellten Anträge war nicht zu entscheiden, da schon der Hauptantrag Erfolg hatte.

III.

Soweit das Arbeitsgericht auch den erstinstanzlich hilfsweise für den Fall des Obsiegens gestellten Weiterbeschäftigungsantrag abgewiesen hat, ist dieses Urteil nichtig. Gerade weil der Antrag nur für den Fall des Obsiegens gestellt worden war, war er nicht zur Entscheidung angefallen.

IV.

Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs. 2 ArbGG) liegen nicht vor. Insofern ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.

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