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Kündigung schwerbehindert Probezeit: Gilt das Präventionsverfahren hier nicht?

Die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers in der Probezeit stand im Zentrum eines wichtigen Urteils des Bundesarbeitsgerichts. Ein Arbeitgeber entließ einen neuen Mitarbeiter wegen fachlicher Ungeeignetheit, ohne das bei Schwerbehinderten übliche Präventionsverfahren durchzuführen. Der betroffene Arbeitnehmer klagte, denn er sah seine Kündigung aufgrund der unterlassenen Maßnahme als unwirksam an. Doch ist der Arbeitgeber tatsächlich dazu verpflichtet, ein solches Verfahren auch während der Wartezeit des Arbeitsverhältnisses durchzuführen?

Übersicht:

Ein Arbeitgeber im Anzug übergibt einem im Rollstuhl sitzenden Mitarbeiter während der Probezeit eine Kündigung ohne Durchführung des Präventionsverfahrens.
Kündigung trotz Schwerbehinderung: Welche Hürden gelten und welche Pflichten hat der Arbeitgeber, wenn der Arbeitsplatz bedroht ist? | Symbolbild: KI-generiertes Bild

Das Urteil in 30 Sekunden

  • Das Problem: ❓ Ein Mitarbeiter mit Behinderung wurde in der Probezeit gekündigt. Er sah das als Diskriminierung und bemängelte, dass der Arbeitgeber ein besonderes Schutzverfahren unterließ.
  • Die Frage: ⚖️ Muss ein Arbeitgeber bei der Kündigung eines Mitarbeiters mit Behinderung in der Probezeit immer ein spezielles Schutzverfahren durchführen?
  • Die Antwort:  Nein. Das Gericht entschied, dass dieses Schutzverfahren in der Probezeit nicht erforderlich ist. Die Kündigung war wirksam, da sie auf mangelnder fachlicher Eignung beruhte.
  • Das bedeutet das für Sie:  Arbeitgeber müssen das spezielle Schutzverfahren in der Probezeit nicht durchführen. Eine Kündigung wegen der Behinderung ist aber verboten, und die Zustimmung einer zuständigen Behörde ist auch in der Probezeit immer nötig.

Die Fakten im Blick

  • Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer erhielt eine ordentliche Kündigung während der sechsmonatigen Wartezeit seines Arbeitsverhältnisses.
  • Die Beklagte begründete die Kündigung mit der fachlichen Ungeeignetheit des Arbeitnehmers, die nach gerichtlicher Feststellung nicht im Zusammenhang mit dessen Schwerbehinderung stand.
  • Der Arbeitnehmer klagte auf Unwirksamkeit der Kündigung, da der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt hatte.
  • Das Bundesarbeitsgericht (BAG) wies die Revision des Klägers zurück und bestätigte die Wirksamkeit der Kündigung.
  • Das Gericht stellte fest, dass die Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX nicht während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG gilt.
  • Das BAG urteilte zudem, dass das Unterlassen dieses Präventionsverfahrens keine Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) darstellt.

Quelle: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.04.2025, Az. 2 AZR 178/24

Kündigung in der Probezeit: Muss der Arbeitgeber für Schwerbehinderte immer ein Präventionsverfahren durchführen?

Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses ist für jeden Arbeitnehmer ein einschneidendes Ereignis. Für schwerbehinderte Menschen wiegt dieser Einschnitt oft noch schwerer, weshalb der Gesetzgeber besondere Schutzmechanismen etabliert hat. Doch wie weit reicht dieser Schutz in der rechtlich fragilen Anfangsphase eines Jobs – der sogenannten Warte- oder Probezeit? Genau diese Kernfrage stand im Mittelpunkt einer grundlegenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG).

Es ging um den Konflikt zwischen der relativen Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers in den ersten sechs Monaten und der besonderen Fürsorgepflicht gegenüber einem schwerbehinderten Mitarbeiter. Konkret musste das höchste deutsche Arbeitsgericht klären, ob ein Arbeitgeber vor einer Kündigung in der Wartezeit zwingend ein sogenanntes Präventionsverfahren durchführen muss, das eigentlich dazu dient, den Arbeitsplatz zu sichern. Das Urteil liefert eine weitreichende und methodisch präzise Antwort, die das Zusammenspiel von Kündigungsschutzgesetz, Behindertenrecht und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz beleuchtet und klare Leitplanken für die Praxis setzt.

Der Fall: Fachliche Eignung und eine Kündigung nach drei Monaten

Die Ausgangslage des Falles war klar umrissen. Ein Mann mit einer anerkannten Schwerbehinderung trat am 1. Januar 2023 eine neue Stelle als Leiter für Haus- und Betriebstechnik an. Im Arbeitsvertrag war eine sechsmonatige Probezeit vereinbart. Der Arbeitgeber war von Beginn an über die Schwerbehinderung informiert und hatte diese bei der Einstellung nach eigenem Bekunden berücksichtigt. In dem Unternehmen gab es weder einen Betriebsrat noch eine Schwerbehindertenvertretung, was für die späteren Abläufe von Bedeutung sein sollte.

Bereits nach drei Monaten, mit Schreiben vom 30. März 2023, kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 15. April 2023. Die Kündigung erfolgte also deutlich innerhalb der vereinbarten sechsmonatigen Probezeit. Als Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses führte das Unternehmen die fachliche Ungeeignetheit des neuen Mitarbeiters an. Man sei zu dem Schluss gekommen, dass er den Anforderungen der Position nicht gewachsen sei. Gleichzeitig wurde versichert, dass kein anderer freier Arbeitsplatz im Unternehmen zur Verfügung stehe, auf dem der Mann hätte weiterbeschäftigt werden können.

Der gekündigte Arbeitnehmer wollte dies nicht akzeptieren und erhob fristgerecht Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht. Sein zentrales Argument war, die Kündigung sei aus mehreren Gründen unwirksam.

Zum einen sah er sich aufgrund seiner Behinderung diskriminiert, was die Kündigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nichtig machen würde. Als entscheidendes Indiz für diese Diskriminierung führte er an, dass der Arbeitgeber ein gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren, das sogenannte Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX), nicht durchgeführt hatte.

Dieses Verfahren, so seine Argumentation, hätte dem Arbeitgeber die Pflicht auferlegt, gemeinsam mit ihm und externen Stellen nach Lösungen zu suchen, um die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz zu überwinden und die Kündigung abzuwenden. Da dies unterblieben sei, sei die Kündigung nicht nur diskriminierend, sondern auch ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB).

Die Klage des Mannes blieb jedoch in den ersten beiden Instanzen erfolglos. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Thüringer Landesarbeitsgericht wiesen seine Klage ab und stuften die Kündigung als wirksam ein. Unbeirrt von diesen Niederlagen verfolgte der Kläger sein Ziel weiter und legte Revision beim Bundesarbeitsgericht ein, um die grundlegende Rechtsfrage auf höchster Ebene klären zu lassen.

Die juristischen Rahmenbedingungen: Ein Spannungsfeld aus Kündigungsschutz, Antidiskriminierung und Behindertenrecht

Um die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in ihrer Tiefe zu verstehen, ist es unerlässlich, die drei zentralen Rechtsgebiete zu beleuchten, die in diesem Fall aufeinandertrafen. Jedes dieser Gebiete verfolgt eigene Schutzziele, die hier in ein komplexes Spannungsverhältnis gerieten.

Der allgemeine Kündigungsschutz und die Besonderheit der Wartezeit

Das deutsche Arbeitsrecht ist bekannt für seinen starken Arbeitnehmerschutz. Das Herzstück dieses Schutzes ist das Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Es legt fest, dass eine ordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber „sozial gerechtfertigt“ sein muss. Das bedeutet, der Arbeitgeber braucht einen triftigen Grund, der entweder in der Person des Arbeitnehmers (z. B. langanhaltende Krankheit), seinem Verhalten (z. B. wiederholte Arbeitsverweigerung) oder in dringenden betrieblichen Erfordernissen (z. B. Auftragsmangel) liegen muss.

Dieser umfassende Schutz greift jedoch nicht von Anfang an. § 1 Abs. 1 KSchG sieht eine sogenannte Wartezeit von sechs Monaten vor. Erst nach ununterbrochenem Bestehen des Arbeitsverhältnisses für diesen Zeitraum findet das Gesetz Anwendung. Innerhalb dieser ersten sechs Monate – die oft als Probezeit ausgestaltet sind – genießt der Arbeitgeber eine erweiterte Kündigungsfreiheit. Er kann das Arbeitsverhältnis ordentlich kündigen, ohne einen der oben genannten Gründe nachweisen zu müssen. Die Kündigung muss also nicht sozial gerechtfertigt sein. Diese Regelung soll beiden Parteien, insbesondere aber dem Arbeitgeber, ermöglichen, die Eignung und das Zusammenpassen im betrieblichen Alltag zu erproben, ohne sofort den vollen Kündigungsbeschränkungen zu unterliegen. Allerdings bedeutet dies keine absolute Narrenfreiheit; die Kündigung darf nicht gegen andere zwingende Gesetze verstoßen.

Der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen nach dem SGB IX

Parallel zum allgemeinen Kündigungsschutz existieren spezielle Schutzvorschriften für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen, die im Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) verankert sind. Dieser besondere Schutz soll Nachteile ausgleichen und die Teilhabe am Arbeitsleben sichern. Zwei Instrumente sind hier von besonderer Bedeutung:

  1. Der besondere Kündigungsschutz (§ 168 ff. SGB IX): Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Dieses Amt prüft, ob die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht. Dieser Schutz greift – anders als der allgemeine Kündigungsschutz des KSchG – bereits vom ersten Tag an, also auch in der Wartezeit, sofern der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung Kenntnis hatte.
  2. Das Präventionsverfahren (§ 167 Abs. 1 SGB IX): Dies war der Dreh- und Angelpunkt des vorliegenden Falls. Diese Vorschrift verpflichtet den Arbeitgeber, bei aufkommenden Schwierigkeiten, die den Arbeitsplatz eines schwerbehinderten Mitarbeiters gefährden könnten, aktiv zu werden. Er muss frühzeitig alle beteiligten Stellen (den betroffenen Mitarbeiter, die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebsrat und das Integrationsamt) einschalten, um die Ursachen der Probleme zu klären und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das Ziel ist präventiv: Der Arbeitsplatz soll erhalten und eine Kündigung vermieden werden. Das Verfahren dient als eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der besagt, dass eine Kündigung immer das letzte Mittel sein muss.

Die zentrale Frage, die das BAG zu beantworten hatte, war, ob diese Präventionspflicht auch in der sechsmonatigen Wartezeit gilt, in der der allgemeine Kündigungsschutz noch gar nicht greift.

Das Verbot der Diskriminierung nach dem AGG

Das dritte relevante Rechtsgebiet ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Es verbietet Benachteiligungen aus einer Reihe von Gründen, darunter ausdrücklich auch die „Behinderung“. Eine Kündigung, die maßgeblich auf der Behinderung eines Mitarbeiters beruht, ist eine verbotene unmittelbare Benachteiligung. Eine solche Kündigung ist nach § 7 Abs. 1 AGG in Verbindung mit § 134 BGB (Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot) von Anfang an nichtig und damit unwirksam.

Eine Besonderheit des AGG ist die Beweislastregelung in § 22. Wenn ein Arbeitnehmer Indizien vorträgt, die eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vermuten lassen, kehrt sich die Beweislast um. Der Arbeitgeber muss dann beweisen, dass die Kündigung aus rein sachlichen, nicht-diskriminierenden Gründen erfolgte. Der Kläger im vorliegenden Fall sah in dem unterlassenen Präventionsverfahren genau ein solches Indiz für eine diskriminierende Absicht.

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts: Eine methodische Klarstellung

Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision des Klägers zurück und bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen. Die Kündigung war wirksam. Die Begründung des Senats ist ein Lehrstück juristischer Methodik, das die Grenzen der einzelnen Schutzgesetze präzise auslotet und gegeneinander abwägt.

Hauptstreitpunkt: Gilt die Pflicht zum Präventionsverfahren in der Wartezeit?

Das Gericht erteilte der Auffassung des Klägers eine klare Absage. Die Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX findet während der sechsmonatigen Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes keine Anwendung. Diese Schlussfolgerung stützte das Gericht auf eine klassische Auslegung der Norm anhand verschiedener Methoden.

  • Wortlautauslegung: Der Gesetzestext des § 167 Abs. 1 SGB IX spricht von „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten“. Diese Terminologie ist nicht zufällig gewählt. Sie entspricht exakt den drei Kündigungsgründen, die das Kündigungsschutzgesetz in § 1 Abs. 2 KSchG für eine sozial gerechtfertigte Kündigung vorsieht. Das BAG schloss daraus, dass der Gesetzgeber das Präventionsverfahren untrennbar mit dem Anwendungsbereich des KSchG verknüpft hat. Das Verfahren soll helfen, eben jene Kündigungsgründe zu vermeiden, die nach dem KSchG relevant sind. Wo das KSchG nicht gilt – wie in der Wartezeit oder in Kleinbetrieben – läuft auch die Präventionspflicht ins Leere.
  • Systematische Auslegung: Das Gericht stellte klar, dass das Präventionsverfahren keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung ist. Ein Verstoß führt nicht automatisch zur Unwirksamkeit. Vielmehr ist das Verfahren eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Vor einer Kündigung sind mildere Mittel zu prüfen. Dieser Grundsatz ist jedoch ein Kernprinzip des Kündigungsschutzes nach dem KSchG. Außerhalb dieses Schutzregimes, wo der Arbeitgeber aus beliebigen sachlichen Motiven kündigen kann, entfällt auch die Pflicht zur Durchführung dieses spezifischen Suchprozesses nach milderen Mitteln.
  • Historische Auslegung: Die Richter wiesen darauf hin, dass die Rechtsprechung des BAG zu diesem Punkt seit 2006 gefestigt ist. Der Gesetzgeber hatte seitdem mehrfach die Gelegenheit (z. B. durch das Bundesteilhabegesetz 2016), die Vorschrift zu ändern und ihre Anwendung auf die Wartezeit auszuweiten. Da er dies trotz Kenntnis der Rechtsprechung nicht getan hat, geht das Gericht von einer stillschweigenden Billigung der bisherigen Auslegung aus.

Warum die Kündigung keine verbotene Benachteiligung darstellt

Nachdem die Frage des Präventionsverfahrens geklärt war, wandte sich das Gericht dem Vorwurf der Diskriminierung nach dem AGG zu. Auch hier folgte es der Argumentation des Klägers nicht. Die Vorinstanz hatte bindend festgestellt, dass die Kündigung auf der mangelnden fachlichen Eignung des Klägers beruhte. Es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Eignungsprobleme in irgendeinem Zusammenhang mit seiner Schwerbehinderung standen.

Das Gericht betonte einen entscheidenden Punkt: Das AGG schützt nicht vor jeder Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, sondern nur vor einer Kündigung, die wegen der Behinderung ausgesprochen wird. Da hier ein sachlicher, von der Behinderung losgelöster Grund vorlag, war der Tatbestand der Diskriminierung nicht erfüllt.

Der Kläger hatte argumentiert, allein das Unterlassen des Präventionsverfahrens sei bereits eine Form der Benachteiligung. Auch diese Sichtweise lehnte das BAG ab. Es sei nicht ersichtlich, warum ein schwerbehinderter Arbeitnehmer durch das Nichtdurchführen des Verfahrens gegenüber einem nicht-behinderten Arbeitnehmer benachteiligt würde, da für Letzteren eine solche Pflicht von vornherein nicht besteht. Eine Pflichtverletzung aus dem SGB IX kann nicht ohne Weiteres in eine Benachteiligung im Sinne des AGG umgedeutet werden.

Die Rolle von EU-Recht und „angemessenen Vorkehrungen“

Der Kläger stützte seine Argumentation auch auf europäisches Recht, insbesondere auf die EU-Gleichbehandlungsrichtlinie (2000/78/EG) und die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Beide fordern von Arbeitgebern, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.

Das BAG stellte jedoch klar, dass das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX nicht selbst eine solche „angemessene Vorkehrung“ ist. Es ist lediglich ein Verfahren, um mögliche Vorkehrungen zu identifizieren und zu erörtern. Die Pflicht, angemessene Vorkehrungen zu schaffen (z. B. einen Arbeitsplatz umzugestalten), kann auch in der Wartezeit bestehen. Im konkreten Fall waren die festgestellten Eignungsmängel des Klägers aber fachlicher Natur und hätten durch behinderungsspezifische Vorkehrungen nicht behoben werden können.

Eine Auslegung des nationalen Rechts, die das Präventionsverfahren entgegen seinem klaren Wortlaut und seiner Systematik auch in der Wartezeit für verpflichtend erklärt, würde die Grenzen einer zulässigen EU-rechtskonformen Auslegung überschreiten und wäre eine Entscheidung contra legem (gegen das Gesetz).

Konsequenzen für die Praxis: Was Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen müssen

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts schafft Rechtssicherheit in einer praktisch hochrelevanten Frage. Die daraus ableitbaren Konsequenzen sind sowohl für Arbeitgeber als auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer von großer Bedeutung.

Für Arbeitgeber:

  • Keine Pflicht zum Präventionsverfahren in der Wartezeit: Eine ordentliche Kündigung innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses ist auch bei einem schwerbehinderten Mitarbeiter möglich, ohne dass zuvor ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt werden muss.
  • Der Kündigungsgrund ist entscheidend: Trotz der Kündigungsfreiheit in der Wartezeit darf der Grund für die Kündigung niemals die Schwerbehinderung selbst sein. Eine solche Kündigung wäre nach dem AGG unwirksam und könnte zu Schadensersatzansprüchen führen. Arbeitgeber sind daher gut beraten, die sachlichen Gründe für eine Probezeitkündigung (z. B. mangelnde Leistung, fehlende fachliche oder persönliche Eignung) sorgfältig zu dokumentieren.
  • Zustimmung des Integrationsamtes bleibt Pflicht: Ganz wichtig: Das Urteil ändert nichts an der Tatsache, dass die Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters auch in der Wartezeit der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedarf (§ 168 SGB IX). Dies ist eine separate formelle Wirksamkeitsvoraussetzung, die strikt zu beachten ist.

Für schwerbehinderte Arbeitnehmer:

  • Die Wartezeit ist eine besondere Phase: Der volle Kündigungsschutz des KSchG greift erst nach sechs Monaten. Davor sind die Hürden für eine Kündigung durch den Arbeitgeber niedriger.
  • Fehlendes Präventionsverfahren kein Allheilmittel: Das alleinige Unterlassen des Präventionsverfahrens in der Wartezeit macht eine Kündigung nicht unwirksam. Es kann nicht automatisch als Indiz für eine Diskriminierung herangezogen werden.
  • Fokus auf Diskriminierung und konkrete Alternativen: Um eine Kündigungsschutzklage in der Wartezeit erfolgreich zu führen, müssen schwerbehinderte Arbeitnehmer Indizien darlegen, die eine Kündigung wegen der Behinderung vermuten lassen. Gelingt dies, muss der Arbeitgeber den Gegenbeweis antreten.
  • Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung aktiv einfordern: Unabhängig vom Präventionsverfahren haben schwerbehinderte Arbeitnehmer nach § 164 Abs. 4 SGB IX einen Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Gibt es im Unternehmen eine andere, passende und freie Stelle, sollte der Arbeitnehmer dies aktiv und so konkret wie möglich ansprechen und eine Umsetzung einfordern.

Die Urteilslogik

  • Die Probezeit ist eine Ausnahme: Das Gericht stellt klar, dass die ersten sechs Monate eine besondere „Erprobungsphase“ sind. In dieser Zeit gelten für Kündigungen einfachere Regeln als danach.
  • Schutzverfahren gehört zum Kündigungsschutz: Das spezielle Schutzverfahren dient dazu, Kündigungen nach dem allgemeinen Kündigungsschutzgesetz zu vermeiden. Da dieses Gesetz in der Probezeit aber noch nicht greift, ist auch das Verfahren nicht Pflicht.
  • Kein Schutzverfahren ≠ Automatische Diskriminierung: Das Gericht sagt: Nur weil das Verfahren fehlte, bedeutet das nicht, dass der Mitarbeiter wegen seiner Behinderung gekündigt wurde. Man muss immer auf den wahren Grund schauen.
  • Der tatsächliche Grund war entscheidend: Hier wurde die Kündigung mit der fachlichen Leistung begründet. Da dies nichts mit der Behinderung zu tun hatte, war die Kündigung erlaubt.

Einordnung aus der Praxis


Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts schafft entscheidende Rechtssicherheit, indem es die Pflicht zum Präventionsverfahren klar an den allgemeinen Kündigungsschutz koppelt. Für die Praxis bedeutet dies, dass diese Verpflichtung in den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses nicht greift, was die Erprobungsphase für Arbeitgeber erleichtert. Unberührt davon bleiben jedoch die fundamentalen Schutzmechanismen: Die Kündigung darf nicht diskriminierend sein und bedarf bei schwerbehinderten Mitarbeitern auch in der Wartezeit der Zustimmung des Integrationsamtes.


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Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Gilt die Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens bei drohender Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern auch während der Probezeit?

Nein, die Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens bei schwerbehinderten Arbeitnehmern gilt grundsätzlich nicht während der Probezeit oder in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX ist untrennbar mit den Kündigungsgründen des allgemeinen Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) verknüpft.

Dieses Verfahren soll helfen, Kündigungen zu vermeiden, die auf personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen basieren. Da der volle Kündigungsschutz des KSchG erst nach sechs Monaten ununterbrochener Beschäftigung greift, muss der Arbeitgeber in der Probezeit keine dieser Gründe für eine Kündigung nachweisen. Entfällt die Notwendigkeit, solche Gründe zu belegen, entfällt auch die Pflicht, das Präventionsverfahren durchzuführen.

Das Bundesarbeitsgericht hat diese Auslegung bestätigt. Das Unterlassen des Präventionsverfahrens in der Probezeit bedeutet demnach nicht automatisch, dass eine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vorliegt. Eine Kündigung ist nur dann unwirksam, wenn sie nachweislich wegen der Behinderung und nicht aus einem sachlichen Grund erfolgt, wie zum Beispiel mangelnder fachlicher Eignung.

Wichtig bleibt jedoch, dass die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen auch in der Probezeit die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes erfordert.


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Wann beginnt der allgemeine Kündigungsschutz für Arbeitnehmer in einem neuen Arbeitsverhältnis?

Der allgemeine Kündigungsschutz für Arbeitnehmer beginnt in einem neuen Arbeitsverhältnis grundsätzlich erst nach einer ununterbrochenen Beschäftigungsdauer von sechs Monaten. In dieser sogenannten Wartezeit gilt das umfassende Kündigungsschutzgesetz (KSchG) noch nicht.

Diese Anfangsphase von sechs Monaten wird als Wartezeit bezeichnet und ist oft Teil einer Probezeit. Währenddessen hat der Arbeitgeber eine erweiterte Freiheit bei Kündigungen. Er muss die Kündigung nicht „sozial rechtfertigen“, wie es das Kündigungsschutzgesetz später verlangt, und benötigt daher keine triftigen Gründe wie personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Ursachen.

Der Zweck dieser Wartezeit ist es, sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer eine Erprobungsphase zu ermöglichen. In dieser Zeit können beide Seiten prüfen, ob die Eignung des Mitarbeiters und das Arbeitsverhältnis im Allgemeinen passen.

Auch wenn der allgemeine Kündigungsschutz noch nicht greift, ist der Arbeitnehmer in dieser Zeit nicht völlig schutzlos. Eine Kündigung darf zum Beispiel nicht diskriminierend sein oder gegen andere zwingende Gesetze verstoßen. Diese Regelung bedeutet, dass die Hürden für eine Kündigung in den ersten sechs Monaten deutlich niedriger sind als danach.


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Unter welchen Voraussetzungen ist die Kündigung eines Arbeitnehmers aufgrund einer Behinderung rechtlich unzulässig?

Eine Kündigung eines Arbeitnehmers ist unzulässig und unwirksam, wenn sie maßgeblich aufgrund seiner Behinderung ausgesprochen wird. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet eine solche unmittelbare Benachteiligung.

Das AGG schützt Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung im Arbeitsleben. Eine Kündigung, die direkt mit der Behinderung zusammenhängt und diese der entscheidende Grund für die Beendigung ist, ist nach dem Gesetz nichtig und somit von Anfang an unwirksam. Sie verstößt gegen ein gesetzliches Verbot.

Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass dies nicht bedeutet, dass ein schwerbehinderter Mensch niemals gekündigt werden kann. Eine Kündigung ist zulässig, wenn sie auf rein sachlichen, von der Behinderung losgelösten Gründen beruht. Beispiele hierfür sind mangelnde fachliche Eignung oder wiederholtes Fehlverhalten des Arbeitnehmers, die nichts mit seiner Behinderung zu tun haben.

Kann ein Arbeitnehmer Indizien für eine Diskriminierung wegen seiner Behinderung vortragen, muss der Arbeitgeber beweisen, dass die Kündigung ausschließlich aus nicht-diskriminierenden Gründen erfolgte. Eine diskriminierende Kündigung kann zudem Schadensersatzansprüche auslösen.


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Ist die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers während der Probezeit grundsätzlich erlaubt?

Ja, die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers während der Probezeit ist grundsätzlich erlaubt. Dafür sind aber zwei wichtige Voraussetzungen zu erfüllen: Es muss die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes vorliegen, und die Kündigung darf nicht wegen der Schwerbehinderung ausgesprochen werden.

Auch während der Probezeit, die bis zu sechs Monate dauern kann, besteht ein besonderer Schutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer. Eine Kündigung ist hier nur wirksam, wenn das Integrationsamt dieser zuvor zugestimmt hat. Diese Zustimmung muss immer eingeholt werden, unabhängig davon, ob das Arbeitsverhältnis schon länger besteht.

Zudem darf der eigentliche Grund für die Kündigung nicht die Schwerbehinderung selbst sein. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung. Eine Kündigung, die wegen der Schwerbehinderung erfolgt, ist von Anfang an unwirksam.

Im Gegensatz dazu ist das sogenannte Präventionsverfahren, das normalerweise bei drohenden Schwierigkeiten mit schwerbehinderten Mitarbeitern durchgeführt wird, in der Probezeit nicht zwingend notwendig. Die Nichtdurchführung dieses Verfahrens macht eine Kündigung in dieser Phase nicht unwirksam. Arbeitgeber sollten die sachlichen Gründe für eine Kündigung in der Probezeit sorgfältig dokumentieren, um den Vorwurf der Diskriminierung zu entkräften.


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Muss für die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers stets die Zustimmung einer externen Behörde eingeholt werden, auch in der Probezeit?

Ja, für die Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmers ist grundsätzlich die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes erforderlich, und das gilt auch während der Probezeit. Dieses Amt prüft, ob eine geplante Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht und ob es mildere Lösungen gibt.

Dieser besondere Kündigungsschutz, der im Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) verankert ist, beginnt bereits am ersten Tag des Arbeitsverhältnisses. Er gilt also unabhängig davon, ob das Arbeitsverhältnis noch in der Warte- oder Probezeit ist, sofern der Arbeitgeber von der Schwerbehinderung Kenntnis hat. Eine Kündigung, die ohne diese behördliche Zustimmung erfolgt, ist unwirksam.

Es ist wichtig zu verstehen, dass dies getrennt vom sogenannten Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX zu sehen ist. Während die Zustimmung des Integrationsamtes immer erforderlich ist, hat das Bundesarbeitsgericht klargestellt, dass das Präventionsverfahren selbst in der sechsmonatigen Wartezeit nicht zwingend durchgeführt werden muss.

Dies stellt sicher, dass schwerbehinderte Menschen auch in der Anfangsphase eines Jobs einen wichtigen Schutz genießen und ihre Kündigung von einer unabhängigen Stelle geprüft wird.


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