Übersicht:
- Der Fall vor Gericht
- Die simulierte Bedrohung und ihre realen Folgen: Gericht prüft Arbeitgeberhaftung nach Schock-Training
- Der Schockmoment in der Restaurantküche: Was war geschehen?
- Die Forderung: Schadensersatz und hohes Schmerzensgeld
- Die Entscheidung der Vorinstanz
- Die Kernfrage vor dem Landesarbeitsgericht: Vorsatz oder nicht?
- Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts: Keine Haftung des Arbeitgebers
- Die detaillierte Begründung des Gerichts
- Einordnung und Hintergrund: Die Logik hinter dem Haftungsausschluss
- Allgemeine Auswirkungen und juristischer Kontext
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann entfällt die Haftung des Arbeitgebers bei einem Personenschaden eines Arbeitnehmers?
- Was bedeutet „Betriebsbedingte Tätigkeit“ im Kontext des § 104 SGB VII?
- Welche Rolle spielt die gesetzliche Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen?
- Gibt es Ausnahmen vom Haftungsausschluss des Arbeitgebers nach § 104 SGB VII?
- Wie wirkt sich ein Mitverschulden des Arbeitnehmers auf eventuelle Schadensersatzansprüche aus, wenn der Haftungsausschluss des Arbeitgebers nicht greift?
- Glossar
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Urteil Az.: 6 Sa 263/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Zum vorliegendenDas Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz
- Verfahrensart: Berufung
- Rechtsbereiche: Sozialversicherungsrecht (SGB VII), Zivilrecht (Haftung/Vorsatz)
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Eine Arbeitnehmerin (Küchenhilfe/Imbisszubereiterin), die Schadensersatz und Schmerzensgeld von ihrem Arbeitgeber verlangte.
- Beklagte: Die US-Stationierungsstreitkräfte, vertreten durch die Bundesrepublik Deutschland, als Arbeitgeber, die sich auf die Haftungsprivilegierung beriefen.
Worum ging es in dem Fall?
- Sachverhalt: Eine Arbeitnehmerin erlitt bei einer unangekündigten Diebstahlssimulation am Arbeitsplatz einen psychischen Zusammenbruch. Der Vorfall wurde von der Unfallversicherung als Arbeitsunfall anerkannt, woraufhin die Arbeitnehmerin Schadensersatz und Schmerzensgeld vom Arbeitgeber forderte.
- Kern des Rechtsstreits: Es ging um die Frage, ob die gesetzliche Haftungsprivilegierung des Arbeitgebers nach dem Sozialversicherungsrecht die Klage ausschließt oder ob der Arbeitgeber den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat, was die Haftungsprivilegierung entfallen ließe.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts wurde zurückgewiesen.
- Begründung: Das Gericht verneinte einen Vorsatz des Arbeitgebers bei der Herbeiführung des Arbeitsunfalls. Daher greift die Haftungsprivilegierung nach dem SGB VII, die Schadensersatzansprüche ausschließt.
- Folgen: Die Klage der Arbeitnehmerin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen den Arbeitgeber wurde abgewiesen.
Der Fall vor Gericht
Die simulierte Bedrohung und ihre realen Folgen: Gericht prüft Arbeitgeberhaftung nach Schock-Training
Ein unangekündigtes Training von Einsatzkräften auf einer US-Airbase, das eine Diebstahlssimulation beinhaltete, führte für eine Küchenhilfe zu einem schweren psychischen Trauma. Die Mitarbeiterin verklagte daraufhin ihren Arbeitgeber, die US-Stationierungsstreitkräfte, auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz musste nun klären, ob der Arbeitgeber für die gesundheitlichen Folgen haftet oder ob eine spezielle gesetzliche Regelung, die sogenannte Haftungsprivilegierung, dies ausschließt.
Der Schockmoment in der Restaurantküche: Was war geschehen?

Die Klägerin, seit 2004 als Küchenhilfe bei den US-Stationierungsstreitkräften beschäftigt, befand sich am 29. März 2021 an ihrem Arbeitsplatz in der Küche eines Restaurants auf einer Airbase. Gegen 11:15 Uhr fand im angrenzenden Gastraum eine unangekündigte Übung statt – eine Diebstahlssimulation für Einsatzkräfte. Die zivilen Mitarbeiter wussten prinzipiell, dass bei solchen Trainings blaue Gewehre verwendet werden, um deren Unechtheit zu signalisieren. Der direkte Vorgesetzte der Klägerin, Manager X. W., war über die Übung informiert, hatte die Klägerin jedoch nicht in Kenntnis gesetzt. Er und die Übungsleiter gingen davon aus, dass sie von ihrem Arbeitsplatz in der Küche, der durch zwei etwa 2 Meter hohe und 1,40 Meter breite Durchreichen mit dem Gastraum verbunden war, die Simulation nicht bemerken würde.
Als die Klägerin jedoch laute Rufe und Schreie aus dem Restaurant vernahm, blickte sie durch eine der Durchreichen. Sie sah ihren Vorgesetzten mit erhobenen Händen auf den Knien sitzen, bedroht von einer Person mit einem blauen Gewehr. In Panik versteckte sich die Klägerin hinter einem Kühlschrank. Ein kurz darauf hinzukommender Greenkeeper blickte ebenfalls durch die Durchreiche, erkannte die Situation als Übung und rief der Klägerin zu: „Aber die verwenden doch blaue Gewehre!“. Für die Klägerin kam diese Information zu spät: Sie kollabierte aufgrund der psychischen Belastung, erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Seit diesem Vorfall befindet sie sich in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung und ist arbeitsunfähig.
Der Vorfall wurde von ihrem Vorgesetzten als Arbeitsunfall gemeldet und von der zuständigen Unfallversicherung auch als solcher anerkannt, allerdings nur mit der Folge einer vorübergehenden Anpassungsstörung und einer zeitlich begrenzten Anerkennung der unfallbedingten Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit bis zum 29. Juli 2021. Die Klägerin legte dagegen Widerspruch ein.
Die Forderung: Schadensersatz und hohes Schmerzensgeld
Für den Zeitraum von April 2021 bis April 2023 errechnete die Klägerin einen Verdienstausfall von 14.369,41 Euro. Zusätzlich forderte sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000 Euro. Ihre Argumentation: Der Arbeitgeber habe den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt. Man habe mit den psychischen Auswirkungen eines realistisch wirkenden, unangekündigten Überfalls rechnen müssen und diese billigend in Kauf genommen. In der Stresssituation habe sie die blauen Gewehre nicht als solche wahrnehmen können. Die Arbeitgeberin habe, so die Klägerin, mit der Psyche der Angestellten „gespielt“, insbesondere da die große Durchreiche einer „offenen Küche“ gleichkomme und eine Wahrnehmung der Geschehnisse im Gastraum wahrscheinlich mache.
Die Beklagte, die Bundesrepublik Deutschland, die in diesem Fall in Prozessstandschaft für die US-Stationierungsstreitkräfte auftrat (eine rechtliche Konstruktion, bei der eine Partei ein fremdes Recht im eigenen Namen einklagt oder verteidigt), wies die Forderungen zurück. Sie berief sich auf die Haftungsprivilegierung des Arbeitgebers nach § 104 Absatz 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Dieser Paragraph schließt unter bestimmten Voraussetzungen direkte Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen aus. Zudem bestritt die Beklagte jeglichen Vorsatz. Man habe nicht damit gerechnet, dass die Klägerin die Simulation überhaupt bemerken würde. Selbst wenn, habe man darauf vertraut, dass sie die blauen Gewehre als Übungsgeräte erkennen würde. Die schwere psychische Reaktion sei zudem ungewöhnlich und möglicherweise auf der Klägerin nicht bekannte Vorbelastungen zurückzuführen, wie eine Anpassungsstörung im Jahr 2018 und ein von ihr miterlebter Raubüberfall im Jahr 2002.
Die Entscheidung der Vorinstanz
Das Arbeitsgericht Kaiserslautern hatte die Klage mit Urteil vom 8. November 2023 abgewiesen. Die Begründung: Die Voraussetzungen für eine vorsätzliche Herbeiführung des Arbeitsunfalls durch die Arbeitgeberin lägen nicht vor. Daher sei die Haftung des Arbeitgebers nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen. Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung ein.
Die Kernfrage vor dem Landesarbeitsgericht: Vorsatz oder nicht?
Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz musste nun entscheiden, ob das Arbeitsgericht Kaiserslautern zu Recht die Klage abgewiesen hatte. Die zentrale juristische Frage war: Handelte es sich bei dem Vorfall um einen Arbeitsunfall, den der Arbeitgeber vorsätzlich herbeigeführt hatte? Nur wenn ein solcher Vorsatz nachgewiesen werden könnte, würde die Haftungsprivilegierung des § 104 SGB VII nicht greifen und der Weg für Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche wäre frei.
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts: Keine Haftung des Arbeitgebers
Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz wies die Berufung der Klägerin zurück. Die Klägerin muss die Kosten des Berufungsverfahrens tragen. Eine Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde nicht zugelassen. Damit bestätigte das Gericht die Entscheidung der Vorinstanz: Die US-Stationierungsstreitkräfte haften nicht für die psychischen Folgen des simulierten Überfalls.
Die detaillierte Begründung des Gerichts
Die Richter stützten ihre Entscheidung maßgeblich auf die bereits erwähnte Haftungsprivilegierung des Unternehmers nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB VII. Dieser Paragraph besagt, dass Unternehmer (hier die US-Stationierungsstreitkräfte) ihren gesetzlich unfallversicherten Beschäftigten für Personenschäden, die infolge eines Versicherungsfalls (wie einem Arbeitsunfall) eintreten, grundsätzlich nicht auf Schadensersatz haften. Die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sollen diese Ansprüche ersetzen.
Der Vorfall als anerkannter Arbeitsunfall
Zunächst stellte das Gericht fest, dass es sich bei dem Ereignis vom 29. März 2021 unstrittig um einen Arbeitsunfall im Sinne des § 7 Absatz 1 SGB VII handelt. Die Unfallversicherung T. hatte dies bereits mit Bescheid anerkannt, und an diese Entscheidung sind die Gerichte gemäß § 108 Absatz 2 SGB VII gebunden. Da es sich auch nicht um einen Wegeunfall handelte (also einen Unfall auf dem direkten Weg zur oder von der Arbeit), greift der Haftungsausschluss des § 104 SGB VII – es sei denn, der Versicherungsfall wurde vorsätzlich herbeigeführt.
Die hohen Anforderungen an den „Vorsatz“
Hier liegt der juristische Knackpunkt. Die Ausnahme von der Haftungsprivilegierung erfordert Vorsatz des Unternehmers oder einer für ihn handelnden Person. Das Gericht erläuterte, dass hier der zivilrechtliche Vorsatzbegriff des § 276 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) maßgeblich ist. Dieser verlangt Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolges im Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit der Handlung.
Vorsatz liegt nicht nur vor, wenn der Schädiger den Erfolg direkt will (dolus directus). Es genügt auch der sogenannte bedingte Vorsatz (dolus eventualis). Bedingter Vorsatz bedeutet, dass der Handelnde die Möglichkeit des Eintritts des schädigenden Erfolgs erkennt und diesen Erfolg für den Fall seines Eintritts billigend in Kauf nimmt – nach dem Motto: „Was soll’s, mir doch egal“. Dies muss klar von der bewussten Fahrlässigkeit abgegrenzt werden. Bei bewusster Fahrlässigkeit erkennt der Handelnde zwar ebenfalls die Möglichkeit des Erfolgseintritts, vertraut aber ernsthaft darauf, dass dieser nicht eintreten wird („Es wird schon gut gehen“).
Für das Vorliegen von Vorsatz im Sinne des § 104 SGB VII muss sich dieser Vorsatz nicht nur auf die schädigende Handlung selbst beziehen, sondern auch auf den konkreten Personenschaden, also den Verletzungserfolg. Juristen sprechen hier vom „doppelten Vorsatz“.
Warum sah das Gericht keinen Vorsatz beim Arbeitgeber?
Das Landesarbeitsgericht kam zu dem Schluss, dass im vorliegenden Fall kein Vorsatz seitens der US-Stationierungsstreitkräfte oder der für sie handelnden Personen nachgewiesen werden konnte.
- Kein Vorsatz bezüglich des konkreten Verletzungserfolgs: Es fehlten jegliche Anhaltspunkte dafür, dass die Verantwortlichen den konkreten psychischen Schaden der Klägerin – also den Nervenzusammenbruch und die nachfolgende psychische Erkrankung – vorhergesehen und billigend in Kauf genommen hätten.
- Absicht war, dass die Klägerin nichts bemerkt: Die Vorgesetzten gingen, so das Gericht, unstreitig davon aus, dass die Klägerin die Simulation von ihrem Arbeitsplatz in der Küche aus gar nicht bemerken würde. Ihre Entscheidung, die Klägerin nicht vorab zu informieren, beruhte auf dieser – möglicherweise fehlerhaften oder fahrlässigen – Einschätzung der räumlichen Gegebenheiten. Es war also nicht beabsichtigt, dass sie die Übung überhaupt mitbekommt.
- Signalwirkung der blauen Gewehre: Die Verwendung blauer Gewehre war explizit dazu gedacht, die Simulation für Eingeweihte als solche erkennbar zu machen. Das Gericht argumentierte, dass die Verantwortlichen erwarten durften, dass eine langjährig beschäftigte Mitarbeiterin wie die Klägerin die Bedeutung der blauen Gewehre kennt und – falls sie die Übung doch bemerkt – diese richtig einordnet. Dass die Klägerin die blauen Gewehre in ihrer akuten Stresssituation nicht als solche erkannte, war für den Arbeitgeber nicht vorhersehbar und kann ihm nicht als vorsätzliches Handeln zugerechnet werden.
- Unkenntnis psychischer Vorbelastungen: Die Beklagte hatte vorgetragen, dass die schwere psychische Reaktion der Klägerin ungewöhnlich sei. Entscheidend für das Gericht war, dass der Arbeitgeber keine Kenntnis von früheren psychischen Belastungen oder dem von der Klägerin miterlebten Raubüberfall hatte. Ohne dieses Wissen konnte der Arbeitgeber nicht mit einer derart gravierenden Reaktion rechnen und diese somit auch nicht billigend in Kauf nehmen.
- Aussagen im Unfallbericht sprechen gegen Vorsatz: Der vom Vorgesetzten der Klägerin ausgefüllte Unfallbericht enthielt dessen Äußerungen der Überraschung und Betroffenheit über die „schrecklichen Auswirkungen“ des Trainings. Er erwähnte auch, dass die Klägerin seine „einzige Köchin“ sei. Solche Aussagen, so das Gericht, deuten eher auf Nachlässigkeit oder eine Fehleinschätzung der Risiken hin, nicht aber auf Vorsatz.
- Klägerin konnte Vorsatz nicht ausreichend belegen: Die Klägerin, so das Gericht, habe keine konkreten Tatsachen vorgetragen, die den Schluss zuließen, dass die handelnden Personen die eingetretene psychische Schädigung der Klägerin gewollt oder billigend in Kauf genommen hätten. Die bloße Behauptung, psychische Auswirkungen nach einem unangekündigten Überfall seien allgemein bekannt, reiche nicht aus, um einen Vorsatz für diesen konkreten, schweren Personenschaden durch bloße Beobachtung einer Übung zu belegen, insbesondere wenn keine Vorschädigungen bekannt waren.
- Größe der Durchreiche und Grad der Behinderung nicht ausschlaggebend: Weder die Größe der Durchreiche zur Küche (die allenfalls die Möglichkeit der Wahrnehmung erhöht, aber keinen Vorsatz zur Schädigung beweist) noch ein von der Klägerin angeführter Grad der Behinderung (GdB), dessen genaue Natur und Bekanntheit beim Arbeitgeber nicht dargelegt wurden, änderten etwas an der Einschätzung der Vorsatzfrage.
Da somit ein vorsätzliches Herbeiführen des Arbeitsunfalls durch die Arbeitgeberin nicht feststellbar war, greift die Haftungsprivilegierung nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB VII. Die Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche der Klägerin gegen die Beklagte sind daher ausgeschlossen. Das Arbeitsgericht Kaiserslautern hatte die Klage somit zu Recht abgewiesen.
Auf die von der Beklagten zusätzlich erhobene Einrede der Ausschlussfrist nach § 49 des Tarifvertrags für die Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Bereich der Bundesrepublik Deutschland (TV AL II) musste das Gericht nicht mehr eingehen, da die Klage bereits aus anderen Gründen erfolglos blieb.
Einordnung und Hintergrund: Die Logik hinter dem Haftungsausschluss
Das Urteil beleuchtet eindrücklich die Funktionsweise und die Grenzen der Haftungsprivilegierung des Arbeitgebers im deutschen Sozialversicherungsrecht.
Das System der gesetzlichen Unfallversicherung und § 104 SGB VII
Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein fundamentaler Pfeiler des deutschen Sozialversicherungssystems. Ihr Ziel ist es, Arbeitsunfälle, Wegeunfälle und Berufskrankheiten sowie deren gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen zu verhüten, zu beseitigen oder zu mildern. Im Schadensfall erbringt sie umfassende Leistungen, von der Heilbehandlung über Rehabilitationsmaßnahmen bis hin zu Geldleistungen wie Verletztengeld oder Renten.
Der § 104 SGB VII (Haftung des Unternehmers, anderer Unternehmer und der im Betrieb tätigen Personen) ist eine zentrale Norm in diesem System. Er regelt den sogenannten Haftungsausschluss oder die Haftungsprivilegierung des Arbeitgebers. Dahinter steht der Gedanke, dass die persönliche Haftung des Arbeitgebers (und auch von Arbeitskollegen untereinander) für Personenschäden bei Arbeitsunfällen durch die umfassenden Leistungen der Unfallversicherung abgelöst wird. Dies soll den Betriebsfrieden wahren und langwierige, kostspielige Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vermeiden. Die Finanzierung der Unfallversicherung erfolgt allein durch die Arbeitgeber.
Die hohe Hürde des „doppelten Vorsatzes“
Die Ausnahme von diesem Haftungsausschluss – nämlich die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls – ist sehr eng auszulegen. Wie das Urteil zeigt, reicht es nicht, dass der Arbeitgeber möglicherweise fahrlässig gehandelt oder Sicherheitsvorschriften missachtet hat. Selbst grobe Fahrlässigkeit genügt nicht, um die Haftungsprivilegierung auszuhebeln. Es muss Vorsatz nachgewiesen werden, und zwar nicht nur bezüglich der Handlung, die zum Unfall geführt hat, sondern auch bezüglich des eingetretenen Gesundheitsschadens (der „doppelte Vorsatz“). Diese Hürde ist in der Praxis sehr hoch.
Allgemeine Auswirkungen und juristischer Kontext
Dieses Urteil bestätigt die gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Vorsatzbegriffs im Rahmen des § 104 SGB VII.
Bedeutung für Arbeitsunfälle mit psychischen Folgen
Das Urteil macht deutlich, dass auch bei Arbeitsunfällen, die zu schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigungen führen, die strengen Anforderungen an den Nachweis des Vorsatzes gelten. Allein die Tatsache, dass eine bestimmte Maßnahme oder ein bestimmtes Ereignis am Arbeitsplatz potenziell psychisch belastend sein kann, reicht nicht aus, um einen Vorsatz des Arbeitgebers zu begründen, eine konkrete psychische Erkrankung eines Mitarbeiters herbeizuführen oder billigend in Kauf zu nehmen. Entscheidend sind die Kenntnisse und Absichten der handelnden Personen im konkreten Einzelfall.
Die Beweislast beim Vorwurf des Vorsatzes
Wer sich als geschädigter Arbeitnehmer auf eine Ausnahme von der Haftungsprivilegierung beruft und den Arbeitgeber wegen Vorsatzes in Anspruch nehmen will, trägt die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen dieses Vorsatzes. Dies bedeutet, es müssen konkrete Tatsachen vorgetragen und im Streitfall auch bewiesen werden, die den Schluss zulassen, dass der Arbeitgeber oder die für ihn handelnden Personen den Gesundheitsschaden nicht nur für möglich hielten, sondern ihn auch billigend in Kauf nahmen oder gar beabsichtigten. Das vorliegende Urteil unterstreicht, wie schwierig dieser Nachweis in der Praxis sein kann, insbesondere wenn der Arbeitgeber argumentieren kann, dass er von bestimmten Risiken oder individuellen Anfälligkeiten des Arbeitnehmers keine Kenntnis hatte. Für betroffene Arbeitnehmer bedeutet dies, dass ihre Ansprüche primär über die gesetzliche Unfallversicherung abgewickelt werden und nur in seltenen Ausnahmefällen eine direkte Haftung des Arbeitgebers für Personenschäden in Betracht kommt.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil zeigt, dass Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen grundsätzlich vor direkten Schadensersatzansprüchen geschützt sind (Haftungsprivilegierung), solange sie nicht vorsätzlich handeln. Für einen solchen Vorsatz reicht bloße Fahrlässigkeit nicht aus – selbst wenn der Arbeitgeber Risiken unterschätzt hat, wie bei der traumatisierenden Diebstahlsübung. Arbeitnehmer mit Arbeitsunfällen sind daher in der Regel auf die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung beschränkt, wobei die Hürden für eine direkte Arbeitgeberhaftung außerordentlich hoch sind und konkretes Wissen und Wollen des Schadens erfordern.
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Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann entfällt die Haftung des Arbeitgebers bei einem Personenschaden eines Arbeitnehmers?
Wenn Sie als Arbeitnehmer bei der Arbeit oder auf dem direkten Weg dorthin oder zurück einen Unfall erleiden und dadurch einen Personenschaden haben, oder wenn Sie an einer Berufskrankheit erkranken, ist die gesetzliche Unfallversicherung zuständig.
Das deutsche Rechtssystem sieht vor, dass in solchen Fällen der Arbeitgeber in der Regel NICHT direkt für den Schaden haftet. Stattdessen übernimmt die zuständige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse die Leistungen. Man nennt das auch das Haftungsprivileg des Arbeitgebers oder die Haftungsablösung.
Dieses System hat den Zweck, dass Sie als verletzter Arbeitnehmer oder erkrankte Arbeitnehmerin schnell und umfassend Leistungen zur Heilbehandlung, Rehabilitation und finanziellen Absicherung erhalten. Es spielt dabei grundsätzlich keine Rolle, ob den Arbeitgeber oder auch einen anderen Arbeitnehmer ein Verschulden am Unfall trifft. Die gesetzliche Unfallversicherung kümmert sich unabhängig von der Schuldfrage um Sie.
Diese Regelung ist im Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) festgelegt. Konkret bestimmt § 104 SGB VII, dass Unternehmer (also die Arbeitgeber) für Personenschäden, die ihre Arbeitnehmer durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit erleiden, grundsätzlich keinen Schadensersatz leisten müssen.
Wann der Haftungsausschluss NICHT gilt
Es gibt allerdings eine sehr wichtige und seltene Ausnahme von diesem Haftungsausschluss:
Der Arbeitgeber haftet doch direkt, wenn er den Personenschaden vorsätzlich herbeigeführt hat.
Vorsatz bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Arbeitgeber den Schaden wissentlich und willentlich verursacht hat. Dies ist mehr als nur Fahrlässigkeit oder grobe Fahrlässigkeit. Auch wenn der Arbeitgeber sehr unvorsichtig gehandelt hat (grobe Fahrlässigkeit), bleibt es bei der Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung und der Arbeitgeber haftet nicht direkt Ihnen gegenüber.
Nur bei einem nachweislich vorsätzlichen Handeln des Arbeitgebers, das direkt zum Schaden führte, kann der Haftungsausschluss entfallen. Solche Fälle sind in der Praxis sehr selten.
Was bedeutet „Betriebsbedingte Tätigkeit“ im Kontext des § 104 SGB VII?
Der Begriff der betriebsbedingten Tätigkeit ist ein zentraler Punkt in der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland. Er bestimmt, welche Handlungen und Ereignisse unter den Schutz dieser Versicherung fallen und hat damit auch Auswirkungen auf den Haftungsausschluss nach § 104 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII).
Wenn von einer betriebsbedingten Tätigkeit die Rede ist, meint man damit grundsätzlich alle Handlungen, die in einem engen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. Versichert sind in der Regel Beschäftigte, die ihre Arbeit für ein Unternehmen oder einen Arbeitgeber ausüben.
Dazu gehört in erster Linie natürlich die eigentliche Arbeitsleistung, also die Tätigkeit, für die Sie angestellt sind. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten an einer Maschine, sitzen am Schreibtisch oder sind auf einer Baustelle tätig – all das sind typische Beispiele für die direkte betriebsbedingte Tätigkeit.
Aber auch Tätigkeiten, die zwar nicht die Kernaufgabe sind, aber notwendigerweise im Rahmen der Arbeit anfallen, gelten als betriebsbedingt. Das kann zum Beispiel der Weg zur Betriebskantine sein, die Nutzung einer betrieblichen Umkleide oder auch Dienstreisen, die im Auftrag des Arbeitgebers durchgeführt werden. Entscheidend ist immer, ob die Handlung objektiv dem Betriebszweck dient oder damit unmittelbar zusammenhängt.
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung und damit auch der Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII greifen nur, wenn ein Ereignis (wie ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit) auf eine solche betriebsbedingte Tätigkeit zurückzuführen ist. Ein Arbeitsunfall ist ein plötzliches, von außen einwirkendes Ereignis, das sich bei der Ausübung dieser versicherten Tätigkeit ereignet. Eine Berufskrankheit entsteht durch eine versicherte Tätigkeit, die über einen längeren Zeitraum schädliche Einwirkungen hat.
Aktivitäten, die Sie ausschließlich aus persönlichen Gründen oder zur Befriedigung eigener Bedürfnisse unternehmen und die keinen unmittelbaren Bezug zur Arbeit oder zum Betriebszweck haben, gelten in der Regel nicht als betriebsbedingt. Selbst wenn diese Aktivitäten auf dem Betriebsgelände stattfinden, können sie vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sein, wenn der betriebliche Bezug fehlt.
Für Sie bedeutet das: Die gesetzliche Unfallversicherung deckt die Risiken ab, die sich aus den Handlungen ergeben, die Sie für Ihren Arbeitgeber oder im unmittelbaren Zusammenhang mit Ihrer Arbeit ausführen. Sie schützt in diesen Fällen und regelt, wer bei einem Schaden haftet oder eben nicht haftet (Haftungsausschluss).
Welche Rolle spielt die gesetzliche Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen?
Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein zentraler Bestandteil des sozialen Sicherungssystems in Deutschland. Ihre Hauptaufgabe ist es, Sie abzusichern, wenn Ihnen ein Arbeitsunfall passiert oder Sie an einer Berufskrankheit erkranken. Sie ist also eine Art verlässliches Sicherheitsnetz für das Berufsleben.
Schutz und Umfang der Versicherung
Die Versicherung tritt automatisch in Kraft, sobald Sie eine versicherte Tätigkeit aufnehmen – zum Beispiel als Angestellter. Sie müssen sich nicht selbst darum kümmern; die Beiträge zahlt in der Regel allein der Arbeitgeber.
Versichert sind dabei nicht nur Unfälle direkt am Arbeitsplatz, sondern oft auch Unfälle auf dem direkten Weg zur oder von der Arbeit (Wegeunfälle) sowie Berufskrankheiten, die durch Ihre berufliche Tätigkeit verursacht werden.
Leistungen nach einem Arbeitsunfall
Wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eintritt, übernimmt die gesetzliche Unfallversicherung umfassende Leistungen. Das Ziel ist immer, Ihre Gesundheit so gut wie möglich wiederherzustellen und Ihnen die Rückkehr ins Berufsleben zu ermöglichen.
Zu den wichtigsten Leistungen gehören:
- Medizinische Behandlung: Die Versicherung zahlt für alle notwendigen Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte, Medikamente und Hilfsmittel (wie Prothesen). Sie steuert die Behandlung oft aktiv, um den Heilungsprozess optimal zu unterstützen.
- Rehabilitation: Dazu gehören Maßnahmen, die Ihnen helfen, Ihre körperlichen Fähigkeiten zurückzugewinnen (medizinische Reha) oder auch wieder in Ihren alten oder einen neuen Beruf einzusteigen (berufliche Reha, z.B. Umschulungen).
- Finanzielle Unterstützung: Wenn Sie wegen des Unfalls nicht arbeiten können, erhalten Sie von der Unfallversicherung das Verletztengeld. Dieses ersetzt einen Großteil Ihres entgangenen Arbeitsentgelts. Bleiben nach dem Unfall dauerhafte gesundheitliche Einschränkungen zurück, die Ihre Erwerbsfähigkeit mindern, kann die Unfallversicherung eine Verletztenrente zahlen. Auch Hinterbliebene können unter bestimmten Umständen Leistungen erhalten.
Der Grundsatz: Schnelle und umfassende Hilfe
Das Besondere an der gesetzlichen Unfallversicherung ist, dass sie schnell und unbürokratisch helfen soll. Sie erbringt ihre Leistungen unabhängig von der Frage, wer den Unfall verschuldet hat. Es spielt also keine Rolle, ob der Arbeitgeber, ein Kollege oder Sie selbst eine Mitschuld tragen.
Dieser Grundsatz führt auch dazu, dass die gesetzliche Unfallversicherung in der Regel die alleinige Anlaufstelle für Unfallfolgen ist. Die Haftung des Arbeitgebers für Personenschäden durch Arbeitsunfälle ist im Gegenzug zu diesen umfassenden Leistungen der Versicherung oft ausgeschlossen oder stark begrenzt. Dies soll den Betriebsfrieden schützen und sicherstellen, dass die notwendige Hilfe immer über die Versicherung kommt, unabhängig von Schuldfragen.
Gibt es Ausnahmen vom Haftungsausschluss des Arbeitgebers nach § 104 SGB VII?
Ja, es gibt wichtige Ausnahmen von der Regel, dass Arbeitgeber nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit nicht zusätzlich zu den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auf Schadensersatz verklagt werden können.
Die gesetzliche Unfallversicherung soll in der Regel die finanzielle Folgen von Arbeitsunfällen abdecken. Das bedeutet, dass Sie nach einem versicherten Arbeitsunfall normalerweise Leistungen von der Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse erhalten (wie Heilbehandlung oder Verletztengeld). Gleichzeitig schützt § 104 SGB VII den Arbeitgeber davor, dass Sie ihn zusätzlich auf weitere Schadensersatzansprüche, zum Beispiel auf Schmerzensgeld, verklagen, wenn der Unfall durch Fahrlässigkeit des Arbeitgebers passiert ist. Dies gilt auch bei grober Fahrlässigkeit.
Wann greift die Ausnahme?
Die wichtigste und häufigste Ausnahme vom Haftungsausschluss des Arbeitgebers liegt vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat.
- Was bedeutet „vorsätzlich“? Das bedeutet, dass der Arbeitgeber den Unfall oder die Verletzung absichtlich verursacht hat. Es reicht nicht aus, dass er sehr unvorsichtig (grob fahrlässig) gehandelt hat. Der Arbeitgeber muss die Verletzung oder den Unfall wissend und wollend verursacht haben oder zumindest damit rechnen und die Folgen billigend in Kauf genommen haben.
Diese Ausnahme gilt nicht nur für den Arbeitgeber selbst, sondern auch für seine sogenannten Repräsentanten. Das sind in der Regel Personen in leitender Stellung im Betrieb, die für den Arbeitgeber wichtige Entscheidungen treffen oder die Aufsichtspflicht über bestimmte Arbeitsbereiche haben.
Was bedeutet das für Sie?
Das bedeutet, dass die gesetzliche Unfallversicherung die normale Absicherung bei Arbeitsunfällen durch Fahrlässigkeit ist. Nur wenn der Arbeitgeber oder ein leitender Angestellter den Unfall absichtlich verursacht hat, kommt eine direkte Haftung des Arbeitgebers in Frage, die über die Leistungen der Berufsgenossenschaft hinausgeht (zum Beispiel auf Schmerzensgeld).
Handlungen aus Fahrlässigkeit, selbst wenn sie sehr schwerwiegend sind, führen in der Regel nicht zur Haftung des Arbeitgebers neben der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Haftungsausschluss des § 104 SGB VII bleibt hier bestehen.
Wie wirkt sich ein Mitverschulden des Arbeitnehmers auf eventuelle Schadensersatzansprüche aus, wenn der Haftungsausschluss des Arbeitgebers nicht greift?
Auch wenn der Arbeitgeber für einen Schaden haftet, etwa weil besondere Umstände wie vorsätzliches Handeln vorliegen und der übliche Haftungsausschluss nicht gilt, kann ein Mitverschulden des Arbeitnehmers die Höhe des Schadensersatzes beeinflussen. Das bedeutet: Wenn der Arbeitnehmer durch sein eigenes Verhalten ebenfalls zur Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens beigetragen hat, kann dies seinen Anspruch auf Schadensersatz mindern.
Was bedeutet Mitverschulden des Arbeitnehmers?
Mitverschulden liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Mensch in der gegebenen Situation anwenden würde, um sich vor Schaden zu schützen. Stellen Sie sich vor, ein Arbeitnehmer verursacht einen Schaden, zu dem auch ein Fehler des Arbeitgebers beigetragen hat. Wenn der Arbeitnehmer aber beispielsweise klare Sicherheitsanweisungen missachtet hat, die den Schaden hätten verhindern oder verringern können, dann kann dies als Mitverschulden gewertet werden.
Wie wird Mitverschulden festgestellt und welche Folgen hat es?
Ob ein Mitverschulden vorliegt und wie schwer es wiegt, hängt immer von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Ein Gericht betrachtet das Verhalten beider Seiten – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – und wägt ab, wessen Beitrag zur Entstehung des Schadens wie groß war. Dabei wird berücksichtigt, wie schwer das jeweilige Verschulden wiegt.
Die Folge eines festgestellten Mitverschuldens ist, dass der Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers gekürzt wird. Die Kürzung richtet sich nach dem Grad des Mitverschuldens. Hat der Arbeitnehmer zum Beispiel zu einem Drittel zum Schaden beigetragen, wird der Schadensersatzanspruch typischerweise um ein Drittel gekürzt. In seltenen Fällen kann ein sehr schwerwiegendes Mitverschulden des Arbeitnehmers sogar dazu führen, dass der Anspruch vollständig entfällt.
Rechtlich geregelt ist dieser Grundsatz im deutschen Zivilrecht, wo das Mitverschulden (§ 254 Bürgerliches Gesetzbuch) bei der Bemessung von Schadensersatzansprüchen berücksichtigt wird. Es geht also um eine faire Verteilung des Schadens, wenn beide Seiten dazu beigetragen haben.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar
Juristische Fachbegriffe kurz erklärt
Haftungsprivilegierung nach § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB VII
Die Haftungsprivilegierung nach § 104 Absatz 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) bedeutet, dass Arbeitgeber für Personenschäden, die ihre Arbeitnehmer durch Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten erleiden, grundsätzlich nicht auf Schadensersatz haften. Stattdessen übernimmt die gesetzliche Unfallversicherung die Leistungen für Heilbehandlung, Rehabilitation und finanzielle Entschädigung. Dieser Haftungsausschluss dient dazu, den Betriebsfrieden zu sichern und langwierige Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden. Eine Ausnahme besteht nur, wenn der Arbeitgeber den Unfall oder Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat.
Beispiel: Wenn ein Arbeitnehmer bei der Arbeit stürzt und sich verletzt, zahlt die Unfallversicherung; der Arbeitgeber haftet normalerweise nicht direkt, außer bei vorsätzlichem Handeln.
Arbeitsunfall gemäß § 7 Absatz 1 SGB VII
Ein Arbeitsunfall ist ein plötzliches, von außen auf den Körper wirkendes Ereignis, das während der Ausübung einer versicherten Arbeitstätigkeit eintritt und zu einer gesundheitlichen Schädigung oder zum Tod führt. Dabei muss der Unfall im Zusammenhang mit der sogenannten betriebsbedingten Tätigkeit stehen, also der Tätigkeit, die mit dem Arbeitsverhältnis und dem Zweck des Betriebs verbunden ist. Die gesetzliche Unfallversicherung gewährt Schutz bei solchen Unfällen und übernimmt die Kosten für Behandlung und Entschädigung.
Beispiel: Wenn ein Küchenhelfer während seiner Arbeit auf nassem Boden ausrutscht und sich verletzt, ist das ein Arbeitsunfall.
Vorsatz im Sinne des § 276 BGB (mit „doppeltem Vorsatz“)
Vorsatz bedeutet, dass jemand eine Handlung mit Wissen und Willen durchführt und den dabei eintretenden Schaden entweder direkt herbeiführen will (dolus directus) oder diesen zumindest für möglich hält und billigend in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz oder dolus eventualis). Beim Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII ist der sogenannte doppelte Vorsatz erforderlich: Der Arbeitgeber oder seine Vertreter müssen sowohl die schädigende Handlung als auch den konkreten Erfolg (hier die Verletzung) bewusst herbeigeführt oder billigend in Kauf genommen haben. Fahrlässigkeit, auch grobe, reicht für den Vorsatz nicht aus.
Beispiel: Wenn ein Arbeitgeber wissentlich eine defekte Maschine einsetzt, obwohl ihm bewusst ist, dass sie Mitarbeiter verletzen kann, und er dies hinnimmt, liegt Vorsatz vor.
Betriebliche Tätigkeit (betriebsbedingte Tätigkeit)
Betriebliche oder betriebsbedingte Tätigkeit umfasst alle Handlungen, die ein Arbeitnehmer im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses und mit Bezug auf den Betriebszweck ausführt. Dazu gehört nicht nur die Hauptarbeit, sondern auch notwendige Nebentätigkeiten, die mit der Arbeit zusammenhängen, etwa das Essen in der Betriebskantine oder Gang in die Pausenräume. Nur wenn ein Schaden während solcher Tätigkeiten entsteht, besteht Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung und gilt der Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII.
Beispiel: Ein Mitarbeiter, der in der Küche arbeitet und sich während der Pause in der Betriebskantine verletzt, ist während dieses Weges innerhalb betrieblicher Tätigkeit versichert.
Berufung im Arbeitsrecht
Die Berufung ist ein Rechtsmittel, mit dem eine Partei gegen ein Urteil eines erstinstanzlichen Arbeitsgerichts vor dem nächsthöheren Gericht (Landesarbeitsgericht) vorgeht. Ziel der Berufung ist die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Rechtsanwendungen des erstinstanzlichen Gerichts. Sie ist im Arbeitsrecht ein wichtiges Instrument, um Fehler in der Entscheidung korrigieren zu lassen. Im vorliegenden Fall suchte die Klägerin mit der Berufung eine andere Beurteilung, insbesondere der Frage nach Vorsatz und Haftung.
Beispiel: Wenn ein Arbeitnehmer vom Arbeitsgericht abgewiesen wird, kann er durch Berufung beantragen, dass das Landesarbeitsgericht den Fall erneut prüft.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 104 Absatz 1 Satz 1 SGB VII (Haftungsprivilegierung des Arbeitgebers): Diese Norm schließt Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bei Arbeitsunfällen grundsätzlich aus, sofern kein vorsätzliches Herbeiführen des Unfalls vorliegt. Sie dient dazu, durch die gesetzliche Unfallversicherung eine umfassende Leistungserbringung sicherzustellen und langwierige Haftungsstreitigkeiten zu vermeiden. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Landesarbeitsgericht stützte seine Entscheidung auf diese Haftungsprivilegierung und erkannte keinen Vorsatz, sodass der Arbeitgeber für die psychischen Folgen der Übung nicht haftet.
- § 7 Absatz 1 SGB VII (Definition Arbeitsunfall): Regelt, wann ein Unfall als Arbeitsunfall gilt, nämlich beim plötzlichen Ereignis während der Arbeitstätigkeit, das zu gesundheitlichen Schäden führt. Die Unfallversicherung hat den Vorfall als Arbeitsunfall anerkannt, was die Grundlage für die Anwendung des SGB VII bildet. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Vorfall wurde unstreitig als Arbeitsunfall eingestuft, wodurch die gesetzlichen Regelungen zur Unfallversicherung und Haftungsprivilegierung anzuwenden sind.
- § 108 Absatz 2 SGB VII (Bindungswirkung der Unfallversicherung): Dieses Gesetz schreibt vor, dass die Gerichte an die Feststellungen der Unfallversicherung hinsichtlich des Versicherungsfalls gebunden sind, sofern diese nicht offensichtlich unrichtig sind. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht musste die Anerkennung des Vorfalls als Arbeitsunfall durch die Unfallversicherung akzeptieren und konnte die Haftungsfrage nur unter dieser Prämisse prüfen.
- § 276 BGB (Vorsatz und Fahrlässigkeit): Der Vorsatzbegriff verlangt Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolges mit Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit; bedingter Vorsatz (dolus eventualis) genügt. Für die Ausschlussregelung des § 104 SGB VII ist ein „doppelter Vorsatz“ notwendig, also der Vorsatz sowohl hinsichtlich der Handlung als auch des konkreten Schadens. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Klägerin musste nachweisen, dass die US-Stationierungsstreitkräfte den psychischen Schaden vorsätzlich herbeigeführt oder billigend in Kauf genommen haben, was das Gericht verneinte.
- Grundsätze der gesetzlichen Unfallversicherung (gesamt): Die gesetzliche Unfallversicherung soll Arbeitnehmer umfassend vor den Folgen von Arbeitsunfällen schützen und gleichzeitig den Arbeitgeber von privater Haftung schützen, um den Betriebsfrieden zu gewährleisten. Ihre Finanzierung und Leistungserbringung sind einheitlich geregelt. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Unfallversicherung übernimmt aufgrund der Haftungsprivilegierung die Folgen des Traumas der Klägerin, weshalb eine zusätzliche Haftung des Arbeitgebers ausgeschlossen wird.
- Beweislastregel bei Vorsatz (§ 104 SGB VII i.V.m. BGB): Der Arbeitnehmer trägt die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Arbeitgeber den Arbeitsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat, insbesondere im Hinblick auf das Wissen und Wollen des konkreten Gesundheitsschadens. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Klägerin konnte trotz der erlittenen psychischen Verletzungen nicht ausreichend beweisen, dass der Arbeitgeber den Schaden billigend in Kauf genommen hat, was zur Abweisung ihrer Klage führte.
Das vorliegende Urteil
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 6 Sa 263/23 – Urteil vom 24.09.2024
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