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Übergriffigkeitsverdacht – Anforderungen an fristlose Kündigung

ArbG Chemnitz – Az.: 10 Ca 662/21 – Urteil vom 01.10.2021

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche Kündigung noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 28.04.2021 aufgelöst worden ist.

2. Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Trainerin Turnen am Bundesstützpunkt Turnen in … weiterzubeschäftigen.

3. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

4. Der Streitwert wird auf 16.600,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen und hilfsweise unter Einhaltung der Kündigungsfrist ausgesprochenen Kündigung sowie Weiterbeschäftigung.

Die im Jahr 1960 geborene Klägerin ist seit dem 01.04.2009 auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages vom 15.03.2009 (Anlage K 1, Bl. 9 ff. d. Akte) bei dem Beklagten beschäftigt. Auf Grundlage eines weiteren Arbeitsvertrages vom 14.12.2017 (Anlage K 2, Bl. 14 ff. d. Akte) wird sie seit dem 01.01.2018 als Trainerin Turnen am Bundesstützpunkt Turnen in … eingesetzt. Grundlage und konkreter Inhalt jedes Arbeitsvertrages eines Stützpunkttrainers im Bereich Turnen ist der gemeinsame Ehren-Codex des DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), der Deutschen Sportjugend im DOSB, des Deutschen Turnerbundes e.V. (DTB) und der Deutschen Turnerjugend im DTB (Anlage B 1). Danach hat sich die Klägerin insbesondere verpflichtet,

  • die Persönlichkeit jedes Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu achten und
  • dessen Entwicklung unterstützen,
  • die individuellen Empfindungen zu Nähe und Distanz, die Intimsphäre und die persönlichen Schamgrenzen der anvertrauten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie die der anderen Vereinsmitglieder zu respektieren,
  • das Recht des anvertrauten Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf körperliche Unversehrtheit zu achten und keine Form der Gewalt, sei sie physischer, psychischer oder sexualisierter Art, auszuüben.

Das Bruttogehalt der Klägerin betrug zuletzt 4.150,00 EUR. Der Beklagte beschäftigt mehr als zehn Arbeitnehmer mit Ausnahme der Auszubildenden.

Mit Schreiben vom 17.12.2018 erteilte der Beklagte der Klägerin eine Abmahnung, da sie die Einnahme des Medikaments Tilidin an die Sportlerin … im Oktober 2017 veranlasst habe (Anlage B 12).

Übergriffigkeitsverdacht - Anforderungen an fristlose Kündigung
(Symbolfoto: Juice Dash/Shutterstock.com)

Am 27. November 2020, sowie am 03., 05. und 23. Dezember 2020 wurden im Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ sowie auf der Webseite des Mitteldeutschen Rundfunks Artikel veröffentlicht, in denen Turnerinnen, Trainer/innen und Eltern über den persönlichen Umgang mit der Klägerin berichteten. Kritisiert wurden die Abgabe von Schmerzmitteln trotz Verletzungen, der Umgang mit Verletzungen als solchen, sowie der Umgang mit psychischen Auffälligkeiten, konkret mit Essstörungen und Eigenverletzungen. Ende Dezember 2020 wurde wegen der erhobenen Vorwürfe Strafanzeige wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener und Körperverletzung gegen die Klägerin erstattet. Das Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Aufgrund der medialen Berichterstattung schaltete sich der Deutsche Olympische Sportbund e.V. (DOSB) in die Untersuchungen ein.

Der DTB als Bundesdachverband aller Turnvereine und –verbände beauftragte bereits am 01.12.2020 die Kanzlei … mit einer Untersuchung.

Mit Mail vom 28.11.2020 hatte der Beklagte die Klägerin mit sofortiger Wirkung von ihrer Aufgabe als Trainerin entbunden. Als Grund dafür werden die in einem Spiegel-Interview vom 27.11.2020 erhobene Vorwürfe von aktiven und ehemaligen Turnerinnen genannt (Anlage K 3, Bl. 18 d. Akte). Am 07.12.2020 berichtete die Sächsische Zeitung über die Anschuldigungen gegenüber der Klägerin (Anlage B 6). Am 07.01.2021 gab der Beklagte eine Stellungnahme zu dem SPIEGEL-Artikel ab (Anlage B 3).

Am 26.01.2021 erhielt der Beklagte eine 13-seitige Stellungnahme des Präsidiums des Deutschen Turnerbundes (Anlage B 4) zu den Ergebnissen der Untersuchung. Die Stellungnahme enthält auf Seite 11 die Forderung nach einer vollständigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin; der DTB lehne eine zukünftige Tätigkeit der Klägerin ab und wirke darauf im Rahmen seiner Möglichkeiten hin (Seite 12).

Am 25.01.2021 äußerte sich die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages öffentlich zu dem Sachverhalt (vgl. Anlage B 5).

Mit Schreiben vom 03.02.2021 forderte der Deutsche Turnerbund e.V. den Beklagten zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin auf (Anlage B 7). Am 17.02.2021 richtete u.a. die FDP-Fraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zur Aufklärung der Missbrauchsvorwürfe am Olympiastützpunkt … im Turnen (Anlage B 8).

Mit anwaltlichem Schreiben vom 19.02.2021 verlangte die Klägerin erfolglos ihre vertragskonforme Beschäftigung. Mit E-Mail vom 13.04.2021 übermittelte die Klägerin dem Beklagten ein Dokument „Gedanken zur Gutachten DTB erhalten am 27.03.2021“ (Anlage B 9), nachdem sie den Sachbericht der Rechtsanwälte … der ohne Anlagen 223 Seiten umfasst, erhalten hatte (Anlage B 10). Der Sachbericht enthält zahlreiche Schwärzungen.

Mit einem als „Verdachtskündigung“ bezeichneten Schreiben vom 28.04.2021, der Klägerin am 30.04.2021 zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos sowie hilfsweise zum 30.09.2021 (Anlage K 5, Bl. 22 d. Akte).

Wegen dieser Kündigung erhob die Klägerin die am 07.05.2021 eingegangene Klage.

Die Klägerin ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung seien nicht gegeben. Es fehle an einem kündigungsrelevanten Fehlverhalten der Klägerin. Weder seien die Voraussetzungen für eine Verdachtskündigung noch für eine Druckkündigung gegeben. Insbesondere sei nicht erkennbar, dass der Beklagte versucht habe, über seine institutionellen Vorstandsmitglieder Einfluss auf die von ihm vertretenen Verbände zu nehmen. Für eine Tatkündigung sei der Vortrag des Beklagten viel zu pauschal. Auch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die Klägerin habe sich in der Vergangenheit stets arbeitsvertragskonform verhalten. Die Klägerin habe daher Anspruch auf Weiterbeschäftigung.

Die Klägerin beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 28.04.2021, zugegangen am 30.04.2021, nicht aufgelöst worden ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die hilfsweise ordentliche Kündigung des Beklagten vom 28.04.2021, zugegangen am 30.04.2021, nicht aufgelöst wird;

3. hilfsweise für den Fall des Obsiegens mit den Klageanträgen zu 1. und 2., den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Trainerin Turnen am Bundesstützpunkt Turnen in … weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Beklagte wendet ein, aufgrund der Berichterstattung im Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ und der Internetseite des Mitteldeutschen Rundfunks sei sinngemäß der Verdacht erweckt worden, dass – ohne die jeweiligen Erziehungsberechtigten von den Vorgängen in Kenntnis zu setzen –

  • (minderjährige) Sportlerinnen trotz erheblicher Schmerzen hätten trainieren müssen,
  • entgegen ärztlicher Anordnung (minderjährige) Sportlerinnen trotz Verletzungen von der Klägerin weiter im Training belassen worden seien,
  • Sportlerinnen abends sehr lange hätten trainieren müssen,
  • (minderjährige) Sportlerinnen Angst hätten, dass Informationen z.B. über ihren Gesundheitszustand, über die Ärzte durch das von der Klägerin gehaltene sportorganisatorische Machtgefüge sofort zur Klägerin gelangten, obwohl sie eine Teilung der Informationen nicht gewünscht hätten,
  • (minderjährige) Sportlerinnen bezüglich ihrer Essgewohnheiten in einem über eine sportfachliche Erforderlichkeit hinausgehendem Maß kontrolliert, gedemütigt und gemaßregelt worden seien,
  • verschreibungspflichtige Medikamente in mehreren Fällen an Minderjährige abgegeben worden seien, ohne dass hierzu eine ärztliche Verschreibung vorgelegen habe,
  • (minderjährige) Sportlerinnen durch die strukturelle psychische Druck- und Machtausübung in eine Abhängigkeit von Schmerzmitteln getrieben worden seien,
  • (minderjährige) Sportlerinnen im Entwicklungsalter schikaniert und gedemütigt worden seien, z. B. durch stetige Äußerungen, dass aus ihnen nichts werde.

Der Beklagte habe zunächst entsprechend seiner Schutzplicht als Arbeitgeber versucht, die Klägerin mit einer offiziellen Stellungnahme gegenüber dem SPIEGEL-Magazin „aus dem Schussfeld zu nehmen“ und gleichzeitig auf eigene Initiative mit eigenen arbeitgeberinternen Ermittlungen begonnen. Zwei namentlich benannte Sportlerinnen hätten das Gesprächsangebot des Beklagten nicht wahrgenommen. Der Beklagte habe Kontakt mit dem Bundesinnenministerium und dem Deutschen Bundestag aufgenommen sowie den DOSB, den DTB und auch das Sächsische Staatsministerium des Innern über den aktuellen internen Ermittlungsstand informiert; er habe begonnen, ein Präventionskonzept mit der eigenen Kinderschutzbeauftragten zu entwickeln. In Ergebnis der Stellungnahme des Präsidiums des Deutschen Turnerbundes hätten in 17 Fällen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer Gewalt der Klägerin gegenüber den Sportlerinnen vorgelegen. Turnerinnen hätten danach unter Tränen weiter trainieren müssen und mitgeteilte Schmerzen seien von der Klägerin schlichtweg ignoriert worden. Darüber hinaus habe der Verdacht bestanden, dass die Trainerin eine Turnerin bei einem Bundesligawettkampf eingesetzt habe, obwohl ihr bekannt gewesen sei, dass die Turnerin nicht über eine ärztlich bestätigte Wettkampftauglichkeit verfügt habe. Die Trainerin habe die Verantwortlichen durch Vorlage der ärztlichen Bestätigung einer anderen Turnerin getäuscht. Das vollständige Gutachten selbst habe dem Beklagten zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorgelegen. Deshalb habe er noch keine personellen Konsequenzen ohne detailliertere Informationen getroffen. Er habe vielmehr auf eine eigene Überprüfung der Vorwürfe bestanden. Der Verdacht schwerwiegender Pflichtverletzungen sei noch nicht dringend bzw. genügend erhärtet gewesen. Die für den Beklagten bestimmte Version des Sachberichts vom 14.01.2021 der Kanzlei … sei diesem über die Prozessbevollmächtigte des Beklagten erst am 25.05.2021 zugegangen.

Spätestens aufgrund der zusammenhängenden Äußerungen im Artikel der Sächsischen Zeitung vom 07.12.2020 und dem Artikel vom 25.01.2021 habe der Beklagte zu befürchten gehabt, dass ihm die Bundesfördermittel, auf die er dringend angewiesen sei, aufgrund dieses Sachverhalts zumindest zu einem beträchtlichen Teil entzogen würden. Der Beklagte habe alles in seiner Macht Stehende unternommen, um auch weiterhin eine interne Aufklärung auf Basis der Stellungnahme des DTB zu ermöglichen. Zahlreiche Anfragen nach dem Erhalt des Gutachtens, mit dem Ziel, dieses aus eigener Hand überprüfen zu können, seien lange Zeit verneint bzw. zeitlich hinausgezögert worden. Der von dem Beklagten zur Einholung einer psychologischen Expertise beauftragte Prof. Dr. … habe sich ohne das Gutachten der Kanzlei… nicht in der Lage gesehen, stichhaltige, konkrete Zweifel oder gar Widerlegungen insbesondere der 17 Verdachtsmomente für „psychische Gewalt“ zu äußern. Auch die Glaubwürdigkeit der Aussagen der Turnerinnen sei an keiner Stelle in Zweifel gezogen worden. Seit Einleitung seiner internen Ermittlungen habe der Beklagte weiterhin versucht, mittels umfangreicher Gespräche mit Betroffenen und Institutionen, die in den Fall auch nur am Rande verwickelt seien, den Sachverhalt aufzuklären. Die Stellungnahme der Klägerin zum Gutachten DTB habe lediglich pauschales Bestreiten, aber keine detaillierte Widerlegung der Vorwürfe enthalten. Erst am 19.04.2021 hätten die Ergebnisse der Anhörung zu den einzelnen Gutachteninhalten mit dem Vorstand besprochen werden können. Dabei hätte sich auch für den Vorstand des Beklagten der dringende Verdacht erhärtet, dass die Klägerin tatsächlich in 17 Fällen psychische Gewalt gegenüber den Sportlern angewandt habe. Bei einem Telefonat am 27.04.2021 mit dem Vorstand des Deutschen Turnerbundes sei das weitere Vorgehen besprochen worden. Ab diesem Zeitpunkt sei das Vertrauen zur Klägerin im Hinblick auf einen verantwortungsvollen Umgang mit den Sportlerinnen unabwendbar zerstört worden. Dennoch habe er versucht, aufgrund des guten persönlichen Verhältnisses zur Klägerin sie weiterhin vor dem DTB in Schutz zu nehmen. Mit äußerstem Nachdruck sei dort noch ein weiteres Mal die unverzügliche Kündigung der Klägerin verlangt und eine Mediation zwischen dem DTB und dem Beklagten abgelehnt worden. In dieser Sitzung sei sinngemäß zum Ausdruck gebracht worden, dass eine Weiterbeschäftigung der Klägerin das „Ende jeglicher Zusammenarbeit mit dem DTB“ bedeuten werde. Dies habe der Beklagte als konkrete Androhung der Beendigung der Geschäftsbeziehung für den Bereich Turnen mit dem DTB verstanden, obwohl der Beklagte zuvor mehrfach versucht habe, den DTB von seiner Haltung abzubringen. Das nunmehr dem Beklagten vorliegende Gutachten bestätige 17 Fälle hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer Gewalt durch die Klägerin gegenüber Sportlerinnen sowie einen hinreichenden Verdacht, dass es in mehreren Fällen zur Abgabe von Schmerzmitteln durch die Klägerin an Turnerinnen gekommen sei, ferner das das Opioid Tilidin an die Turnerin … zur Einnahme bei Wettkämpfen abgegeben worden sei, konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Klägerin das Training fortgesetzt habe, obwohl aus Gründen der Erschöpfung oder wegen Weinen der Athletinnen ein Abbruch oder eine Pause des Trainings in deren Sicherheitsinteresse angezeigt gewesen wäre und mitgeteilte Schmerzen durch die Turnerinnen von der Klägerin häufig nicht ernst genommen worden seien. Der mediale Druck habe sich währenddessen noch verstärkt. Letztlich habe auch das Bundesinnenministerium anlässlich der „Chemnitzer Turnaffaire“ als größter Geldgeber der Spitzensportverbände und Olympiastützpunkte sinngemäß angekündigt, seine finanzielle Förderung an die Umsetzung weiterer Integritätsmaßnahmen in diesem Bereich (psychische Gewalt) zu knüpfen. Die Bedrohungslage im Hinblick auf die zukünftige Förderung um Bereich Turnen sei dadurch nahezu unerträglich geworden. Die Kündigung sei innerhalb der Kündigungserklärungsfrist als außerordentliche Verdachtskündigung und außerordentlicher Druckkündigung ausgesprochen worden. Jedenfalls sei die Kündigung als ordentliche Kündigung gerechtfertigt.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf deren wechselseitigen Schriftsätze und ihre Anlagen Bezug genommen, §§ 46 Abs. 2 ArbGG; 495, 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist begründet.

1. Die außerordentliche Kündigung vom 28.04.2021 hat das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, da die Voraussetzungen hierfür nach § 626 BGB nicht vorliegen.

Die Kündigung ist nicht bereits nach § 13 Abs. 1 Satz 2, 4, 7 KSchG wirksam geworden, da die Klägerin rechtzeitig innerhalb der Dreiwochenfrist Klage erhoben hat.

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

a) Der Beklagte hat hier eine sog. Verdachtskündigung ausgesprochen. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektive Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und ggf. zu beweisende Tatsachen gestützt sein. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen nicht aus (BAG vom 17. März 2016 – 2 AZR 110/15 – zitiert nach juris, Rdnr. 39). Der Arbeitgeber, der bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen begänne. Dies gilt allerdings nur solange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen. Soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen (BAG vom 20.03.2014 – 2 AZR 1037/12 – zitiert nach juris, Rdnr. 14 m. w. Nachweisen).

Ausgehend von diesen Rechtsprechungsgrundsätzen, denen sich die Kammer anschließt, bestand jedenfalls zum Zeitpunkt der Kündigung kein dringender Tatverdacht. Der Beklagte benennt schriftsätzlich keine nach Namen und Zeit bestimmte Sachverhalte bzw. Tatsachen, die zu einem konkreten dringenden Tatverdacht erheblicher Pflichtverletzungen geführt hätten. Der Verweis auf Presseveröffentlichungen entbindet den Beklagten nicht davon, selbst substantiiert vorzutragen, von welchen konkreten Verdachtsmomenten er ausgeht. Dies gilt umso mehr, als der Sachbericht vom 14.01.2021 dem Beklagten nach seinem eigenen Vortrag erst am 25. Mai 2021 zuging und er selbst behauptet, eigene Ermittlungen angestellt zu haben. In seiner Stellungnahme vom 07.01.2021 hält es der Beklagte für erforderlich, das Ergebnis der unabhängigen Untersuchungskommission – initiiert vom DTB – abzuwarten. Auch die dem Beklagten am 26.01.2021 zugegangene Stellungnahme des DTB enthält keine konkreten, nach Zeit und Ort bestimmte Vorwürfe. Die Stellungnahme enthält lediglich den Hinweis, dass in 17 Fällen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer Gewalt durch die Klägerin vorlägen, es in mehreren Fällen zur Abgabe von Schmerzmitteln durch die Klägerin an Turnerinnen gekommen sei, in einem Fall das Opioid Tilidin abgegeben worden sei und die betreffende Turnerin unter Einfluss dieses Medikaments bei einem internationalen Wettkampf gestürzt sei. Ferner hätten Turnerinnen unter Tränen weitertrainieren müssen, Schmerzen seien nicht ernst genommen worden. Aus Sicht der Kanzlei bestehe zudem der Verdacht, dass die Klägerin bei einem Bundesligawettkampf ohne Wettkampftauglichkeit eingesetzt habe.

Diese Umstände hätten den Beklagten zwar veranlassen müssen, die Anschuldigungen weiter aufzuklären. Für einen konkreten dringenden Tatverdacht sind diese Umstände jedoch nicht ausreichend. Das gilt umso mehr, als der Beklagte einen eigenen Experten, Herrn Prof. Dr. … mit einer psychologischen Expertise beauftragt hatte, dieser aber mitgeteilt haben soll, dass das vorliegende Material keine abschließende Beurteilung zur Güte der methodischen Standards für die zahlreich geführten Gespräche und deren Auswertung erlaube.

Selbständig tragend kommt hinzu, dass der Beklagte nach den Presseveröffentlichungen und der Stellungnahme des DTB auch keine Aufklärung der behaupteten Sachverhalte in der gebotenen Eile durchgeführt hat. Für die Kammer ist vielmehr überhaupt nicht nachvollziehbar, welche konkreten eigenen Aufklärungsbemühungen der Beklagte unternommen haben will. Der Beklagte führt insoweit lediglich aus, er habe alles im Rahmen seiner Macht Stehende unternommen, um auch weiterhin eine interne Aufklärung auf Basis der Stellungnahme des DTB zu ermöglichen. Über die Beauftragung eines Sachverständigen zur Einholung einer psychologischen Expertise hinaus hat er wohl aber keine eigenen Ermittlungen mit erkennbaren Ergebnissen angestellt.

Schließlich fand vor Ausspruch der streitgegenständlichen Verdachtskündigung auch keine ausreichende Anhörung der Klägerin statt. Die Parteien sind wohl lediglich darüber übereingekommen, dass die Klägerin eine Stellungnahme zu dem vollständigen – ihr vor dem Beklagten vorliegenden – Gutachten abgibt. Das ist aber nicht ausreichend. Erforderlich ist es vielmehr, dass der Arbeitnehmer erkennen kann, welchen Sachverhalt der Arbeitgeber für aufklärungsbedürftig hält, dass er jedenfalls auch seine, des Arbeitnehmers, Verantwortung dafür in Betracht zieht und dass ihm, dem Arbeitnehmer, Gelegenheit gegeben werden soll, zu den aufklärungsbedürftigen Geschehnissen und Verdachtsmomenten Stellung zu nehmen (BAG vom 25.04.2018 – 2 AZR 611/17 – zitiert nach juris, Rdnr. 33). Eine ordnungsgemäße Anhörung hätte deshalb vorausgesetzt, dass zunächst der Beklagte der Klägerin mitteilt, von welchen konkreten tatsächlichen Verdachtsmomenten er selbst ausgeht und der Klägerin Gelegenheit gibt, hierzu Stellung nehmen. Da dem Beklagten aber das vollständige Gutachten erst nach Ausspruch der Kündigung zur Verfügung stand, konnte er ohnehin aus der schriftlichen Stellungnahme der Klägerin keine Schlüsse ziehen. Dies gilt umso mehr, als der Beklagte selbst davon ausgeht, die klägerische Stellungnahme habe sich in pauschalem Bestreiten erschöpft.

b) Die außerordentliche Kündigung vom 28.04.2021 ist aber auch als sog. Druckkündigung unwirksam. Kündigt ein Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis eines Mitarbeiters, weil dessen Beendigung oder doch die dauerhafte Nichtbeschäftigung von der Belegschaft, einer Gewerkschaft, dem Betriebsrat, eine Aufsichtsbehörde, einem Kunden oder einem Sponsor unter Androhung von Nachteilen für den Arbeitgeber verlangt worden ist, kann die Drucksituation als solche einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung oder die soziale Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung ergeben. Ob im Einzelfall eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung gerechtfertigt ist, entscheidet die Drucksituation (vgl. hierzu ErfK-Niemann, Rdnr. 185 zu § 626 BGB m. w. Nachw.).

Maßgeblich ist aber hier nicht der Druck der Medien oder von Sportlerinnen, die früher von der Klägerin trainiert worden sind. Denn insoweit hat der Beklagte nicht vorgetragen, welche konkreten Nachteile ihm über eine „schlechte Presse“ hinaus gedroht hätten. Eine erhebliche Drucksituation ist deshalb nicht erkennbar.

Vorliegend hat allerdings auch niemand eine außerordentliche Kündigung selbst nach dem Vortrag des Beklagten verlangt. Gefordert wurde vom DTB zwar eine „vollständige Beendigung“ des Arbeitsverhältnisses der Klägerin. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Verlangen nach einer fristlosen Kündigung. Von der Sportausschussvorsitzenden des Deutschen Bundestages wurde ein solches Verlangen ebenfalls nicht geäußert.

Soweit der Beklagte geltend macht, spätestens aufgrund der beiden zusammenhängenden Äußerungen der Sportausschussversitzenden des Deutschen Bundestags in einem Artikel der Sächsischen Zeitung vom 07.12.2020 sowie vom 25.01.2021, veröffentlicht über den Mitteldeutschen Rundfunk habe der Beklagte befürchtet, dass ihm Bundesfördermittel zu einem beträchtlichen Teil entzogen würden, hat er auch die Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. Danach kann die Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes erklärt werden. Dies gilt auch, soweit sich der Beklagte auf eine Forderung des DTB nach „vollständiger Beendigung“ des Arbeitsverhältnisses der Klägerin im Schreiben vom 03.02.2021 beruft.

c) Eine Tatkündigung wurde nicht ausgesprochen. Dies hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 01.10.2021 ausdrücklich noch einmal klargestellt und im Übrigen auch keine entsprechenden Tatsachen unter Beweisantritt vorgetragen.

2. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 28.04.2021 ist sozial ungerechtfertigt nach § 1 Abs. 1 KSchG, da sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten der Klägerin liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG bedingt ist.

a) Die Voraussetzungen einer Verdachtskündigung müssen auch bei einer ordentlichen Kündigung gegeben sein (BAG vom 31.01.2019 – 2 AZR 426/18 – zitiert nach juris). Daran fehlt es hier jedoch. Insbesondere sind die Anforderungen an eine ordentliche Verdachtskündigung nicht geringer. Deshalb wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zu oben 1a) verwiesen.

b) Die ordentliche Kündigung erweist sich aber auch nicht als Druckkündigung als wirksam.

Das Verlangen des Dritten kann gegenüber dem Arbeitgeber durch ein Verhalten des Arbeitnehmers oder einen personenbedingten Grund objektiv gerechtfertigt sein. In diesem Fall liegt es im Ermessen des Arbeitgebers, ob er eine personen- oder eine verhaltensbedingte Kündigung erklärt. Eine solche Kündigung wird auch als „unechte Druckkündigung“ bezeichnet. Die Kündigung wird nicht primär wegen des durch den Dritten erzeugten Drucks erklärt, sondern wegen des personen- oder verhaltensbedingten Kündigungsgrundes. Fehlt es hingegen an einer solchen objektiven Rechtfertigung der Drohung, so kommt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Kündigung aus betriebsbedingten Gründen in Betracht. An die Zulässigkeit einer sogenannten „echten Druckkündigung“ sind allerdings strenge Anforderungen zu stellen. Der Arbeitgeber hat sich in diesem Fall zunächst schützend vor den betroffenen Arbeitnehmer zu stellen. Nur wenn auf diese Weise die Drohung nicht abgewendet werden kann und bei Verwirklichung der Drohung schwere wirtschaftliche Schäden für den Arbeitgeber drohen, kann die Kündigung sozial gerechtfertigt sein. Dabei ist jedoch Voraussetzung, dass die Kündigung das einzig praktisch in Betracht kommende Mittel ist, um die Schäden abzuwenden BAG vom 18.07.2013 – 6 AZR 420/12 – zitiert nach juris, Rdnr. 38/39).

So ist der Vortrag des Beklagten, er habe sich schützend vor die Klägerin gestellt, zu allgemein. Zutreffend ist zunächst, dass der Beklagte in seiner Stellungnahme vom 07.01.2021 (Anlage B 3) zu dem SPIEGEL-Artikel vom 23.12.2020 Stellung genommen hat. Dabei wird allerdings lediglich mitgeteilt, dass die Klägerin für den Zeitraum der Aufklärung der Vorwürfe freigestellt worden sei und für sie erst einmal die Unschuldsvermutung gelte. Welche konkreten Bemühungen der Beklagte allerdings nach diesem Zeitraum ergriffen hatte, um sich (weiterhin) schützend vor die Klägerin zu stellen, wird aber nicht erkennbar. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang lediglich geltend gemacht, dass er auch im April „aufgrund des guten persönlichen Verhältnisses zur Klägerin selbst versucht habe, sie vor dem DTB weiterhin in Schutz zu nehmen“.

Hinzu kommt, dass nicht ersichtlich ist, welche konkreten schweren wirtschaftlichen Schäden dem Beklagten gedroht haben und weshalb die Kündigung der Klägerin unabwendbar war. Weder teilt der Beklagte Tatsachen zu seiner eigenen wirtschaftlichen Lage bzw. Herkunft seiner finanziellen Mittel mit, noch lässt dessen Vortrag erkennen, wer ihm den Entzug von finanziellen Mitteln in welcher Höhe angedroht hat. Der Kammer ist sicherlich bewusst, dass der Beklagte für seinen Betrieb auch auf Drittmittel angewiesen ist. Allerdings ist es ohne tatsächliche Angabe der finanziellen Situation nicht möglich, zu beurteilen, ob bei Verwirklichung der behaupteten Drohungen erhebliche wirtschaftliche Schäden zu erwarten sind.

Damit war auch die Unwirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung festzustellen.

3. Da sich sowohl die außerordentliche als auch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung als unwirksam erwiesen haben, stand der Klageantrag hinsichtlich der Weiterbeschäftigung zur Entscheidung an. Die Klage ist auch in diesem Antrag begründet, da der Beklagte keine überwiegenden Interessen geltend gemacht hat, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen (vgl. Beschluss des Großen Senats des BAG vom 27.02.1985 – GS 1/84 – EzA § 611 BGB Beschäftigungspflicht Nr. 9).

II.

Als unterlegene Partei hat der Beklagte nach § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

III.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 42 Abs. 2 Satz 1 GKG, 3 ZPO. Danach war ein Vierteljahresverdienst für die Feststellungsanträge der Klägerin maßgeblich. Der Weiterbeschäftigungsantrag war mit einem weiteren Bruttomonatsverdienst zu bewerten.

 

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