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Unterbliebene Einladung zum Vorstellungsgespräch – Entschädigung schwerbehinderter Bewerber

LAG Berlin-Brandenburg – Az.: 4 Sa 413/22 – Urteil vom 19.10.2022

I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. November 2021 – 56 Ca 12978/20 – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert:

Das beklagte Land wird verurteilt, an die Klägerin 7.236,90 EUR (siebentausendzweihundertsechsunddreißig 90/100) nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. Oktober 2020 zu zahlen.

II. Von den Kosten des Rechtsstreits haben bei einem Gerichtskostenstreitwert von 22.487,00 EUR die Klägerin 68 Prozent und das beklagte Land 32 Prozent zu tragen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz bzw. Entschädigung in Anspruch.

Die Klägerin ist selbstständige Parlamentsstenografin und selbstständige Rechtsanwältin. Sie arbeitete von 1996 bis 2003 im Landtag Schleswig-Holstein als angestellte Parlamentsstenografin und Ausschussgeschäftsführerin. Seit 2003 ist sie als freiberufliche Parlamentsstenografin im Wesentlichen in Landesparlamenten tätig. Von 2001 bis 2009 arbeitete sie als Gaststenografin für die Beklagte. Unter dem 02.01./10.01.2019 schloss die Klägerin mit der Beklagten einen Rahmenvertrag über die Protokollierung in Ausschuss- und Gremiensitzungen in der 19. Wahlperiode. Im Rahmen dieses Rahmenvertrages wurde die Klägerin bis zum Zeitpunkt des vorliegenden Verfahrens nicht herangezogen.

Die Beklagte schrieb für das Referat PD 3 – Stenografischer Dienst – (PD 3) in der Verwaltung des Deutschen B. mit Bewerbungsschluss 28. Februar 2020 Stellen als Stenografen (w/m/d), Besoldungsgruppe A 13 BBesO/14 bzw. Entgeltgruppe 13/14 TVöD aus. In der Stellenausschreibung heißt es unter der Überschrift Anforderungsprofil auszugsweise wörtlich:

„Qualifikationserfordernisse

· Bewerberinnen und Bewerber müssen zwingend

  • ein abgeschlossenes wissenschaftliches Hochschulstudium (Diplom, Master oder vergleichbarer Abschluss) und
  • die Fertigkeit in der Deutschen Einheitskurzschrift von mindestens 200 Silben/Minute sowie
  • mehrjährige berufspraktische Erfahrungen in der stenografischen Sitzungsprotokollierung

nachweisen.

· Es werden Bewerberinnen und Bewerber bevorzugt berücksichtigt, die

  • die mehrjährigen berufspraktischen Erfahrungen in der stenografischen Sitzungsprotokollierung in der stenografischen Protokollierung von Parlamentssitzungen

nachweisen.“

Weiter heißt es:

„Die genannten Qualifikationserfordernisse müssen zum Bewerbungsschluss vorliegen und nachgewiesen sein. Unvollständige und nicht aussagefähige Bewerbungsunterlagen können nicht berücksichtigt werden.“

Wegen des weiteren Inhalts der Stellenausschreibung im Einzelnen wird auf die Blatt 171 – 173 d. A. verwiesen.

Die Klägerin, die mit einem Grad der Behinderung von 60 schwerbehindert ist, bewarb sich mit Schreiben vom 24. Februar 2020 bei dem beklagten Land. Als Nachweis für die zwingenden stenografischen Fertigkeiten von 200 Silben pro Minute legte sie ihre Urkunde über eine stenografische Schreibleistung von 350 Silben pro Minute bei den Deutschen Meisterschaften vor und verwies auf Kenntnisse in englischer Kurzschrift von 80 Silben pro Minute, die sie während ihrer Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin erworben hatte. Hinsichtlich ihrer zwingenden mehrjährigen berufspraktischen Erfahrungen in der stenografischen Sitzungsprotokollierung führte sie an ihre Tätigkeit im Selbstverwaltungsbüro einer gesetzlichen Krankenkasse, ihre Tätigkeit als Parlamentsstenografin und Ausschussgeschäftsführerin im Schleswig-Holsteinischen Landtag von 1996 bis 2003, für den sie neben Plenarsitzungen auch Untersuchungsausschüsse, ständige Ausschusssitzungen, Enquetekommissionen, Anhörungen stenografisch aufgenommen und sprachlich in Form scheinwörtlicher, wörtlicher oder analytischer Protokolle ausgearbeitet hatte. Ferner führte sie an ihre Tätigkeit als Gaststenografin für den Beklagten von 2001 bis 2009, den Abschluss eines Rahmenvertrages als Gaststenografin von Januar 2019 mit dem Beklagten, ohne bislang in das Vergabeverfahren einbezogen worden zu sein, sowie ihre freiberufliche Tätigkeit als Parlamentsstenografin seit 2003 in verschiedenen Landesparlamenten, in Wirtschaft und Einrichtungen des öffentlichen Rechts auf. Hinsichtlich des genauen Inhalts des Bewerbungsschreibens wird auf Bl. 174 ff. d. A. verwiesen.

Die Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 23. April 2020 mit, dass aufgrund Nichterfüllung der zwingend geforderten Kriterien der Ausschreibung, die Bewerbung der Klägerin nicht weiter im Auswahlverfahren habe berücksichtigt werden können und man sich für andere Bewerberinnen bzw. Bewerber entschieden habe. Hinsichtlich des genauen Wortlauts des Schreibens wird auf Bl. 180 d. A. verwiesen.

Zwischen den Parteien ist streitig, wann dieses Schreiben der Klägerin zuging. Unstrittig ist aber, dass die Schwerbehindertenvertretung bis zur Fertigung des Absageschreibens der Beklagten vom 23. April 2020 ebenso wie der Personalrat nicht beteiligt wurde.

Mit E-Mail vom 12. Mai 2020 bat die Klägerin die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen beim Deutschen B. um Auskunft im Zusammenhang mit ihrem Bewerbungsverfahren. Diese teilte der Klägerin per E-Mail vom 12. Mai 2020 (Anlage K 17, Blatt 201 d. A.) das Folgende mit:

„… ich habe erst heute Ihre Unterlagen sichten können. Eine Beteiligung meiner Person zu dem von Ihnen genannten Zeitpunkt ist leider versäumt worden. … Somit wurde die Entscheidung auch nicht in Absprache mit mir vorgenommen. Allerdings darf ich Ihnen mitteilen, dass ich nach Durchsicht der Unterlagen keine andere Entscheidung treffen kann. Die Gründe sind bereits über Herrn T. mitgeteilt worden.“

Auf die Nachfrage der Klägerin über die Gründe ihrer Ablehnung teilte die Beklagte per E-Mail vom 11. Mai 2020 (Anlage K 14, Blatt 181 f. d. A.) mit, dass sich aus ihren Bewerbungsunterlagen nicht ergeben habe, dass sie über mehrjährige berufspraktische Erfahrungen in der stenografischen Sitzungsprotokollierung verfüge. In ihrem Bewerbungsschreiben sei zwar erwähnt worden, dass sie als Stenografin tätig gewesen sei. Entsprechende Nachweise in Form von Zeugnissen, Referenzen o. ä. seien den Bewerbungsunterlagen jedoch nicht zu entnehmen gewesen. Damit sei eine der drei zwingend geforderten Qualifikationsanforderungen nicht erfüllt. Abschließend teilte die Beklagte in dem Schreiben vom 11. Mai 2020 folgendes mit:

„Mit der Bekanntgabe des Ergebnisses des Auswahlverfahrens durch Schreiben vom 23. April 2020 ist dieses Auswahlverfahren grundsätzlich abgeschlossen. Von den ausgeschriebenen Stellen konnte nur eine Stelle besetzt werden. Eine verbindliche Einstellung ist bislang nicht erfolgt.“

Die Klägerin strengte daraufhin beim Arbeitsgericht Berlin am 13. Mai 2020 zum Geschäftszeichen 58 Ga 6211/20 ein einstweiliges Verfügungsverfahren an, welches auf vorläufige Nichtbesetzung der ausgeschriebenen Stellen Stenografen (w/m/d) im Referat PD 3, Stenografischer Dienst des Deutschen Bundestages gerichtet war. Des Weiteren erhob sie am 14. Mai 2020 Klage beim Arbeitsgericht Berlin zum Geschäftszeichen 58 Ca 8409/20, mit welcher sie die Beklagte u.a. auf Neuentscheidung ihrer Bewerbung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts in Anspruch nahm.

Unter dem 26. Mai 2020 sicherte die Beklagte der Klägerin zu, dass sie eine der drei noch nicht besetzten Stellen bis zum Abschluss des Rechtsstreits im Hauptsacheverfahren 58 Ca 8409/20 nicht besetzen werde. Gleiches erklärte die Beklagte am 30. Juni 2020 zu Protokoll im Kammertermin der einstweiligen Verfügung (58 Ga 6211/20). Mit Urteil vom 30. Juni 2020 wies das Arbeitsgericht Berlin die einstweilige Verfügung der Klägerin mangels Vorliegen eines Verfügungsgrundes zurück. Wegen des Inhalts der Entscheidung wird auf die Anlage K 23a (Blatt 347 ff. d. A.) verwiesen. Das Urteil ist rechtskräftig.

Mit Schreiben vom 4. Juli 2020, das die Klägerin vorab am 4. Juli 2020 an die Beklagte per Fax übermittelte, machte sie Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gegenüber der Beklagten geltend. Die Beklagte wies die Ansprüche mit Schreiben vom 25. August 2020, auf dessen Inhalt verwiesen wird (Anlage K 16a, Blatt 191 ff. d. A.), zurück.

Mit Schreiben vom 17. August 2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie mit ihr ihre Bewerbung als Stenografin im Referat PD 3 gerne persönlich besprechen wolle. Sie lud die Klägerin zu einem Praxistest (Erstellung eines Protokolltextes auf der Grundlage einer Audiodatei) am 27. August 2020 in das Referat PD 3 ein und wies darauf hin, dass am 28. August 2020 das Vorstellungsgespräch beim Personalreferat der Verwaltung des Deutschen Bundestages stattfinden werde. Die Klägerin teilte der Beklagten mit Schreiben vom 18. August 2020, auf dessen Inhalt im Einzelnen verwiesen wird (Anlage K 25a, Blatt 359 ff. d. A.), mit, dass sie an dem Vorstellungsgespräch gerne teilnehmen möchte. Sie bat aufgrund beruflicher Verpflichtungen um Verschiebung des Termins und erbat weitere Informationen. Die Beklagte lud die Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 25. August 2020 zu einem Vorstellungsgespräch am 24. und 25. September 2020 ein. Die Klägerin teilte der Beklagten mit Schreiben vom 29. August 2020 mit, dass sie der Einladung gerne nachkommen möchte, es aber erneut eine Terminüberschneidung mit einem Auftrag als Gaststenografin gäbe. Unter Umständen könne sie am 25. September 2020 eine Teilnahme ermöglichen. Die Klägerin bat darum, ihr die Möglichkeit einzuräumen, den Praxistest und das Vorstellungsgespräch am 25. September 2020 zu absolvieren. Die Beklagte kam der Bitte der Klägerin nach und lud sie für den 25. September 2020 ein. Mit E-Mail vom 24. September 2020 sagte die Klägerin das Vorstellungsgespräch und den Praxistest unter Berufung darauf ab, dass sie Erkältungssymptome habe, die sich momentan nicht eindeutig zuordnen ließen. Sie bat wiederum um einen Ausweichtermin. Daraufhin lud die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 5. Oktober 2020 zu einem Auswahlverfahren am 11. November 2020 in Form eines Praxistests und eines Vorstellungsgesprächs ein.

Zwischenzeitlich hatte die Beklagte am 23. September 2020 erneut zwei Stellen als Stenografen im Referat PD – 3 mit Bewerbungsfrist bis zum 9. Oktober 2020 ausgeschrieben und hatte sich die Klägerin am 30. September 2020 auf diese Stellenausschreibung beworben. Aufgrund ihrer erneuten Bewerbung nahm die Klägerin am 30. September 2020 ihre Klage zum Geschäftszeichen 58 Ca 8409/20 zurück und unterrichtete die Beklagte noch am selben Tag hierüber.

Mit Schreiben vom 11. Oktober 2020 teilte die Klägerin der Beklagten sodann auszugsweise Folgendes mit:

„…

ich danke Ihnen für die Einladung vom 05.10.2020 zu einem Auswahlverfahren am 11.11.2020 in Form eines Praxistests und eines Vorstellungsgesprächs im Zusammenhang mit meiner Bewerbung vom 24.02.2020.

Ich möchte Sie höflich daran erinnern, dass ich mich nach Rücknahme meiner Klage vom 30.09.2020 im Zusammenhang mit dieser Bewerbung, über die ich Sie per E-Mail vom 30.09.2020 informiert habe, ebenfalls am 30.09.2020 online auf eine neu ausgeschriebene Stenografenstelle beim Deutschen B. beworben habe.

Damit habe ich, nachdem ich Ende September d. J. Corona-bedingt nicht an dem für den 25.09.2020 vorgesehenen Auswahlverfahren teilnehmen konnte und noch keinen Ausweichtermin für ein Vorstellungsgespräch erhalten hatte, konkludent meine Bewerbung vom 24.02.2020 zurückgenommen. Ich entschuldige mich dafür, dass dies nicht explizit geschehen ist. Der Grund für dieses Vorgehen ist, dass ich mir einen unvoreingenommenen Neuanfang für das Stellenbesetzungsverfahren erhoffe.

Dem Wortlaut Ihres Einladungsgesprächs vom 05.10.2020 zufolge und mit Blick darauf, dass zu dem Zeitpunkt die Bewerbungsfrist 09.10.2020 für die neuen Stenografenstellen noch nicht abgelaufen war, darf ich wohl davon ausgehen, dass die Einladung zum dem Auswahlverfahren am 11.11.2020 mit dem aktuellen Bewerbungsverfahren und damit mit meiner neuen Bewerbung nicht im Zusammenhang steht. Ich bitte Sie also um eine Einbeziehung meiner aktuellen Bewerbung in das neue Bewerbungsverfahren.

…“

Mit ihrer am 5. Oktober 2020, einem Montag, bei Gericht eingegangenen und der Beklagten am 22. Oktober 2020 zugestellten Klage macht die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von jedenfalls drei Bruttomonatsvergütungen der Entgeltgruppe 14, Stufe 3 TVöD geltend und begehrt die Feststellung, dass ihr die Beklagte als Schadensersatz sämtliche ihr entstehenden Kosten der Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit ihrer Bewerbung vom 24. Februar 2020 zu zahlen habe.

Die Klägerin hat darauf verwiesen, dass die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß bei ihrer Stellenbewerbung beteiligt worden sei. Eine Heilung durch Nachholung sei nicht möglich. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX nicht vor. Die Klägerin hält auch eine ordnungsgemäße Beteiligung des Personalrats nicht für gegeben. Die Klägerin meint, aufgrund der fehlenden Einladung zum Vorstellungsgespräch sei eine Benachteiligung aufgrund ihrer Schwerbehinderung indiziert. Eine fachliche Ungeeignetheit liege nicht vor. Sie habe im Bewerbungsanschreiben und in ihrem Lebenslauf genügend Tatsachen hinsichtlich ihrer beruflichen Erfahrungen vorgetragen. Die Vorlage von Zeugnissen bzw. Referenzen sei kein zwingendes Qualifikationserfordernis. Im Übrigen verhalte sich die Beklagte widersprüchlich. Bei ihrer Bewerbung im Jahr 2018 auf eine ausgeschriebene Stelle als Stenograf*in im Referat PD 3 (Stenografischer Dienst) sei sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden, obwohl sie weder Zeugnisse noch Bescheinigungen vorgelegt habe. Im Übrigen habe sie in der Bewerbung und im Lebenslauf auf den mit der Beklagten bestehenden Rahmenvertrag hingewiesen. Die Beklagte habe vor Abschluss dieses Rahmenvertrages das Vorliegen mehrjähriger berufspraktischer Erfahrungen in stenografischer Sitzungsprotokollierung geprüft und bejaht. Zudem müsse sich die Beklagte die Kenntnis von der Klägerin als Gaststenografin von 2001 bis 2009/2011 mit wiederholter erweiterter Sicherheitsüberprüfung zurechnen lassen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Schmerzensgeld nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Arbeitsgerichts gestellt wird, jedoch über drei Bruttomonatsgehälter TVöD E 14, Stufe 3, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, und das berücksichtigt, dass die schwerbehinderte Klägerin bei diskriminierungsfreier Auswahl für die vakante Position erhalten hätte;

2. festzustellen, dass die Beklagte der Klägerin als Schadensersatz nach § 15 Abs. 1 AGG sämtliche ihr entstehende Kosten der Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit der Bewerbung vom 24.02.2020 zu zahlen hat.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass ein Anspruch auf Entschädigung nicht gegeben sei. Die Klägerin habe die Frist zur Geltendmachung des Entschädigungs-/Schadensersatzanspruchs versäumt. Das Ablehnungsschreiben sei am 23. April 2020 versandt worden, so dass von einem Zugang bei der Klägerin spätestens am 2. Mai 2020 auszugehen sei. Eine Benachteiligung sei nicht deshalb zu vermuten, weil die Schwerbehindertenvertretung zunächst nicht beteiligt worden sei. Die Beteiligung sei nachgeholt worden. Im Übrigen habe die Klägerin ihrer Bewerbung keine Nachweise hinsichtlich der beruflichen Qualifikation beigefügt. In der Ausschreibung sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass Qualifikationserfordernisse zum Bewerbungsschluss nachgewiesen vorliegen müssten. Damit habe auch die fachliche Eignung nach § 165 Satz 4 SGB IX nicht vorgelegen. Der Vorwurf der Benachteiligung der Klägerin sei dadurch entkräftet, dass die Beklagte zwischenzeitlich mehrfach versucht habe, die Klägerin zu einem Vorstellungsgespräch – auch in einem weiteren Bewerbungsverfahren – einzuladen. Die Klägerin sei zu keinem der vorgeschlagenen Vorstellungstermine erschienen und habe schließlich sogar ihre Bewerbung vom 24. Februar 2020 zurückgezogen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. November 2021 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei bereits der persönliche Anwendungsbereich des § 6 AGG nicht eröffnet. Die Klägerin habe ihre Bewerbung vom 24. Februar 2020 unmissverständlich zurückgezogen und die Beklagte hierauf mit Schreiben vom 11. Oktober 2020 ausdrücklich hingewiesen. Damit habe die Klägerin ihren Bewerberstatus nach § 6 Abs. 1 AGG verloren, mit der Folge, dass ein Anspruch nach § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG nicht mehr geltend gemacht werden könne.

Gegen das am 17. November 2021 verkündete und der Klägerin am 22. April 2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. April 2022, einem Montag, Berufung eingelegt und diese am 17. Juni 2022 begründet.

Die Klägerin ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe den Bewerberbegriff iSv. § 6 Abs. 1 AGG nicht richtig erkannt. Zum anderen habe das Gericht seinem Urteil entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht zugrunde gelegt. Das Bewerbungsverfahren sei nicht durch Rücknahme der Bewerbung durch die Klägerin beendet worden und sie dadurch auch nicht ihres Bewerberstatus verlustig geworden. Die Beklagte habe in ihrer Eigenschaft als öffentlicher Arbeitgeber das Bewerbungsverfahren in Bezug auf die Klägerin bereits mit Bekanntgabe seiner Absage vom 23.04.2020 beendet. Eine gebotene Auslegung des Schreibens der Klägerin vom 11.10.2020 nach den allgemeinen Auslegungsregeln des Zivilrechts ergebe, dass das Schreiben einerseits im Zusammenhang mit der Rücknahme der Klage auf Neubescheidung nach ihrem Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren durch die Absage des Beklagten zu sehen ist. Andererseits sei der Wortlaut des Schreibens der Klägerin vom 11.10.2020 – wie sie darin betont – im Lichte ihrer neuen Bewerbung vom 30.09.2020 auf eine mit Bewerbungsfrist zum 09.10.2020 ausgeschriebene Vakanz als Parlamentsstenografin zu sehen. In der Sache sei auch eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung indiziert. Neben der Nichteinladung zum Vorstellungsgesprächs sowie der Nichtbeteiligung der Schwerbehindertenvertretung und des Personalrats liege auch ein weiteres Indiz iSv § 22 AGG für eine Ungleichbehandlung der Klägerin wegen ihrer Schwerbehinderung gegenüber dem nicht schwerbehinderten Mitbewerber Herrn K. vor. Herr K. sei am 01.10.2020, obwohl er in dem vorherigen Bewerbungsverfahren ausgeschlossen wurde, in den Stenografischen Dienst eingestellt, obwohl er die stenografische Schreibleistung von 200 Silben pro Minute nicht erfüllte und im Oktober 2020 immer noch keine mehrjährigen berufspraktischen Erfahrungen in stenografischer Sitzungsprotokollierung haben konnte. Hätte die Beklagte der Klägerin Aufträge als Gaststenografin übertragen, hätte die Klägerin genauso wie Herr K. – und andere – den Zugang zum öffentlichen Amt eines Stenografen im Stenografischen Dienst der Beklagten erhalten, ohne dass es zu irgendwelchen rechtlichen oder gerichtlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Von einer solchen freiberuflichen Tätigkeit als Gaststenografin als dem Eintrittstor zu einem öffentlichen Amt als Stenografin im Stenografischen Dienst des B. sei die schwerbehinderte Klägerin trotz Rahmenvertrags vom Januar 2019 konsequent ausgeschlossen worden. Des Weiteren habe die Beklagte die Klägerin gegenüber der nicht schwerbehinderten Bewerberin M. Sch. benachteiligt, denn auch diese habe nicht die gebotenen, sachdienlichen Arbeitszeugnisse vorgelegt. Neben dem Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG bestehe auch ein Anspruch auf Schadensersatz nach § 15 Abs. 1 AGG für sämtliche Kosten der Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit der Bewerbung vom 24.02.2020 und zwar auch dann, wenn eine Diskriminierung nach §§ 1, 3, 7 AGG verneint werde. Ein schwerbehinderter Bewerber, der geltend mache, in einem Bewerbungsverfahren wegen eines Merkmals nach § 1 AGG diskriminiert worden zu sein, dürfe von der Geltendmachung eines solchen immateriellen Schadens nicht dadurch abgehalten werden, dass er mit einem öffentlichen Arbeitgeber einer finanzstarken Partei gegenübersteht, die ihre finanzielle Leistungsfähigkeit dem Steuerzahler verdanke. Aus diesem Grund müsse § 15 Abs. 1 AGG in Form von Schadenersatz für die Rechtsverfolgung bereits auf einem niederschwelligen Niveau greifen, nämlich auch dann, wenn ein Gericht eine Diskriminierung nach §§ 1, 3, 7 AGG verneine. Die Prüfungsintensität des Gerichts sei insoweit geringer. Entscheidend sei, dass die gerichtliche Geltendmachung des Schmerzensgeldanspruchs nicht mutwillig geschieht oder offensichtlich unbegründet ist.

Die Klägerin beantragt,

1. unter Abänderung des am 17.11.2021 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Berlin, Az. 56 Ca 12978/20, den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin Schmerzensgeld nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch nicht unter 3 Bruttomonatsgehältern TVöD E 14, Stufe 3, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, das berücksichtigt, dass die schwerbehinderte Klägerin bei diskriminierungsfreier Auswahl die vakante Position erhalten hätte;

2. festzustellen, dass die Beklagte der Klägerin als Schadenersatz nach § 15 Abs. 1 AGG sämtliche ihr entstehenden und entstandenen Kosten der Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit ihrer Bewerbung vom 24.02.2020 zu zahlen hat.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin sei nicht zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen gewesen, weil sie Nachweise zur berufspraktischen Qualifikation nicht eingereicht habe, obwohl dies in der Stellenausschreibung explizit gefordert worden sei. Die Klägerin habe entsprechend die formellen Voraussetzungen, die in der Stellenausschreibung beschrieben waren, nicht eingehalten. Allein deshalb sei sie (zunächst) nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Dies stehe in keinerlei Verbindung zur vorliegenden Schwerbehinderung. Aber selbst wenn man davon ausgehe, die Klägerin hätte sofort zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden müssen, ergebe sich weder ein Anspruch der Klägerin auf Entschädigung gem. § 15 Abs. 2 AGG, noch ein Anspruch auf Schadensersatz gem. § 15 Abs. 1 AGG. Die Klägerin habe nämlich ihre Bewerbung im laufenden Bewerbungsprozess zurückgezogen und so völlig losgelöst von jeglicher Art von Diskriminierung in eigener Entscheidung die Ursache dafür gesetzt, dass sie im weiteren Bewerbungsprozess unberücksichtigt blieb. Es bestehe gar keine Kausalität zwischen der Nichteinladung der Klägerin und der Nichteinstellung. Insoweit sei darauf zu verweisen, dass die Klägerin unstreitig zu Vorstellungsgesprächen am 27./28. August, 24./25. September 2020, 25. September 2020 und 11. November 2029 eingeladen wurde, aber sämtliche Termine nicht wahrgenommen wurden. Auch eine fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung sei in keiner Weise ursächlich dafür, dass die Klägerin im hier streitgegenständlichen Bewerbungsverfahren nicht zum Zuge gekommen sei. Irrelevant seien auch die Behauptungen der Klägerin im Hinblick auf eine unterlassene Beteiligung des Personalrats.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätzen, nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A. Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG, 511 ZPO statthafte Berufung der Klägerin ist formgerecht und fristgemäß im Sinne von § 64 Abs. 6, § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG – vorliegend iVm. § 66 Abs. 1 Satz 3 ArbGG – §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO eingelegt und begründet worden. Die Berufung ist daher zulässig.

B. Die Berufung ist teilweise begründet.

I. Soweit sich die Klägerin gegen die Abweisung des Antrags zu 1. richtet, ist die Berufung insoweit begründet, als der Klägerin ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. 7.236,90 EUR zusteht.

1. Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG eröffnet.

a. Bewerber iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG ist, wer eine Bewerbung beim Arbeitgeber eingereicht hat (BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 16). Dies hat die Klägerin getan.

b. Die Klägerin hat den Bewerberstatus auch nicht verloren.

aa. Zwar kommt die Benachteiligung als Bewerber grundsätzlich nur in Betracht, wenn im Zeitpunkt der Besetzungsentscheidung die Bewerbung bereits vorlag (Schleusener in Schleusener/Suckow/Plum AGG 6. Aufl. § 6 Rn. 15 mwN). Insoweit spricht auch vieles dafür, dass der Status als Bewerber iSd. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG endet, wenn die Bewerbung vor Abschluss des Auswahlverfahrens aus freien Stücken zurückgenommen wird. Da die unmittelbare Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 1 AGG allein in der Nichteinstellung aufgrund einer Entscheidung im Auswahlverfahren zulasten des Bewerbers liegt, kommt eine Benachteiligung nicht in Betracht, wenn eine Auswahlentscheidung zulasten des (ehemaligen) Bewerbers in Ermangelung einer Bewerbung gar nicht mehr getroffen werden kann.

bb. Vorliegend hat die Klägerin aber ihre Bewerbung nicht vor Ende des Auswahlverfahrens zurückgenommen. Vielmehr hatte die Beklagte bereits eine Auswahlentscheidung zulasten der Klägerin getroffen, aufgrund derer die Klägerin nicht eingestellt worden ist.

(1) Die Beklagte hatte der Klägerin bereits mit Schreiben vom 23. April 2020 mitgeteilt, dass die Bewerbung nicht weiter im Auswahlverfahren habe berücksichtigt werden können und man sich für andere Bewerberinnen bzw. Bewerber entschieden habe. Dies hat die Beklagte im Schreiben vom 11. Mai 2022 wie folgt ergänzt: „Mit der Bekanntgabe des Ergebnisses des Auswahlverfahrens durch Schreiben vom 23. April 2020 ist dieses Auswahlverfahren grundsätzlich abgeschlossen. Von den ausgeschriebenen Stellen konnte nur eine Stelle besetzt werden.“ Damit hat die Beklagte deutlich gemacht, dass das Auswahlverfahren abgeschlossen und zulasten der Klägerin entschieden worden ist.

(2) Die spätere Rücknahme der Bewerbung der Klägerin ist ersichtlich auch nur aufgrund der Neuausschreibung der nicht besetzten Stellen erfolgt, im Rahmen derer sich die Klägerin neu bei der Beklagte beworben hat. Dies stellt nicht in Frage, dass das Bewerberverfahren, in dessen Rahmen sich die Klägerin mit Schreiben vom 24. Februar 2020 beworben hat, mit der Entscheidung gegen die Einstellung der Klägerin unter dem 23. April 2020 bereits abgeschlossen war und eine Entscheidung getroffen worden ist, die Klägerin als Ergebnis des Auswahlverfahrens nicht einzustellen. Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Klägerin ein einstweiliges Verfügungsverfahren gerichtet auf vorläufige Nichtbesetzung der ausgeschriebenen Stellen angestrengt hat. Dies Verfahren war gerade erforderlich, weil die Beklagte bereits eine Entscheidung getroffen hatte, die Klägerin nicht einzustellen. Die entsprechende bereits vorliegende Benachteiligung aufgrund der Entscheidung zur Nichteinstellung wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass aufgrund eines neuen Bewerberverfahrens die zuvor nicht besetzen Stellen erneut ausgeschrieben worden sind. Ebensowenig wird die unter dem 23. April 2020 erfolgte Entscheidung zur Nichteinstellung der Klägerin dadurch aufgehoben, dass die Beklagte unter dem 17. August 2020 die Klägerin zu einem Praxistest und Vorstellungsgespräch eingeladen hat. Unabhängig davon, dass diese Entscheidung möglicherweise auch unter dem Eindruck des unter dem 04. Juli 2020 geltenden gemachten Entschädigungsbegehrens getroffen wurde, war zu diesem Zeitpunkt die (erste) Entscheidung zur Nichteinstellung der Klägerin bereits gefallen. Diese wird nicht dadurch ausgeglichen, dass der Klägerin nunmehr die Gelegenheit gegeben wurde, an einem Auswahlprozess teilzunehmen, der aufgrund einer neuen Entscheidung der Beklagten zu einer späteren Einstellung der Klägerin führen kann.

2. Die Klägerin hat eine Benachteiligung iSd. § 7 Abs. 1 AGG iVm. § 3 Abs. 1 AGG wegen eines Grundes nach § 1 AGG erfahren hat, indem sie bei der Beklagten nicht eingestellt worden ist. Soweit es um eine – hier allein in Betracht kommende – unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG an den Grund anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursächlichkeit genügt (BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 33 mwN).

a. Eine Benachteiligung iSd. § 7 Abs. 1 AGG iVm. § 3 Abs. 1 AGG wegen eines Grundes nach § 1 AGG ist indiziert und von der Beklagten nicht widerlegt worden. Die Kammer musste davon ausgehen, dass die Klägerin auch wegen des Merkmals der (Schwer)behinderung nicht eingestellt worden ist. Demgegenüber gibt es keinerlei Anhaltspunkte, dass die Klägerin eine Benachteiligung wegen ihres Alters erfahren hat.

b. § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat (BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn. 34; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 51).

c. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen aufstellen, grundsätzlich die – vom Arbeitgeber widerlegbare – Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass der erfolglose schwerbehinderte Bewerber die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen der (Schwer)Behinderung erfahren hat (st. Rspr., vgl. etwa BAG 23. Januar 2020 – 8 AZR 484/18 – Rn 37; BAG 16. Mai 2019 – 8 AZR 315/18 – Rn. 22; BAG 28. September 2017 – 8 AZR 492/16 – Rn. 26 mwN).

aa. Vorliegend hat die Beklagte entgegen § 165 SGB IX die Klägerin nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

(1) Nach § 165 Satz 3 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die sich um einen Arbeitsplatz bei einem öffentlichen Arbeitgeber beworben haben, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen Nach § 165 Satz 4 SGB IX ist eine Einladung nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.

(2) Nach diesen Maßstäben hätte die Klägerin vor der ersten Auswahlentscheidung und Absage an die Klägerin zu einem Vorstellungsgespräch geladen werden müssen. Die Klägerin war nicht offensichtlich ungeeignet.

(a) Die Klägerin erfüllte die zwingenden Qualifikationserfordernisse der Stellenausschreibung. Dies ist unstreitig.

(b) Aus dem Bewerbungsschreiben der Klägerin lässt sich die Erfüllung der Qualifikationserfordernisse auch entnehmen. Die Beklagte war lediglich der Auffassung, eine Einladung könne unterbleiben, weil – insoweit entgegen der Stellenausschreibung – dem Bewerbungsschreiben der Klägerin kein Nachweis mehrjähriger berufspraktischer Erfahrungen in der stenografischen Sitzungsprotokollierung beigefügt war. Die Einladung darf aber nur dann unterbleiben, wenn der Bewerber diese Voraussetzungen offensichtlich, also unzweifelhaft verfehlt (BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 -). Zwar muss der öffentliche Arbeitgeber bereits im Verlauf des Auswahlverfahrens prüfen und entscheiden können, ob er einen schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einladen muss oder ob er von der Verpflichtung zur Einladung befreit ist (BAG 11. August 2016 – 8 AZR 375/15 – Rn. 38). Vorliegend hätten Zweifel an dem Vorliegen der Qualifikation aber durch eine einfache Aufforderung an die Klägerin, einen Nachweis einzureichen, beseitigt werden können. Die Beklagte konnte deswegen eine offensichtliche Ungeeignetheit der Klägerin nicht einfach unterstellen.

c. Die Vermutungswirkung hat die Beklagte nicht widerlegt.

aa. Die Beklagte hat zur Entkräftung der Vermutungswirkung darauf verwiesen, dass sie der Klägerin – nach Auffassung der Beklagten im laufenden Bewerbungsverfahren – wiederholt Möglichkeiten zur Vorstellung gegeben hat, die die Klägerin aber nicht wahrgenommen habe.

bb. Es kann offenbleiben, ob nach der ersten Ablehnung ausgesprochene Einladungen zu Vorstellungsgesprächen generell die Vermutungswirkung nicht rückwirkend entfallen lassen können (so BAG 22. August 2013 – 8 AZR 563/12 – Rn. 53). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte die Klägerin nicht nur erst nach der der Klägerin erteilten Absage, sondern sogar erst nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 04. Juli 2020 einen Entschädigungsanspruch geltend gemacht hat, zu einem Vorstellungsgespräch geladen hat. In diesem Fall kann die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch das Indiz nicht entfallen lassen. Vielmehr liegt in diesem Fall die Annahme nicht fern, dass hiermit vor allem auf den geltenden gemachten Anspruch reagiert werden soll.

bb. Da die Indizwirkung vorliegend bereits durch den Verstoß gegen § 165 Satz 3 SGB IX ausgelöst worden ist, kann offenbleiben, ob weitere Indizien vorliegen.

2. Aufgrund der Nichteinstellung der Klägerin war eine Entschädigung in Höhe von 7.236,90 EUR festzusetzen.

a. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG hat eine Doppelfunktion: Sie dient einerseits der vollen Schadenskompensation und andererseits der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist. (vgl. EuGH 25. April 2013 – C-81/12 – [Asociaţia Accept] Rn. 63; BAG 28. Mail 2020 -8 AZR 170/19 – Rn. 18; BAG 25. Oktober 2018 – 8 AZR 501/14 – Rn. 111).

b. Der festgesetzte Betrag in Höhe von 7.236,90 EUR entspricht 1 ½ Bruttomonatsgehältern der EG 13 TVöD Bund Stufe 3.

aa. Dabei hat die Kammer zugunsten der Klägerin unterstellt, dass aufgrund ihrer vorherigen Tätigkeit als Stenografin eine „einschlägige Berufserfahrung“ iSd. § 16 Abs. 2 TVöD Bund vorliegt, die nach § 16 Abs. 2 TVöD Bund zur Erfahrungsstufe 3 führt. Allerdings war nicht von der EG 14 TVöD Bund auszugehen, da nach den unwidersprochenen Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 19. Oktober 2022 sich das Einstiegsgehalt nach der EG 13 TVöD Bund bemisst.

bb. Mit diesem Betrag wird die Klägerin angemessen für den durch die unzulässige Diskriminierung – ausschließlich – wegen der (Schwer)Behinderung erlittenen immateriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zugleich auch erforderlich, aber auch ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da es auf ein Verschulden nicht ankommt, können Gesichtspunkte, die mit einer etwaigen Abwesenheit oder einem geringen Grad von Verschulden zusammenhängen, nicht mindernd bei der Bemessung der Entschädigung berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite sind aber auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden der Beklagten belegen, weshalb auch keine Veranlassung besteht, die Entschädigung höher festzusetzen (vgl. für einen vergleichbaren Fall: BAG 28. Mai 2020 – 8 AZR 170/19 – Rn 39). Ob die Kappungsgrenze des § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG vorliegend greift, bedarf deswegen keiner Entscheidung.

3. Der Anspruch ist auch nicht verfallen.

a. Die Klägerin hat ihren Anspruch mit Schreiben vom 04. Juli 2020 rechtzeitig innerhalb der Frist des § 15 Abs. 4 AGG geltend gemacht. Zwar hat die Beklagte behauptet, das Ablehnungsschreiben der Beklagten sei der Klägerin vor dem 04. Mai 2020 zugegangen, sie hat diesen Vortrag aber nicht unter Beweis gestellt. Da der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen hat, wann die Frist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG in Lauf gesetzt worden ist (Plum in Schleusener/Suckow/Plum AGG 6. Aufl. § 15 Rn. 124 mwN) war entsprechend dem Vortrag der Klägerin von einem Zugang am 04. Mai 2020 auszugehen.

b. Die Klägerin hat auch die Frist des § 61b Abs. 1 ArbGG gewahrt. Die Frist wird unter Berücksichtigung von § 167 ZPO durch Eingang der Klage bei Gericht gewahrt (GMP/Schleusener 10. Aufl. ArbGG § 61b Rn. 6), wobei vorliegend zugunsten der Klägerin § 193 BGB greift, da der 04. Oktober 2020 auf einen Sonntag fiel.

4. Der Zinsausspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1 BGB, 291 BGB.

II. Der Antrag zu 2. ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf den Ersatz sämtlicher ihr entstehende Kosten der Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit der Bewerbung vom 24.02.2020 aus § 15 Abs. 1 AGG. Wer die Kosten der Rechtsverfolgung zu tragen hat, bestimmt sich nach den prozessualen Vorschriften des § 12a ArbGG und der §§ 91 ff. ZPO, die in ihrem Anwendungsbereich eine abschließende Regelung enthalten.

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten. Der Anspruch ist nach § 12a ArbGG ausgeschlossen.

a. § 12a ArbGG schließt nicht nur den prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiellrechtlichen Kostenerstattungsanspruch, der als Schadensersatzanspruch entstanden ist, und damit auch vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten und Beitreibungskosten aus (BAG 28. November 2019 – 8 AZR 293/18 – Rn. 20; GK-ArbGG/Schleusener § 12a Rn. 15 mwN).

b. § 12a ArbGG gilt uneingeschränkt auch für Klage nach dem AGG (GMP/Künzl ArbGG 10. Aufl. § 12a Rn. 6; Plum in Schleusener/Suckow/Plum AGG 6. Aufl. § 15 Rn. 18; GK-ArbGG/Schleusener § 12a Rn. 18). Etwas Anderes lässt sich – bezogen auf eine Benachteiligung wegen einer Behinderung – auch nicht aus der RL 2000/78/EG im Wege einer eurorechtskonformen Auslegung herleiten, denn das Prozessrecht wird bereits nicht von dem Geltungsbereich der Richtlinie erfasst. Auch die weiteren dem AGG zugrunde liegenden Richtlinien RL 2000/43/EG und RL 2006/54/EG regeln nur das materielle Recht. Wie dieses durchgesetzt werden muss, bleibt dem nationalen Verfahrensrecht überlassen (GMP/ Künzl ArbGG 10. Aufl. § 12a Rz. 6; GK-ArbGG/Schleusener § 12a Rn. 18).

2. Aus demselben Grund ergibt sich aus § 15 Abs. 1 AGG auch kein Anspruch auf Ersatz gerichtlicher Rechtsverfolgungskosten entgegen den Regelungen des § 12a ArbGG und der §§ 91 ff. ZPO. Auch bezogen auf den Ausschluss der erstinstanzlichen Erstattung von Kosten nach § 12a ArbGG ergeben sich keine europarechtlichen Bedenken. Beschäftigte, die eine Klage nach dem AGG erheben, werden auch nicht gegenüber anderen benachteiligt, weil der Ausschluss der Erstattung alle Personen betrifft, die ihre Rechte vor dem Arbeitsgericht im Urteilsverfahren geltend machen (GMP/ Künzl ArbGG 10. Aufl. § 12a Rz. 6; GK-ArbGG/Schleusener § 12a Rn. 18). Hinsichtlich der weiteren Rechtsverfolgungskosten, insbesondere auch zweiter Instanz, enthalten insoweit die § 91 ff. ZPO abschließende Regelungen.

3. Erst Recht greift entgegen der Auffassung der Klägerin der Anspruch in Form von Schadenersatz für die Rechtsverfolgung nicht bereits auf einem niederschwelligen Niveau, nämlich auch dann, wenn ein Gericht eine Diskriminierung nach §§ 1, 3, 7 AGG verneint. Die Klägerin ist insoweit der Auffassung, der zu Unrecht nach dem AGG in Anspruch genommene sei verpflichtet, denjenigen, der ihn zu Unrecht in Anspruch genommen hat, hierfür die Kosten zu erstatten. Für diese – soweit ersichtlich singuläre – Rechtsauffassung gibt es keine rechtliche Grundlage.

C. Die Kostenentscheidung beruht soweit die Berufung der Klägerin zurückgewiesen worden ist auf § 97 Abs. 1 ZPO und im Übrigen auf § 92 Abs. 2 ZPO.

E. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor. Die Kammer hat bei der Entscheidung die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt. Dabei waren allein Umstände des Einzelfalls entscheidend.

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