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Unwirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung – Arbeitsplatzwegfall

Streit um betriebsbedingte Kündigung und Leitungsposition

In einem aktuellen Gerichtsverfahren geht es um die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und die Frage, ob der gekündigte Mitarbeiter als leitender Angestellter anzusehen ist.

Die Hintergründe

Der Kläger, geboren 1964 und seit 1981 bei der beklagten Firma beschäftigt, war zuletzt verantwortlich für die Einkaufsabteilung. Er erhielt ein Bruttomonatsgehalt von 8.313,29 EUR und hatte die Prokura inne. Der Kläger war jedoch nicht berechtigt, Mitarbeiter einzustellen oder zu entlassen. Sein Gehalt lag deutlich über dem des Betriebsleiters und der Entwicklungsleiterin.

Insolvenzverfahren und Kündigung

Die Beklagte stellte 2020 einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Eigenverwaltung. Im Rahmen des Insolvenzplans wurden Personalabbau und weitere Maßnahmen beschlossen. Nach Abschluss eines Interessenausgleichs und eines Sozialplans wurde dem Kläger zum 31.07.2021 gekündigt, woraufhin er Kündigungsschutzklage einreichte.

Leitende Position?

Der Kläger bestreitet, nur für den strategischen Einkauf mit Schwerpunkt China zuständig gewesen zu sein, und gibt an, für das gesamte Einkaufsvolumen verantwortlich gewesen zu sein. Er betont seine Unabhängigkeit bei Entscheidungen und Verhandlungen sowie seine Rolle bei wichtigen Verträgen und Projekten.

Ausgang offen

Das Gericht muss nun klären, ob der Kläger als leitender Angestellter anzusehen ist und ob die Kündigung rechtmäßig erfolgte. Die Entscheidung wird Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Falls haben.

[…]


Urteil im Volltext

ArbG Iserlohn – Az.: 5 Ca 690/21 – Urteil vom 14.04.2022

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30.04.2021 nicht aufgelöst worden ist.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Einkaufsleiter weiterzubeschäftigen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4. Der Streitwert wird auf 33.253,16 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und im Rahmen dessen insbesondere über die Tätigkeit des Klägers und die Frage, ob er leitender Angestellter ist und der Interessenausgleich auf ihn Anwendung findet. Zudem streiten sie über dessen Weiterbeschäftigung.

Der am 20.11.1964 geborene Kläger ist seit dem 07.09.1981 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 8.313,29 EUR. 2006 übernahm er die Verantwortung für die ganze Einkaufsabteilung mit sechs Mitarbeitern. Es existiert ein Arbeitsvertrag vom 01.07.1986 sowie eine Ergänzungsvereinbarung zu diesem vom 11.02.2018, in welcher die Kündigungsfrist für beide Parteien auf 12 Monate festgelegt wurde. Dem Kläger stand zudem ein Firmenfahrzeug, Mercedes Benz, zur Verfügung.

Der Kläger war Prokurist der Beklagten. Diese war als Gesamtprokura mit dem Geschäftsführer oder einem anderen Prokuristen ausgestaltet. Er war nicht berechtigt, Mitarbeiter einzustellen oder zu entlassen. Sein Gehalt lag um ca. 1.300,00 EUR höher als das des Betriebsleiters und ca. 3.200,00 EUR höher als das der Entwicklungsleiterin. Bis zum Schluss kommunizierte er auch nach außen als „Leiter Einkauf“, z. B. durch entsprechende Signaturen seiner E-Mails.

Er war regelmäßig von den Betriebsratswahlen mit Verweis auf seine Stellung als leitender Angestellter ausgeschlossen. Einige seiner Aufgaben waren die Vertragsgestaltung, AGB, Garantie- und Gewährleistungsbedingungen und -bewertungen, sowie die Entscheidung über Gewährleistungs- und Garantiefälle, betriebliche Re-Organisation, Betreuung von Großkundenprojekten A, B, C . Er unterstützte die Geschäftsführung und den Vertrieb in vertraglichen Angelegenheiten. AGB, EKB und Garantiebedingungen ergänzte und überarbeitete er stets. Zu seinen Verantwortungsbereichen zählten insbesondere:

  • Entwicklung und Verfolgung der Beschaffungsstrategien für die Kernwarengruppen
  • Lieferantenauswahl, Lieferantenentwicklung und Beziehungspflege
  • Führung von Einkaufsverhandlungen und Ausarbeitung der Verträge
  • Analyse und Bewertung der Lieferantenumsätze
  • Führung der Jahresgespräche
  • Koordination der Zeichnungsteile zwischen Entwicklungsabteilung und den Lieferanten
  • Mitarbeit in Projekt- und Arbeitsgruppen im Entwicklungsumfeld
  • Umsetzung und Erreichen der Qualitätsziele
  • Unterstützung bei der Analyse von Schwachstellen an Produkten und Qualitätsprozessen in der gesamten Produktherstellungskette
  • Aufbau und Führung des Reklamationsmanagements
  • Fehler- und Ursachenanalysen sowie Bewertung von Garantie- und Gewährleistungsforderungen
  • Aufbau und Weiterentwicklung des Managementsystems nach DIN ISO 9001 Unterstützung bei internen und externen Audits
  • Unterstützung der Geschäftsführung bei Managementbewertungen und Beratung der Führungskräfte in Qualitätsfragen

Er berichtete unmittelbar an die Geschäftsleitung. Er führte jährlich das Management Review für die Gruppe D, E und F durch und schrieb sie fort.

Die Geschäftsleitung ist seiner Entscheidung in der Regel ohne Einzelfallprüfung gefolgt. Er war bevollmächtigt, dann auch das Freigabezeichen der Geschäftsführung zu setzten. Bis zuletzt analysierte er die Lieferanten- und Einkaufsumsätze und berichtete der Geschäftsleitung quartalsweise. Seinen letzten Einkaufsbericht stellte er Ende des I. Quartals 2021 vor.

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit ausschließlich der Auszubildenden. Ein Betriebsrat besteht. Am 03.08.2020 stellte die Beklagte einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und auf Anordnung der Eigenverwaltung. Mit Beschluss vom 03.08.2021 eröffnete das Amtsgericht Hagen (Az.XXX IN 72/20) mit Wirkung vom selben Tage das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten und ordnete die Eigenverwaltung an. Zum Sachwalter wurde Rechtsanwalt G. bestellt. Am 29.04.2021 wurde das Hauptverfahren beim Amtsgericht Hagen eröffnet. Maßnahmen im Rahmen des Insolvenzplans waren neben Personalabbau die Bereinigung des Portfolios, die Verkleinerung ausländischer Vertriebsgesellschaften, eine Effizienzsteigerung durch die Einführung Konfigurator/Update PSI, Produktneuentwicklung, verbessertes Marketing und Bestandsabbau.

Die geplante Betriebsänderung erörterten die Betriebsparteien in gemeinsamen Sitzungen am 27. und 28.04.2021. Der Betriebsrat wurde umfassend informiert. Mit Schreiben vom 29.04.2021 wurde er schriftlich zur beabsichtigen Kündigung angehört. Hinsichtlich des Inhalts des Anhörungsschreibens wird auf die Kopie derselben als Anlage B3 zum Schriftsatz der Beklagten vom 30.08.2021 Bezug genommen.

Bezüglich des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG sind ihm am 27.04.2021 schriftliche Unterlagen übergeben worden. Im Gespräch vom selben Tage ist zwischen den Betriebsparteien vereinbart worden, dass es sich auch um Gespräche zum Konsultationsverfahren handele.

Am 29.04.2021 unterzeichneten die Betriebsparteien einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan. Den Geltungsbereich des Interessenausgleichs legten sie für alle Arbeitnehmer der D GmbH i. S. d. § 5 Abs. 1 BetrVG fest – ausgenommen wurden lediglich die leitenden Angestellten im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG. Der Interessenausgleich beinhaltet, dass insgesamt 33 Kündigungen ausgesprochen werden sollen, wobei die zu kündigenden Mitarbeiter unter Ziffer 4.1.1 des Interessenausgleichs im Rahmen einer Namensliste namentlich benannt sind. Die für 81 Mitarbeiter gebildeten 61 Vergleichsgruppen wurden im Einzelnen in Anlage 1 des Interessenausgleiches festgehalten. Unter 2.1.2. des Interessenausgleichs legten die Betriebsparteien fest, in Einkauf und Beschaffung in der Abteilung Einkauf solle der Arbeitsplatz Strategischer Einkauf entfallen. Der Kläger ist unter der laufenden Nummer 9 in der Namensliste aufgeführt in der Vergleichsgruppe Strategischer Einkauf Schwerpunkt China, die er alleine besetzt. Eine Sozialauswahl i. e. S. fand daher nicht statt. Ebenfalls wurde im Interessenausgleich unter Ziffer 4. 2. festgehalten, dass Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für die betroffenen Arbeitnehmer nicht gegeben sind. Auch erklärte der Betriebsrat unter Ziffer 6.2.1 im Interessenausgleich, dass er über den Grund der Kündigungen ausreichend i. S. d. § 102 BetrVG unterrichtet sei und den Kündigungen zustimme.

Nicht wegfallend oder neu zu besetzen waren die Stelle der Entwicklungsleitung und der Betriebsleitung, die von Frau H. und Herrn I. bereits seit 2020 besetzt sind.

Die Beklagte erstattete vor Ausspruch der Kündigung unter dem 29.04.2021 eine Massenentlassungsanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit J. Diese bestätigte den Eingang unter dem 30.04.2021 und teilte mit, dass die Entlassungssperre am 30.05.2021 ende.

Mit Schreiben vom 30.04.2021, dem Kläger am selben Tage persönlich übergeben, erklärte die Beklagte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.07.2021, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin.

Gegen diese Kündigung hat der Kläger am 05.05.2021 Kündigungsschutzklage beim erkennenden Gericht eingereicht, welche der Beklagten am 17.05.2021 zugestellt worden ist.

Er behauptet, er sei nicht Leiter des strategischen Einkaufs gewesen, sondern Leiter des gesamten Einkaufs. Insbesondere habe es den Scherpunkt China nicht gegeben. Das dortige Einkaufsvolumen stelle gemessen am Gesamteinkauf nur einen Anteil unter 10 % dar. 2020 seien es unter Berücksichtigung eines Gesamtvolumens von 3.372.000,00 EUR 9,1 % gewesen, bei einem Einkaufsanteil China von 305.385,00 EUR. 2019 seien es bei einem Gesamtvolumen von 7.118.000,00 EUR 9,9 % bei einem Anteil des Bereichs China von 701.513,00 EUR gewesen. Er habe ein Einkaufsvolumen bis 10.000.000,00 EUR im Jahr zu verantworten gehabt. 2014 habe es bei 10.108.000,00 EUR gelegen, 2015 bei 8.964.000,00 EUR, 2016 bei 9.197.000,00 EUR, 2017 bei 9.735.000,00 EUR, 2018 bei 8.226.000,00 EUR, 2019 bei 7.118.000,00 EUR und 2020 bei 3.372.000,00 EUR. Die Zahlen bestreitet die Beklagte mit Nichtwissen. Der Kläger behauptet, er habe Entscheidungen und Einkaufsverhandlungen im Wesentlichen frei von Weisungen getroffen worden. Der ehemalige Geschäftsführer K. habe ihm gegenüber erklärt, er selbst habe „keine Ahnung vom Beschaffen und Einkaufen“. Der Kläger „mache das schon richtig“ und habe „frei Hand“. Der Kläger trägt vor, er habe die Verträge mit den Geschäftspartnern selbständig ausgehandelt, gestaltet und unterzeichnet, etwa mit der Firma M AG, der N und O.

Er habe für die Firma E Bürgschaften der D GmbH an die Hauptlieferanten gestellt. So sei mit einer Bürgschaft an die Firma P ein Einkaufsvolumen von 114.000,00 EUR abgesichert worden. Er habe mit der R GmbH den S Zertifizierungsvertrag, der bis heute Grundlage der Zusammenarbeit ist, geschlossen.

2014 habe er die Übernahme der F Technik GmbH angeregt und den Kauf durch die Gruppe empfohlen und Bestandsaufnahmen sowie die Bestandsbewertungen vorgenommen.

In kritischen Garantiefällen habe er die Anlagen vor Ort inspiziert und begutachtet, etwa in Katar und Doha. Nach Bewertung von Produkten und Vertragsverhältnissen habe er für Großkundenprojekte individuelle Garantievereinbarungen ausgearbeitet und diese bestätigt, u. a. für die T und die U University – College of student affairs. Auch habe er im März 2018 Baubesprechungen in Ottawa, Canada, gegenüber Bauherren und Generalunternehmer verantwortlich als Vertreter der Beklagten wahrgenommen. Hinsichtlich bemängelter Leuchten im Volumen von ca. 1 Mio. EUR habe er die Reklamation vor Ort zu einem Nachtragsangebot wandeln können. Im September 2018 habe er sämtliche UL Approbationen des Unternehmens vor dem Untergang durch Insolvenz retten können und diese auf die V GmbH, die spätere D GmbH, übertragen. Im Oktober 2019 habe er die F Mikroelektronik GmbH erfolgreich in die Rezertifizierung nach DIN EN 9001:2015 geführt.

Im Rahmen der Anmeldung der Insolvenz in Eigenverwaltung habe er das Freigabeverfahren für Bestellvorschläge entwickelt und die Anwendungen umgesetzt. Er habe direkt mit dem eingesetzten Insolvenzverwalter Dr. W. und der Kanzlei X bzw. Rechtsanwalt Y. zusammengearbeitet. Er habe bewertet, welche Bestellungen unter den Bedingungen des Insolvenzverfahrens freigegeben werden konnten. Sein Prüfungsergebnis habe er durch sein Freigabezeichen als Einkaufsleiter in der Bestellobligoliste festgelegt.

Noch im Mai und Juni 2021 habe er die Eigentumssicherung Z durchgeführt, gemeinsam mit der Kanzlei AA & Partner. Zur gleichen Zeit habe er die Eigentumsvorbehalte mit der Firma BB und weiteren Hauptlieferanten abgewickelt.

Für welche Projekte der Kläger zuständig gewesen sein soll und in welchem Umfang Abschlüsse getätigt worden sein sollen bestreitet die Prozessbevollmächtigte der Beklagten insgesamt mit Nichtwissen.

Der Kläger behauptet, der Kollege CC. sei verantwortlich für die Fertigungsplanung, Leiter der Arbeitsvorbereitung und PSI-Verantwortlicher gewesen.

Der Arbeitsbedarf des Klägers nicht entfallen. Arbeitsplätze im Bereich des strategischen und operativen Einkaufs seien insgesamt nicht entfallen – im Gegenteil sei die Abteilung neu organisiert worden mit mehreren Mitarbeitern. Der operative und strategische Einkauf werde nun von anderen Mitarbeitern erledigt. Auch könne er aufgrund der in seinem beruflichen Werdegang erworbenen umfassenden Kenntnisse und Erfahrungen als Betriebsleiter und Entwicklungsleiter arbeiten.

Er ist der Ansicht, er sei leitender Angestellter i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG, auf den der Interessenausgleich nicht anwendbar sei. Auch sei die Sozialauswahl grob fehlerhaft, da seine Vergleichsgruppe gar nicht existiere.

Ferner macht er geltend, die Kündigung sei aus allen sonstigen in Betracht kommenden Unwirksamkeitsgründen wie z. B. Verstoß gegen Treu und Glauben oder Verstoß gegen die guten Sitten unwirksam.

Er beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30.04.2021 nicht aufgelöst worden ist;

2. die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Einkaufsleiter weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, der Kläger sei als Leiter Strategischer Einkauf/QS bei der Beklagten beschäftigt gewesen. Leiter des operativen Einkaufs sei zuletzt CC. gewesen. Wesentliche Entscheidungen habe der Kläger nicht ohne die Geschäftsführung treffen können. Bei neuen Artikeln, Werkzeugen seien alle technischen Details von den Fachabteilungen im Vorfeld ausgearbeitet und mit den potentiellen Lieferanten geklärt worden. Dem Kläger hätten nur die kaufmännischen Verhandlungen oblegen. Entscheidungen über Investitionen wie Werkzeugkosten etc. seien von der Geschäftsführung getroffen worden. Der Kläger habe die Nachverhandlung von Preiserhöhungen durchgeführt, wenn die Kalkulation dies initiiert habe. Er sei zu den Themen befragt worden und habe sicherlich Empfehlungen abgegeben. Die Entscheidung habe jedoch die jeweilige Geschäftsführung getroffen.

Die Beklagte meint, der Kläger sei kein leitender Angestellter i. S. d. § 5 BetrVG gewesen. Seine Prokura sei unbedeutend gewesen.

Zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Klageschrift vom 05.05.2021 und die Schriftsätze des Klägers vom 27.05.2021, 07.10.2021, 08.10.2021, 03.11.2021, 08.12.2021, 04.04.2022, 11.04.2022 sowie die Schriftsätze der Beklagten vom 25.05.2021, 17.06.2021, 30.08.2021, 24.09.2021, 28.10.2021, 11.02.2022, 07.04.2022 nebst den dazugehörigen Anlagen und auf die Terminprotokolle verwiesen.

Entscheidungsgründe

A. Die zulässige Klage ist begründet.

I. Die Kündigung der Beklagten vom 30.04.2021 ist nicht wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst.

1. Die Kündigung gilt nicht schon gemäß § 4 S. 1 KSchG i. V. m. § 7 KSchG als von Anfang an rechtswirksam. Nach §§ 4 S. 1, 7 KSchG gilt eine Kündigung von Anfang an als rechtswirksam, wenn ihre Rechtsunwirksamkeit nicht innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung durch Erhebung der Kündigungsschutzklage geltend gemacht wird. Diese Frist hat er Kläger gewahrt. Die Erhebung der Klage erfolgt durch Zustellung der Klageschrift, §§ 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i. V. m. §§ 495, 253 Abs.1 ZPO. Die Zustellung an die Beklagte erfolgte am 17.05.2021 und somit innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung am 30.04.2021.

2. Es kann dahinstehen, ob der Kläger leitender Angestellter i. S. d. § 5 Abs. 3 BetrVG ist. In jedem Fall ist die Kündigung gemäß § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam, da sie gemäß § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt ist.

Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Die Kündigung bedarf nur dann einer sozialen Rechtfertigung nach § 1 KSchG, wenn der Arbeitgeber mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt und somit der Geltungsbereich des § 1 KSchG eröffnet ist, § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG.

a)Der Kläger ist seit dem 07.09.1981 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt über zehn Arbeitnehmer i. S. d. § 23 KSchG, sodass der Anwendungsbereich des § 1 KSchG eröffnet ist.

b)Die Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt gemäß § 1 Abs. 2 S. 1, 3 KSchG.

Gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG ist eine Kündigung unter anderem sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG verlangt im Fall der betriebsbedingten Kündigung, dass der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers ausreichend zu berücksichtigen hat. Ansonsten ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt. Dabei sind in die Sozialauswahl nach Abs. 3 S. 1 KSchG Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.

Dabei statuiert § 125 Abs. 1 InsO (als lex specialis gegenüber § 1 Abs. 5 KSchG) die Vermutung, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse die einer Weiterbeschäftigung in diesem Betrieb oder einer Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen entgegenstehen bedingt ist, wenn bei einer Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat namentlich bezeichnet sind. In diesem Fall kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer kann nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden; sie ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird, § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO.

aa)Ist der Kläger als leitender Angestellter zu qualifizieren, wäre der Interessenausgleich auf ihn bereits ausweislich dessen Anwendungsbereichs unter Ziffer 1 nicht anwendbar. Die Betriebsparteien haben dort ausdrücklich leitende Angestellte i. S. d. § 5 Abs. 3 BertrVG von der Anwendbarkeit ausgenommen. In diesem Falle könnte sich die Beklagte nicht auf die Fiktionswirkung des § 125 InsO berufen und es obläge ihr als Arbeitgeberin, den Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers im Einzelnen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (§ 1 Abs. 2 S. 4 KSchG). Genaue Gründe für den Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers hat sie jedoch nicht angegeben und sich allein auf den Interessenausgleich berufen.

bb)Wäre der Kläger kein leitender Angestellter, dann hat die Beklagte die Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Vermutungsbasis nicht hinreichend dargelegt. Dazu gehörten das Vorliegen einer Betriebsänderung i. S. d. § 111 S. 1 BetrVG, die für die Kündigung des Arbeitnehmers kausal war, sowie dessen ordnungsgemäße Bezeichnung im Interessenausgleich (BAG, Urteil v. 17.03.2016, 2 AZR 182/15; ArbG Bonn, Urteil v. 28.01.2021,1 Ca 1882/20).

Zwar liegt eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 S. 1 BetrVG durch den umfassenden Personalabbau vor, die Kammer kann jedoch nicht davon ausgehen, dass die im Interessenausgleich vom 29.04.2021 behandelte Betriebsänderung für die Kündigung des Klägers kausal war.

Zwar sind sich die Betriebsparteien ausweislich des Interessenausgleichs einig, dass der Abbau von 33 Arbeitsplätzen erforderlich sei. Sie benennen in 2.1.2. jedoch ausdrücklich, dass in der Abteilung Einkauf der Arbeitsplatz Strategischer Einkauf wegfallen soll. Er verhält sich jedoch gerade nicht zum Wegfall der Tätigkeit des Leiters des Einkaufs. Der Kläger hat unstreitig 2006 die Leitung des Einkaufs übernommen. Dem ist die Beklagte nicht entgegen getreten. Sie beruft sich darauf, dass der Kläger „zuletzt“ nicht mehr Leiter des Einkaufs gewesen sei. Zu welchem Zeitpunkt eine Änderung eingetreten sein soll, benennt sie nicht. Sie behauptet lediglich, dass die Stelle des Leiters des operativen Einkaufs zuletzt der Mitarbeiter CC. ausgeübt habe. Der Kläger wies demgegenüber zutreffend darauf hin, dass dieser im Interessenausgleich als Leiter der AV/PSI Verantwortlicher geführt wird und gerade nicht als Leiter des operativen Einkaufs. Es war dem Kläger bis zuletzt unbenommen, seine E-Mails mit der Signatur „Leiter Einkauf“ zu versenden. Sämtlichen Schriftwechsel nach außen führte er als Prokurist und Leiter Einkauf. Diesem Vorbringen des Klägers ist die Beklagte insgesamt nicht substantiiert entgegen getreten, sodass der Vortrag des Klägers, er sei Leiter des gesamten Einkaufs, als zugestanden gilt (§ 138 Abs. 2, 3 ZPO). Die Beklagte hätte zum Zeitpunkt des Aufgabenwechsel des Klägers, dem Widerspruch des Interessenausgleichs zur vermeintlichen Aufgabe des Mitarbeiters CC. und der Tatsache, wieso der Kläger weiterhin als „Leiter Einkauf“ auftreten durfte, obwohl ihm diese Aufgabe nicht mehr zugekommen sei, genaue Angaben machen müssen.

Mangels anzunehmender Kausalität der Betriebsänderung für den Wegfall des Arbeitsplatzes des Klägers kann dahinstehen, ob die Bildung der Vergleichsgruppe mit dem ebenfalls mangels konkreten Vortrages der Beklagten anzunehmenden (§ 138 Abs. 2, 3 ZPO) nicht existierenden Scherpunktes China grob fehlerhaft ist und auch die Betriebsratsanhörung (§ 102 BetrVG) mangels ordnungsgemäßer Tätigkeitsangabe des Klägers fehlerhaft – mit Folge der Unwirksamkeit der Kündigung – ist.

II.Der Kläger hat einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 27.02.1985 – GS 1/84 – AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) hat der gekündigte Arbeitnehmer einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch außer im Fall einer offensichtlich unwirksamen Kündigung mindestens dann, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsprozess ein obsiegendes Urteil erstreitet. Dieser Beschäftigungsanspruch ist abzuleiten aus den §§ 611, 613,242 BGB, Art. 1 und 2 GG. Ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers ist grundsätzlich nur bis zur Entscheidung der ersten Instanz im Kündigungsschutzprozess anzuerkennen. Diese Interessenlage ändert sich dann, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess ein obsiegendes Urteil erstreitet. In diesem Fall kann die Ungewissheit über den endgültigen Prozessausgang für sich allein ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht mehr begründen. Will der Arbeitgeber auch für diesen Fall die Beschäftigung verweigern, so muss er zusätzliche Gründe anführen, aus denen sich sein überwiegendes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers ergibt.

Solche zusätzlichen Gründe hat die Beklagte nicht vorgebracht. Daher überwiegt angesichts der rechtsunwirksamen Kündigung das Interesse des Klägers an seiner Weiterbeschäftigung.

B.Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO. Als unterliegende Partei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

C.Der Streitwert ist gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Hinsichtlich des Kündigungsschutzantrages ist er mit dem Bruttogehalt für ein dreiviertel Jahr und hinsichtlich des Weiterbeschäftigungsantrages mit dem Bruttogehalt für einen Monat bemessen worden.

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