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Urlaubsabgeltung nach mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit

Verfall des Anspruchs nach 15 Monaten

Sächsisches Landesarbeitsgericht – Az.: 5 Sa 289/11 – Urteil vom 11.07.2012

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 23.03.2011 – 4 Ca 3439/10 – teilweise, unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen, abgeändert und insgesamt wie folgt gefasst:

a) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 164,83 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2010 zu zahlen.

b) Die Klage wird im Übrigen

abgewiesen.

2. Die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 23.03.2011 – 4 Ca 3439/10 – wird zurückgewiesen.

3. Der Kläger trägt 93/100, die Beklagte 7/100 der Kosten des Rechtsstreits.

4. Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger für 2008, 2009 und 2010 Urlaubsabgeltung für insgesamt 79 Arbeitstage beanspruchen kann.

Der am … 1970 geborene Kläger war bei der Beklagten vom 20.05.2003 bis 31.08.2010 als Lagerist im … in … beschäftigt. Die einzelnen Arbeitsbedingungen vereinbarten die Parteien mit dem Arbeitsvertrag vom 03.01.2004 (Bl. 31 ff. d. A.). Nach § 9 des Arbeitsvertrages war die Geltung der „jeweils gültigen Tarifverträge für die Arbeitnehmer in den sächsischen Betrieben des Groß- und Außenhandels“ vereinbart. Danach war auf das Arbeitsverhältnis der Parteien u. a. der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/innen in den sächsischen Betrieben des Groß- und Außenhandels und der Verbundgruppen vom 01.09.2008 (im Folgenden: MTV) anzuwenden. Der Kläger hätte einen jährlichen Urlaubsanspruch von 29 Arbeitstagen. Das vereinbarte Bruttogehalt betrug zuletzt € 1.900,00.

Der Kläger war vom 29.07.2008 bis 31.08.2010 arbeitsunfähig krank.

2008 wurden dem Kläger acht Urlaubstage gewährt.

Die Vergütung für einen Urlaubstag beträgt € 87,69 brutto.

Die Beklagte bezahlte gemäß der Entgeltabrechnung vom 30.09.2010 (Bl. 102 f. d. A.) Urlaubsabgeltung in Höhe von insgesamt € 4.018,56 brutto. Die Urlaubsabgeltung bezieht sich nach der von der Beklagten vorgelegten Aufteilung (Bl. 101 d. A.) auf Urlaubsansprüche aus den Jahren 2008, 2009 und 2010.

Auf der Grundlage der Entgeltabrechnung vom 31.01.2011 (Bl. 24 d. A.) bezahlte die Beklagte weitere Urlaubsabgeltung in Höhe von € 524,16 brutto.

Mit Schreiben vom 25.10.2010 (Bl. 12 d. A.) machte der Kläger gegenüber der Beklagten Urlaubsabgeltung in Höhe von € 2.908,95 brutto geltend.

Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, dass bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgende Resturlaubsansprüche bestanden hätten:

– 2008: 21 Tage

– 2009: 29 Tage

– 2010: 29 Tage.

Bei einem Verdienst von € 87,69 brutto täglich ergebe sich für insgesamt 79 Urlaubstage ein Abgeltungsanspruch in Höhe von € 6.927,51 brutto. Dieser Betrag mindere sich durch die zwischenzeitlichen Zahlungen der Beklagten. Der Urlaubsabgeltungsanspruch für 2010 verringere sich nicht aufgrund des Ausscheidens des Klägers während des Urlaubsjahres. Die tarifvertragliche Regelung über eine Kürzung des Urlaubsanspruchs sei nichtig. Urlaubsansprüche für 2008 und 2009 seien nicht verfallen. Der Urlaubsabgeltungsanspruch sei erst bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig. Aufgrund der Arbeitsunfähigkeit habe der Kläger Urlaubsansprüche nicht nehmen können.

Der Kläger hat erstinstanzlich folgenden Klagantrag gestellt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 2.384,79 brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2010 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass der Kläger keinen Anspruch auf Urlaubsabgeltung habe. Für 2010 habe der Kläger keinen Urlaubsanspruch in Höhe von 29 Tagen erworben. Aufgrund tarifvertraglicher Bestimmungen ergebe sich aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Anspruch nur im Umfang von 8/12, damit in Höhe von 19 Urlaubstagen. Die tarifvertragliche Regelung sei nicht nichtig. 13 Tage habe die Beklagte bereits abgegolten, die Abgeltung von restlichen 6 Tagen erfolge mit der Gehaltsabrechnung für Januar 2010. Allenfalls ergebe sich ein Urlaubsanspruch für einen weiteren Tag. Urlaubsansprüche für 2008 und 2009 seien nicht abzugelten. Der Urlaubsanspruch für 2008 sei am 31.05.2009, der Urlaubsanspruch für 2009 am 31.05.2010 erloschen. Die Ansprüche seien nicht innerhalb der tarifvertraglichen Ausschlussfrist gemäß § 19 Nr. 2 MTV schriftlich geltend gemacht worden. Der Urlaubsanspruch sei ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis. Damit sei die Ausschlussfristenregelung anwendbar.

Das Arbeitsgericht hat der Klage in Höhe von € 1.595,58 brutto stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger für 2008 für 21 Urlaubstage und für 2009 für 29 Urlaubstage Abgeltung beanspruchen könne. Für 2010 ergebe sich ein Urlaubsabgeltungsanspruch für 20 Urlaubstage. Das Arbeitsgericht hat die Klage in Bezug auf einen weitergehenden Urlaubsabgeltungsanspruch für 2010 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die tarifvertragliche Regelung wirksam sei. Der Gesamtanspruch in Höhe von € 6.138,30 brutto mindere sich um die Zahlungen der Beklagten in Höhe von € 4.018,56 brutto und € 524,16 brutto.

Das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 23.02.2011 – 4 Ca 3439/10 – wurde der Beklagten am 01.04.2011 zugestellt. Die Beklagte hat mit am gleichen Tag eingehendem Schriftsatz vom 02.05.2011 Berufung eingelegt und diese mit ebenfalls am gleichen Tag eingehendem Schriftsatz vom 01.06.2011 begründet.

Die Beklagte nimmt auf ihr erstinstanzliches Vorbringen Bezug und trägt zur Begründung der Berufung vor, dass der Kläger keinen Anspruch auf Urlaubsabgeltung habe. Die Urlaubsansprüche für 2008 und 2009 seien verfallen, ohne dass sich das Arbeitsgericht damit auseinandergesetzt habe. Der Urlaubsanspruch sei ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis. Die tarifvertragliche Ausschlussfristenregelung sei daher anzuwenden. Unbeachtet sei außerdem Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24.06.1970 geblieben. Danach sei ein ununterbrochener Anteil von mindestens zwei Wochen spätestens 18 Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben worden ist, zu gewähren. Damit sei für 2008 der komplette Resturlaub am 30.06.2010 verfallen.

Die Beklagte stellt folgenden Antrag:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 23.03.2011 – 4 Ca 3439/10 – wird teilweise abgeändert:

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Der Kläger beantragt, Zurückweisung der Berufung.

Der Kläger trägt vor, dass er nicht gehalten gewesen sei, während seiner Arbeitsunfähigkeit Urlaubsansprüche gemäß § 19 MTV geltend zu machen. Während einer Arbeitsunfähigkeit könne ein Arbeitnehmer von seiner Arbeitspflicht, auch nicht durch Urlaubsgewährung, befreit werden. Der Kläger sei daher gar nicht in der Lage gewesen, Urlaubsansprüche gegenüber der Beklagten geltend zu machen. Die Beklagte sei überhaupt nicht in der Lage gewesen, Urlaubsansprüche zu erfüllen.

Der Kläger trägt zur Begründung der Anschlussberufung vor, dass er Anspruch auf Urlaubsabgeltung für jedenfalls 6 weitere Urlaubstage aus 2010 habe. § 14 Abs. 3 MTV beziehe sich nur auf den übergesetzlichen Urlaub.

Der Kläger stellt zur Anschlussberufung folgenden Antrag:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Chemnitz vom 23.03.2011 – 4 Ca 3439/10 – wird teilweise abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger weitere € 789,21 brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 01.09.2010 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, Zurückweisung der Anschlussberufung.

Die Beklagte trägt zur Anschlussberufung des Klägers vor, dass die arbeitsgerichtliche Auffassung, dass der Kläger 2010 einen anteiligen Urlaubsanspruch von 20 Urlaubstagen erworben habe, zutreffend sei. Die tarifvertragliche Regelung sei nicht nichtig. Die tarifvertragliche Kürzung habe den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch nicht berührt.

Der Kläger stellt mit Schriftsatz vom 29.03.2012 folgende Klaganträge:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für das Urlaubsjahr 2008 weitere 8 Urlaubstage zu je € 87,69 brutto, also € 701,52 brutto, sowie für 13 abgegoltene Urlaubstage für das Jahr 2008 eine weitere Urlaubsabgeltung in Höhe von € 4,29 brutto, für das Urlaubsjahr 2009 weitere Urlaubstage zu je € 87,69 brutto, also € 789,21 brutto, sowie für 20 abgegoltene Urlaubstage für das Jahr 2009 eine weitere Urlaubsabgeltung in Höhe von € 6,60 brutto, für das Urlaubsjahr 2010 weitere 10 Urlaubstage zu je € 87,69 brutto, also € 876,90 brutto, sowie für 19 abgegoltene Urlaubstage für das Jahr 2010 eine weitere Urlaubsabgeltung in Höhe von € 6,27 brutto, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.09.2010 zu zahlen.

Hilfsweise stellt der Kläger folgenden Klagantrag: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger restliche Urlaubsabgeltung

für das Jahr 2008 in Höhe von € 633,12 brutto,

für das Jahr 2009 in Höhe von € 875,83 brutto und

für das Jahr 2010 in Höhe von € 875,83 brutto

nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beiderseits vorgelegten Schriftsätze, insbesondere vom 01.06., 12.07., 23.08.2011, 13.02.2012, 29.03.2012, 02.04.2012 und 29.05.2012 sowie auf die Erklärungen der Parteien in den Berufungsverhandlungen vom 15.02.2012 und vom 13.06.2012 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung ist zulässig und zum Teil begründet.

I.

1. Die Berufung ist zulässig.

a) Die Berufung ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG). Die Berufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1 und 2, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO).

b) Bedenken ergeben sich letztlich nicht im Hinblick darauf, dass die Beklagte sich in Bezug auf die Verurteilung zur Zahlung einer Urlaubsabgeltung für im Jahr 2010 erworbene Urlaubsansprüche nicht eigenständig mit den Urteilsgründen auseinandergesetzt hätte.

aa) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO hat die Berufungsbegründung die Bezeichnung der Umstände zu enthalten, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Die Berufungsbegründung muss deshalb auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen oder tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen, wenn es diese bekämpfen will. Für die erforderliche Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen der angefochtenen Entscheidung reicht es nicht aus, die tatsächliche oder rechtliche Würdigung durch den Erstrichter formelhaft zu rügen, lediglich auf erstinstanzliches Vorbringen zu verweisen oder dieses zu wiederholen (BAG, Urteil vom 10.02.2005 – 6 AZR 183/04 – NZA 2005, 597).

bb) Die arbeitsgerichtliche Entscheidung, die die zwischenzeitlichen Zahlungen der Beklagten einheitlich auf den sich auf mehreren Urteilsansprüchen aus verschiedenen Kalenderjahren beruhenden Urlaubsabgeltungsanspruch anrechnet und nicht den den jeweiligen Kalenderjahren zuzuordnenden Urlaubsansprüchen getrennt anrechnet, ermöglicht letztlich keine Bestimmung, für welches Kalenderjahr Urlaubsansprüche abzugelten bzw. vollständig oder teilweise aufgrund der zwischenzeitlichen Bezahlungen erfüllt sind. Eine Auseinandersetzung mit den Kalenderjahr bezogenen Urlaubsansprüchen ist daher nicht möglich. Der gegen das Bestehen seiner Urlaubsansprüche für das Kalenderjahr 2008 und 2009 gerichtete Berufungsangriff der Beklagten hat aufgrund der einheitlichen Anrechnung der Zahlung zwingend Auswirkungen auf das Bestehen restlicher Ansprüche in Bezug auf einen Urlaubabgeltungsanspruch für Urlaubsansprüche aus dem Kalenderjahr 2010.

II.

Die Berufung ist zum Teil begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf Urlaubsabgeltung in Höhe von € 164,83 brutto.

Abzugelten sind 29 im Kalenderjahr 2009 sowie 20 im Kalenderjahr 2010 erworbene Urlaubsansprüche. Im Kalenderjahr 2008 entstandene Urlaubsansprüche sind erloschen. Die zwischenzeitlichen Zahlungen der Beklagten führen zu einer Verminderung des Urlaubsabgeltungsanspruches.

Die weitergehende Klage ist auf die Berufung der Beklagten abzuweisen.

1. Gemäß § 14 Nr. 6 MTV, § 7 Abs. 4 BUrlG ist Urlaub abzugelten, wenn er wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann.

Abzugelten sind damit Urlaubsansprüche, die im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestanden haben. Urlaubsansprüche, die zuvor erloschen sind, können nicht mehr abgegolten werden.

a) Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 BUrlG muss der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Mit Ablauf des Urlaubsjahres bzw. im Fall der Übertragung mit Ablauf des Übertragungszeitraums entfällt der Urlaubsanspruch (BAG, Urteil vom 09.08.2011 – 9 AZR 425/10 – NZA 2012, 29). Nach der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts galt dies auch dann, wenn Urlaub wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum Ende des Übertragungszeitraumes genommen werden konnte (BAG, Urteil vom 21.06.2005 – 9 AZR 200/04 – AP Nr. 11 zu § 55 InsO).

b) Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen sei, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums auch dann erlischt, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben war und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses fortgedauert hat, weshalb er seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte. Einen Verfall vorsehende nationale Regelungen seien zwar grundsätzlich zulässig, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den Urlaub zu nehmen, was bei anhaltender Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit nicht der Fall sei (EuGH vom 20.01.2009 – C-350/06 – EzA Nr. 1 EG-Vertrag 1999 Richtlinie 2003/88).

Das Bundesarbeitsgericht hat in der Folge unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass der Anspruch auf Abgeltung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. § 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG sei deshalb gemeinschaftsrechtskonform fortzubilden (BAG, Urteil vom 24.03.2009 – 9 AZR 983/07 – AP Nr. 39 zu § 7 BUrlG). Von der richtlinienkonformen Fortbildung sei der sog. Mehrurlaubsanspruch grundsätzlich nicht erfasst. Einem Verfall dieses Teils des Urlaubs stehe Unionsrecht nicht entgegen. Allerdings müssten für einen Regelungswillen, der zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Ansprüchen unterscheidet, im Rahmen der Auslegung deutliche Anhaltspunkte bestehen. Die Regel sei „Gleichlauf“ der Ansprüche, die Ausnahme eine unterschiedliche rechtliche Folge (BAG, Urteil vom 04.05.2010 – 9 AZR 183/09 – NZA 2010, 1011; zur arbeitsvertraglichen Auslegung).

Am 22.11.2011 hat der Europäische Gerichtshof entschieden (C-214/10 – [KHS] – NZA 2011, 1333) entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG dahin auszulegen sei, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten (z. B. Tarifverträge) nicht entgegenstehe, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Der Anspruch eines während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub könne dem Urlaubszweck nur entsprechen, als der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreitet. Deshalb könne ein während mehrerer Jahre arbeitsunfähiger Arbeitnehmer nicht berechtigt sein, in diesem Zeitraum erworbene Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub unbegrenzt anzusammeln. Der Europäische Gerichtshof hat einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten für ausreichend gehalten.

c) Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen ist die in § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG geregelte Frist auf das durch das Unionsrecht gebotene Maß zu beschränken. § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG ist dahingehend richtlinienkonform auszulegen, dass Urlaubsansprüche bei anhaltender Arbeitsunfähigkeit wegen Erkrankung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfallen (Hess. LAG, Urteil vom 07.02.2012 – 19 Sa 818/11 – n. rkr.; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.12.2011 -10 Sa 19/11 – ArbR 2012, 22; Sächs. LAG, Urteil vom 22.03.2012 – 9 Sa 321/11 – n. rkr.; Bauer/von Medem, NZA 2012, 113).

2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergeben sich in Bezug auf die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.08.2010 bestehende Urlaubsansprüche folgende Feststellungen:

a) Urlaubsansprüche aus dem Kalenderjahr 2008 sind erloschen.

Der Kläger war seit 29.07.2008 arbeitsunfähig krank. Die Arbeitsunfähigkeit dauerte über das Kalenderjahr 2008 hinaus bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 31.08.2010 an. Eine Übertragung des Urlaubs erfolgte wirksam allerdings nur für die Dauer von 15 Monaten, damit bis zum 31.03.2010, so dass der Urlaubsanspruch erloschen ist.

b) Für das Kalenderjahr 2009 besteht ein Urlaubsanspruch von 29 Tagen.

aa) Der Urlaubsanspruch für 2009 betrug gemäß § 14 Nr. 8 MTV 29 Arbeitstage.

bb) Der Urlaubsanspruch war bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten noch nicht verfallen.

c) Für das Kalenderjahr 2010 ergibt sich entsprechend der arbeitsgerichtlichen Darstellung ein Urlaubsanspruch von 20 Arbeitstagen.

aa) Nach § 14 Nr. 3 MTV erhalten Arbeitnehmer, die im Lauf eines Kalenderjahres eintreten oder ausscheiden, je vollen Monat der Betriebszugehörigkeit 1/12 des Jahresurlaubs. Nach § 14 Nr. 6 MTV gelten allerdings im Übrigen die Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes. § 3 Abs. 1 BUrlG sieht einen Mindesturlaub von 24 Werktagen pro Kalenderjahr vor. Dieser Urlaubsanspruch kann nach erfüllter Wartezeit bei einem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis erst in der zweiten Jahreshälfte nicht verringert werden. Ein Teilurlaubsanspruch kann nicht entstehen (vgl. § 5 Abs. 1 c BUrlG). Aufgrund der Bezugnahme auf die gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich, dass das tarifvertragliche 12tel-Prinzip jedenfalls nicht gilt, wenn eine Unterschreitung des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs die Folge wäre (BAG, Urteil vom 24.10.2000 – 9 AZR 610/99 – AP Nr. 19 zu § 5 BUrlG).

bb) Vorliegend ergibt sich danach für das Kalenderjahr 2010 ein Urlaubsanspruch im uneingeschränkten Umfang des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs. Bei Anwendung des 12tel-Prinzips ergäbe sich ein geringerer Anspruch.

3. Die in den Kalenderjahren 2009 und 2010 entstandenen Urlaubsansprüche sind in Höhe von € 2.543,01 brutto bzw. € 1.753,80 abzugelten. Aufgrund der Zahlungen der Beklagten ergibt sich allerdings nur ein restlicher Anspruch in Höhe von € 164,83 brutto.

a) Die Höhe des zunächst entstandenen Urlaubsabgeltungsanspruches beträgt insgesamt € 4.296,81 brutto.

Grundlage der Abgeltung sind insgesamt 49 Urlaubstage. Unstreitig ist ein Urlaubstag im Rahmen der Urlaubsabgeltung mit € 87,69 brutto zu bewerten. Für den Urlaubsanspruch aus dem Kalenderjahr 2009 ergibt sich damit ein Teilanspruch in Höhe von € 2.543,01 brutto. Für den im Kalenderjahr 2010 entstandenen Urlaubsanspruch von 20 Tagen ergibt sich ein Teilanspruch in Höhe von € 1.753,80 brutto.

b) Der Urlaubsabgeltungsanspruch, soweit ihm Urlaubsansprüche aus dem Kalenderjahr 2009 zugrunde liegen, ist teilweise erfüllt (§ 362 Abs. 1 BGB).

aa) Die Tilgung der Schuld erfolgt insoweit nicht nach § 366 Abs. 1 BGB.

aaa) Gemäß § 366 Abs. 1 BGB wird diejenige Schuld getilgt, welche der Schuldner, der aus mehreren Schuldverhältnissen zu gleichartigen Leistungen verpflichtet ist, bei der Leistung bestimmt, wenn das Geleistete nicht zur Tilgung sämtlicher Schulden ausreicht.

bbb) Die Beklagte hat in Bezug auf die Zahlung in Höhe von € 4.018,56 brutto keine Leistungsbestimmung vorgenommen.

Die Beklagte hat auf der Grundlage der Gehaltsabrechnung vom 30.09.2010 eine Leistung vorgenommen, die zur Tilgung des Urlaubsabgeltungsanspruchs für Urlaubsansprüche aus den Kalenderjahren 2009 und 2010 nicht ausreicht. Die Beklagte hat überdies eine Aufteilung des Gesamtbetrages auf Urlaubsabgeltungsansprüche für 2008, 2009 und 2010 vorgenommen. Hieraus folgt allerdings keine Leistungsbestimmung im Sinn von § 366 Abs. 1 BGB. Unstreitig hat der Kläger bei Erhalt der Leistung keine Kenntnis von der internen Aufteilung der Beklagten erlangt. Die Beklagte hat erstmals in der Berufungsverhandlung vom 15.02.2012 die schriftlich niedergelegte Aufteilung offengelegt.

bb) Entsprechend der gesetzlichen Tilgungsreihenfolge nach § 366 Abs. 2 BGB erfolgt eine verhältnismäßige Aufteilung auf die auf die Urlaubsansprüche für 2009 und 2010 entfallende Urlaubsabgeltung. Urlaubsansprüche für 2008 sind nicht zu berücksichtigen, da im Zeitpunkt der Leistung der Beklagten insoweit keine Schuld mehr bestanden hat.

aaa) Gemäß § 366 Abs. 2 BGB wird die zunächst fällige Schuld, unter mehreren fälligen Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, unter mehreren gleich sicheren die dem Schuldner lästigere, unter mehreren gleichlästigen die ältere Schuld und bei gleichem Alter jede Schuld verhältnismäßig getilgt, wenn der Schuldner keine Leistungsbestimmung trifft.

bbb) Vorliegend verbleibt nur eine verhältnismäßige Tilgung.

aaaa) Auch unterschiedlich alte Schulden sind nicht festzustellen. Für das Alter einer Schuld ist nicht deren Fälligkeit maßgebend, sondern die Entstehungszeit. Zwar ergibt sich ein Anhaltspunkt, da Grundlage des Urlaubsabgeltungsanspruchs Urlaubsansprüche für das Kalenderjahr 2010 und – insoweit älter – für das Kalenderjahr 2009 sind. Allerdings geht es vorliegend nicht um die Erfüllung von Urlaubsansprüchen, sondern eines Urlaubsabgeltungsanspruches, der einheitlich erst bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31.08.2010 entstanden ist.

bbbb) In Bezug auf die Zahlung von € 4.018,56 brutto entfällt für die Abgeltung von Urlaubsansprüchen aus dem Kalenderjahr 2009 ein Anteil von 59,18 % und für die Abgeltung von Urlaubsansprüchen aus dem Kalenderjahr 2010 ein Anteil von 40,82 %. Dies folgt aus dem Verhältnis der beiden Einzelbeträge zum Gesamtanspruch von € 4.296,81. Mit diesen Verhältnissen ergibt sich für den auf das Kalenderjahr 2009 bezogenen Anspruch ein Anteil von € 2.378,18 und für den auf das Kalenderjahr 2010 bezogenen Anspruch ein Anteil von € 1.640,38.

cccc) Für den auf das Kalenderjahr 2009 bezogenen Urlaubsabgeltungsanspruch in Höhe von € 2.543,01 ist damit der verhältnisgemäße Betrag von € 2.378,18 anzurechnen, so dass ein Restbetrag in Höhe von € 164,83 brutto verbleibt.

dddd) Für den auf das Kalenderjahr 2010 entfallenden Urlaubsabgeltungsanspruch in Höhe von € 1.753,80 ergibt sich kein Restanspruch.

Unter Berücksichtigung der verhältnisgemäßen Anrechnung eines Betrages von € 1.640,38 ergibt sich zwar ein Restbetrag in Höhe von € 113,42. Dieser Betrag ist allerdings mit der weiteren Zahlung der Beklagten in Höhe von € 524,16 brutto getilgt worden. Insoweit hat die Beklagte eine Leistungsbestimmung gem. § 366 Abs. 1 BGB vorgenommen. Dies folgt aus der schriftsätzlichen Ankündigung vom 27.01.2011, mit der ein Ausgleich von 6 Urlaubstagen für 2010 angekündigt wird, sowie der Entgeltabrechnung für Januar 2011.

c) Der Anspruch ist gem. §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 2 BGB ab 01.09.2010 mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.

B.

Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet.

I.

Die Anschlussberufung ist zulässig.

Die Anschlussberufung ist statthaft (§ 524 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Anschlussberufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 524 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 ZPO).

II.

Die Anschlussberufung ist nicht begründet.

Der Urlaubsabgeltungsanspruch des Klägers erhöht sich nicht, weil ihm für das Kalenderjahr 2010 neben dem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch anteilig ein Mehrurlaubsanspruch im Umfang von weiteren 6 Tagen zustünde.

§ 14 Nr. 3 und Nr. 6 MTV bedürfen der Auslegung. Die Tarifvertragsparteien haben nach § 14 Nr. 3 MTV zwar das 12tel-Prinzip angeordnet, wenn ein Mitarbeiter im Lauf eines Kalenderjahres ausscheidet. Das 12tel-Prinzip bezieht sich dabei nicht auf den sog, Mehrurlaub, also den den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch übersteigenden Urlaubsanspruch, sondern auf den „Jahresurlaub“. Mit der Bezugnahme auf die Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes haben die Tarifvertragsparteien zugleich auf die §§ 3, 5 BUrlG verwiesen, die eine Überschreitung des gesetzlichen Mindesturlaubsanspruchs nur unter bestimmten Voraussetzungen vorsehen. Zusammengefasst ergibt sich, dass die Tarifvertragsparteien eine 12telung nur in den Fällen vorsehen, in denen weder der gesetzliche Mindesturlaubsanspruch unterschritten wird noch einer der in § 5 BUrlG geregelten Ausnahmetatbestände vorliegt.

Die Anschlussberufung des Klägers ist daher zurückzuweisen.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 92, 97 ZPO.

Die Kosten des Rechtsstreits sind vom Kläger zu 93/100 und von der Beklagten zu 7/100 zu tragen.

D.

Die Zulassung der Revision für beide Parteien beruht auf § 79 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

 

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