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Verhaltensbedingte Änderungskündigung – Abmahnungserfordernis

Komplizierter Fall um Datenschutz, Arbeitsrecht und Produktionslinien

In einem aktuellen Rechtsstreit ging es um die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Änderungskündigung. Der Kläger, seit 1991 bei dem Unternehmen beschäftigt und zuletzt in der Position eines Linienführers tätig, wurde von der Beklagten mehrfach im Jahr 2020 abgemahnt. Die Vorwürfe reichten von unterlassener Meldung eines Sirupverlusts über lückenhafte Kontrolle von Etiketten bis hin zur Missachtung von Abstandsregeln und Maskenpflicht während der Corona-Pandemie.

Als in einem Gespräch die mögliche Versetzung auf eine Stelle als Maschinenführer diskutiert wurde, trat ein weiteres Problem auf. Dabei ging es um das Fotografieren von Mitarbeitern bei Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften durch den Kläger selbst.

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Fotografieren von Mitarbeitern als Kündigungsgrund?

Im August 2020 fand ein Gespräch zwischen dem Kläger, seinem Betriebsratsvorsitzenden, seiner Vorgesetzten, dem Betriebsleiter und einem weiteren Mitarbeiter statt. Hierbei wurde das Verhalten des Klägers in Bezug auf Fotografieren von Mitarbeitern bei Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften thematisiert. Während die Beklagte angab, der Kläger habe zugegeben Mitarbeiter beim Einstieg in Maschinen ohne entsprechende Anstoßkappen fotografiert zu haben, behauptet der Kläger, er habe lediglich Fotos von Führungskräften bei Missachtung von Abstandsregeln und Maskenpflicht vorgebracht.

Die Beklagte hörte den Betriebsrat zur beabsichtigten Änderungskündigung des Klägers an, woraufhin dieser der Änderungskündigung widersprach. Daraufhin wurde dem Kläger die Änderungskündigung am 8. September 2020 zugestellt, die er mit der Begründung, das Filmen der Mitarbeiter stelle keine gravierende Pflichtverletzung dar, zurückwies.

Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein

Nachdem der Fall vor dem Arbeitsgericht Lübeck verhandelt wurde und dieses das Urteil zugunsten des Klägers fällte, legte die Beklagte Berufung ein. Das zuständige Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (Az.: 6 Sa 65/21) bestätigte jedoch in seinem Urteil vom 08.12.2021 die Entscheidung des Arbeitsgerichts Lübeck und wies die Berufung der Beklagten zurück.

Das Landesarbeitsgericht stützte seine Entscheidung darauf, dass das Fotografieren der Mitarbeiter nicht als gravierende Pflichtverletzung betrachtet werden könne, insbesondere da es keine konkreten Datenschutzverstöße gab. Zudem sei das Verhalten des Klägers angesichts seiner langen Betriebszugehörigkeit und der fehlenden einschlägigen Vorstrafen nicht als ausreichender Grund für eine Änderungskündigung anzusehen. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Somit bleibt es bei der Entscheidung des Arbeitsgerichts Lübeck, dass die verhaltensbedingte Änderungskündigung unwirksam ist und der Kläger in seiner bisherigen Funktion als Linienführer weiter arbeiten darf.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 6 Sa 65/21 – Urteil vom 08.12.2021

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 18.02.2021 – 3 Ca 1977/20 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer verhaltensbedingten Änderungskündigung.

Der am ….1967 geborene, verheiratete Kläger ist seit dem 18.03.1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt, zuletzt mit einem Bruttomonatsgehalt von 3.786,– EUR. Seit dem 15.06.2012 arbeitet er als Linienführer. In dieser Funktion hat der Kläger einen effizienten Betrieb der Linie sicher zu stellen sowie die Schichtführer durch fachliche Führung der Produktionsmitarbeiter in der Linie zu unterstützen und die Produktionsziele iRd. CCEAG / CCEP-Vorgabe zur Produktqualität, Arbeits- und Betriebssicherheit sowie Hygiene- und gesetzliche Vorschriften umzusetzen (Stellenbeschreibung gem. Anlage B 3 = Bl. 37 d.A.). Zu seinen Aufgaben gehört die detaillierte Koordination und Aufstellung des Linienteams sowie die Kommunikation mit Mitarbeitern und zwischen den Abteilungen. In fachlicher Hinsicht obliegt dem Kläger die Umsetzung des Produktionsplans, die Steuerung der Linie gemäß der vorgegebenen KPIs (Sicherheit, Qualität, SLE, Sirupverluste, EUR, WUR, Umsetzung der Sicherheits-, Qualitäts-, und Umweltrichtlinien der CCE AG / CCEP) sowie die Dokumentation von Produktionslinien, Daten, Anlagestörungen und Verlusten.

Im Jahr 2020 mahnte die Beklagte den Kläger mehrfach ab. Mit der ersten Abmahnung vom 02.04.2020 wirft sie ihm vor, einen Sirupverlust während der Produktion nicht gemeldet und dokumentiert zu haben (Anlage B 5 = Bl. 41 d. A.), mit der zweiten Abmahnung vom selben Tag die lückenhafte Kontrolle von Etiketten abgefüllter Flaschen (Anlage B 7 = Bl. 47 d.A.). In der Abmahnung vom 03.08.2020 hält sie dem Kläger vor, er habe im Gespräch mit anderen Mitarbeitern bei zu geringem Abstand keine Maske getragen (Anlage B 11 = Bl. 57 d.A.).

Am 24.08.2020 fand ein Gespräch zwischen dem Kläger, dem Betriebsratsvorsitzenden Herrn K., der damaligen Vorgesetzten des Klägers Frau A., dem Betriebsleiter Herrn B. sowie Herrn Bo. statt. In dem Gespräch ging es um Fehlverhalten des Klägers und eine mögliche Versetzung auf eine Stelle als Maschinenführer. Nach Darstellung der Beklagten erwähnte der Kläger im Zuge dieses Gesprächs, dass er Mitarbeiter bei Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften fotografiert habe. Nach Darstellung des Klägers habe er nur erklärt, dass er Fotos von Führungskräften besitze, die sich nicht an Abstandsregeln und die Maskenpflicht gehalten hätten.

Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 27.08.2020 (Bl. 33 d.A.) den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer beabsichtigten Änderungskündigung des Klägers an (Anlage B 2). In dem Anhörungsschreiben führte die Beklagte aus, sie wisse von einem Mitarbeiter, dass der Kläger tatsächlich Mitarbeiter dabei gefilmt habe, „als sie ohne entsprechende Anstoßkappen in eine Maschine einstiegen“.

Mit Schreiben vom 02.09.2020 ließ der Kläger der Beklagten über seine Gewerkschaft mitteilen, dass er tatsächlich keine Aufnahmen von Mitarbeitern gemacht habe. Mit der anderslautenden Behauptung habe er aufzuzeigen wollen, dass auch andere Beschäftigte, vor allem Vorgesetzte, sich nicht an sämtliche Vorgaben der Beklagten halten würden. Ihm sei nun bewusst, was eine solche Aussage auslösen könne und er bedaure dies im Nachhinein sehr.

Der Betriebsrat widersprach der geplanten Änderungskündigung am 03.09.2020.

Mit Schreiben vom 09.09.2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30.04.2021. Gleichzeitig bot sie ihm die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses als Produktionsmitarbeiter im Schichtdienst zu einem Bruttomonatsgehalt iHv. EUR 3.095,00 an. Im Übrigen sollte es bei den bisherigen arbeitsvertraglichen Regelungen bleiben. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage K 1 verwiesen.

Der Kläger nahm das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt an, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen nicht sozial ungerechtfertigt ist.

Mit am 25.09.2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz erhob der Kläger gegen die Änderungskündigung vom 09.09.2020 Änderungsschutzklage. Zur Begründung hat er ausgeführt, die bereits abgemahnten und damit „verbrauchten“ Vorwürfe könnten die Änderungskündigung nicht rechtfertigen. Tatsächlich habe er keine Aufnahmen von anderen Mitarbeitern gemacht. Seine Äußerungen in dem Gespräch am 24.08.2020 hätten sich ohnehin auf Verstöße anderer Vorgesetzter gegen die bei der Beklagten geltenden Hygienevorschriften bezogen. Die Behauptung habe ausschließlich dazu gedient, den Fokus in diesem Gespräch von ihm abzulenken.

Der Kläger hat zuletzt beantragt, festzustellen, dass die Änderung der Arbeitsbedingungen durch die Änderungskündigung vom 09.09.2020 sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, der Kläger habe – ohne einzugreifen – Mitarbeiter dabei aufgenommen, wie sie ohne die vorgeschriebene Sicherheitsausrüstung in Maschinen eingestiegen seien. Die Erklärung des Klägers, er habe diese Aussage lediglich getätigt, um von sich abzulenken, sei eine reine Schutzbehauptung. Der Kläger sei als Vorgesetzter ungeeignet. Die Beklagte hat dem Kläger die Fähigkeit abgesprochen, als Linienführer Mitarbeiter sicher anzuleiten. Sie hat geltend gemacht, sie habe mit der Änderungskündigung das gegenüber der Beendigungskündigung mildere Mittel gewählt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die bereits abgemahnten Verstöße könnten nicht mehr für eine Kündigung herangezogen werden. Der weitere Vortrag der Beklagten zu dem die Änderungskündigung begründenden Verhalten des Klägers sei unsubstantiiert. Der Kläger habe bestritten, Aufnahmen von anderen Mitarbeitern gemacht zu haben, und auch, dass dies von dem Zeugen L. beobachtet worden sei. Er habe darauf hingewiesen, dass der Vortrag der Beklagten derart unsubstantiiert gewesen sei, dass er sich darauf nicht habe einlassen können. Die Vernehmung des von der Beklagten benannten Zeugen L. wäre auf die Erhebung eines unzulässigen Ausforschungsbeweises hinausgelaufen.

Gegen das ihr am 11.03.2021 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte am 12.03.2021 Berufung eingelegt und diese am letzten Tag der bis zum 14.06.2021 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet.

Die Beklagte meint, das Arbeitsgericht habe die gebotene Zeugenvernehmung unterlassen. Der für den Ausspruch der Änderungskündigung relevante Tatbestand – das Fotografieren von Mitarbeitern bei Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften und das Nichteinschreiten gegen die Verstöße – sei eindeutig beschrieben und unter Beweis gestellt. Die Vernehmung des Zeugen L. hätte zu keiner Ausforschung geführt. Denn der Beklagten seien alle relevanten Details bekannt gewesen. Der Kläger habe am 13.08.2020 zwischen 13:15 und 13:30 Uhr den Mitarbeiter M. S. dabei gefilmt, wie dieser – ohne vorgeschriebene Schutzbekleidung (sog. Anstoßkappe für den Schutz des Kopfes gegen Kopfverletzungen) – an der Anlage 2 im Bereich des Vollgutladers zur Reparatur in die Maschine gestiegen sei. Aufgrund der eindeutigen Aussage des Zeugen gebe es „greifbare Anhaltspunkte“ für den behaupteten Sachverhalt. Der Kläger habe im Übrigen die Beobachtung des Zeugen zunächst bestätigt, indem er angegeben habe, andere Mitarbeiter und Vorgesetzte bei Verstößen fotografiert zu haben. Erst nachdem ihm klargeworden sei, dass sein Verhalten nicht rechtmäßig war, und ihm hieraus arbeitsrechtliche Konsequenzen erwachsen könnten, habe er behauptet, gar keine Fotos gemacht zu haben. Dabei handele es sich um eine Schutzbehauptung. Die Beklagte ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe seine Hinweispflicht verletzt. Es hätte die Beklagte auf die aus seiner Sicht bestehende Entscheidungsrelevanz hinweisen und ihr – zumindest im Rahmen der Kammerverhandlung – Gelegenheit zur Äußerung geben müssen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 18.02.2021 – 3 Ca 1977/20 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er bestreitet, die von der Beklagten behauptete Situation gefilmt zu haben. Der Mitarbeiter S. habe sich am 13.08.2020 zwischen 13:15 und 13:30 Uhr nicht im Bereich des Vollgutladers befunden. Er sei nicht ohne Anstoßkappe in die Maschine 2 eingestiegen. Der anderslautende neue Vortrag der Beklagten sei verspätet.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

I. Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 c) ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden, § 66 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO.

II. Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die zulässige Änderungsschutzklage (§ 4 Satz 2 KSchG) ist begründet. Die Änderung der Arbeitsbedingungen aufgrund der Änderungskündigung vom 09.09.2020 ist sozial ungerechtfertigt und daher rechtsunwirksam, § 2 Satz 1, § 1 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 1 Abs. 1 KSchG.

1. Eine Änderung der Arbeitsbedingungen ist sozial gerechtfertigt, wenn der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu den bisherigen Bedingungen Gründe in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers oder dringende betriebliche Gründe iSv. § 1 Abs. 2 KSchG entgegenstehen und die angebotenen geänderten Bedingungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen (KR-Kreft, 12. Aufl. § 2 KSchG Rn. 152 mwN).

Auch bei einer ordentlichen Änderungskündigung aufgrund von im Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Gründen ist regelmäßig eine einzelfallbezogene Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich. Die angebotenen Vertragsänderungen dürfen sich nicht weiter von deren Inhalt entfernen, als es zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist (BAG 18.05.2017 – 2 AZR 606/16 – Rn. 11; LAG Nürnberg 06.08.2012 – 2 Sa 643/11–; LAG München 13.04.2016 – 5 Sa 990/15 –; KR-Kreft, 12. Aufl. § 2 KSchG Rn. 151). Wie bei einer Beendigungskündigung bedarf es auch bei einer verhaltensbedingten Änderungskündigung grundsätzlich einer vorherigen Abmahnung (KR-Kreft § 2 KSchG Rn. 155 mwN.; ErfK/Oetker, 20. Aufl. § 2 KSchG Rn. 46; BAG 21.11.1985 – 2 AZR 21/85 –; 18.11.1986 – 7 AZR 674/84 –; LAG Nürnberg 06.08.2012 – 2 Sa 643/11 –; LAG München 13.04.2016 – 5 Sa 990/15 –). Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 22). Sowohl die ordentliche als auch die außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 22; 25.10.2012 – 2 AZR 495/11 – Rn. 16). Dies gilt grundsätzlich auch bei Störungen im Vertrauensbereich (BAG 19.04.2012 – 2 AZR 186/11 – Rn. 22). Auch bei einem solchen Fehlverhalten braucht es eine vorherige erfolglose Abmahnung, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen.

2. Ein verhaltensbedingter Grund für die Änderung der Arbeitsbedingungen iSv. § 2 Satz 1 KSchG iVm. § 1 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 KSchG liegt zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Zugangs der Änderungskündigung nicht vor. Die Änderungskündigung erweist sich im vorliegenden Fall bei der gebotenen umfassenden einzelfallbezogenen Interessenabwägung als unverhältnismäßig. Auch wenn der Vortrag der Beklagten zu den von ihr behaupteten (und vom Kläger bestrittenen) Pflichtverletzungen unterstellt wird, hätte eine Abmahnung als Reaktion ausgereicht. Sie wäre als milderes Mittel nicht nur erforderlich, sondern auch geeignet gewesen.

a) Die Beklagte wirft dem Kläger vor, er habe am Mittag des 13.08.2020 den Mitarbeiter S. dabei gefilmt, wie er an der Anlage 2 im Bereich des Vollgutladers ohne Kopfschutz zur Reparatur in die Maschine gestiegen sei. Durch das ungefragte Filmen habe der Kläger das Persönlichkeitsrecht des Mitarbeiters S. verletzt. Der Kläger habe zudem nichts unternommen, um den Mitarbeiter davon abzuhalten, ohne Schutzkleidung die Reparatur auszuführen. Darin liege ein Verstoß gegen Sicherheitsbestimmungen. Damit hat die Beklagte Pflichtverletzungen des Klägers behauptet. Als Vorgesetzter gehört es zu seinen Aufgaben, dafür zu sorgen, dass die ihm unterstellten Beschäftigten Sicherheitsbestimmungen beachten. Er verletzt auch seine Rücksichtnahmepflicht, wenn er im Betrieb Beschäftigte ungefragt fotografiert oder filmt. Der Arbeitgeber muss solche Verstöße gegen das Persönlichkeitsrecht seiner Beschäftigten unterbinden.

b) Der Kläger ist jedoch bisher nicht einschlägig wegen des Verstoßes gegen Sicherheitsbestimmungen oder der mit der Missachtung des Persönlichkeitsrechts verbundenen Verletzung der Rücksichtsmaßnahmepflicht abgemahnt worden. Die Abmahnungen vom 02.04.2020 und vom 03.08.2020 betreffen andere Pflichtverstöße, nämlich Schlechtleistungen und die Missachtung der wegen Corona bestehenden Abstandsregeln. In einem Fall ging es um die Dokumentation eines Sirupverlustes, in einem anderen um die fehlerhafte Kontrolle von Etiketten und schließlich um den zu geringen Abstand bei einem ohne Maske geführten Gespräch. Eine negative Prognose ohne einschlägige Abmahnung lässt sich jedoch nicht bejahen.

c) Eine Abmahnung war nicht deshalb entbehrlich, weil bereits ex ante erkennbar gewesen wäre, dass eine Verhaltensänderung auch nach der Abmahnung in Zukunft nicht zu erwarten war. Die negative Prognose ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer nicht einsichtsfähig und nicht gewillt ist, sich vertragsgerecht zu verhalten, er etwa seine Vertragsverletzung hartnäckig und uneinsichtig fortsetzt, obwohl er die Vertragswidrigkeit seines Verhaltens kannte (LBK/Krause § 1 KSchG Rn. 481). Hier kann insbesondere das „Nachtatverhalten“ bis zum Ausspruch der Kündigung eine Rolle spielen (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 –).

Nach Darstellung der Beklagten hat der Kläger am 13.08.2020 erstmals und nur in diesem einen Fall das Persönlichkeitsrecht eines Mitarbeiters verletzt, indem er ungefragt von ihm Filmaufnahmen gemacht hat.

Die Beklagte hat auch nicht behauptet, der Kläger habe vorher oder nachher Verstöße von ihm unterstellten Mitarbeitern gegen Sicherheitsbestimmungen geduldet. Es handelt sich also hier um den ersten Fall der Duldung eines Verstoßes gegen Sicherheitsvorschriften bei der Arbeit.

Die Kläger hat nicht ex ante zum Ausdruck gebracht, zukünftig nicht willens zu sein, Sicherheitsbestimmungen und Persönlichkeitsrechte anderen Mitarbeiter zu beachten. Er hat keinen Anhaltspunkt für ein hartnäckiges, unbelehrbares Verhalten geliefert. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass eine ordnungsgemäße Abmahnung, die ihm seine Pflichten deutlich vor Augen führt, Erfolg gehabt hätte. Zwingende Anhaltspunkte für das Gegenteil sind jedenfalls nicht ersichtlich (vgl. dazu BAG 21.11.1985 – 2 AZR 21/85 – Rn. 25 aE).

Das Verhalten des Klägers nach dem Vorfall und vor Ausspruch der Kündigung lässt nicht auf fehlende Einsicht schließen. In dem Gespräch am 24.08.2020 hat der Kläger zwar von ihm dokumentierte Verstöße anderer Mitarbeiter erwähnt und behauptet, er verfüge über Aufnahmen davon. Im Widerspruch dazu hat er wenig später (am 02.09.2020) über seine Gewerkschaft mitteilen lassen, er habe keine Fotoaufnahmen gefertigt. In diesem Schreiben aber kommt zum Ausdruck, dass dem Kläger die mit Fotoaufnahmen verbundene Persönlichkeitsrechtsverletzung durchaus bewusst ist. Dies wertet die Kammer indes nicht als entlastend, da der Gewerkschaftssekretär, der das Schreiben vom 02.09.2020 verfasst hat, nach seiner Darstellung den Kläger eindringlich darauf hingewiesen hat, dass ungefragtes Fotografieren nicht rechtens ist. Zudem wirkt sich „Nachtatverhalten“ vor Zugang der Kündigung allenfalls schwach entlastend aus (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 31; 09.06.2011 – 2 AZR 323/10 – Rn. 39). Aus dem Verhalten des Klägers vor Zugang der Kündigung am 10.09.2020 lässt sich aber ebenso wenig schließen, er wolle auch künftig ungefragt Mitarbeiter filmen oder Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen ignorieren.

Eine Abmahnung wäre nicht ungeeignet gewesen. Mit ihr hätte die Beklagte dem Kläger verdeutlichen können, was sie bei festgestellten Nachlässigkeiten in Sicherheitsfragen erwartet und dass sie jede Form der Persönlichkeitsrechtsverletzung im Betrieb missbilligt.

d) Eine Abmahnung war auch nicht deshalb ausnahmsweise entbehrlich, weil es sich um derart schwere Pflichtverletzungen gehandelt hat, dass der Beklagten nach objektiven Maßstäben selbst deren erstmalige Hinnahme unzumutbar war.

Die Kammer teilt bei der gebotenen Abwägung nicht die von der Beklagten in der Berufungsverhandlung vertretene Ansicht, dass es sich angesichts des konkreten Sachverhalts bei den im Raum stehenden Vorwürfen, nämlich Verletzung des Persönlichkeitsrechts eines Mitarbeiters durch Fertigen von Filmaufnahmen und Nichteinschreiten bei Verstoß gegen Sicherheitsbestimmungen, um schwere, eine Abmahnung entbehrlich machende Pflichtverletzungen handelte. Dabei wird nicht übersehen, dass der Kläger unstreitig eine Vorgesetztenstellung einnimmt. Die Beklagte muss ihm daher unbedingtes Vertrauen entgegenbringen können. Sie muss sich auf ihn verlassen können und kann ein umsichtiges Verhalten in dieser Funktion berechtigterweise voraussetzen. Dazu gehört, dass er Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen abstellt und nicht nur dokumentiert, sobald er sie bemerkt. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Kläger am 13.08.2020 selbst nicht gegen Sicherheitsbestimmungen verstoßen hat. Den Verstoß hat – auch nach Darstellung der Beklagten – der Mitarbeiter S. begangen. Er hat die zur Sicherheitsausrüstung gehörende Anstoßkappe nicht getragen.

Die Dokumentation einer solchen Pflichtwidrigkeit stellt, wie oben ausgeführt, ihrerseits eine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung dar. Die Pflichtwidrigkeit hätte der Kläger erkennen können, mag sie auch nicht evident gewesen sein. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass Smartphones stets zur Hand sind und Fotos sowie Videos häufig spontan und unüberlegt gemacht werden. Die Kammer hält die Wiederherstellung des für die Wahrnehmung der Aufgabe des Linienführers notwendige Vertrauen für möglich. Der Beklagten ist es zuzumuten, den Kläger weiter als Geschäftsführer zu beschäftigten.

e) Auch die abschließende Interessenabwägung (dazu BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 – Rn. 32) führt zu einem überwiegenden Interesse des Klägers am Erhalt seines bisherigen Arbeitsplatzes.

Für das Interesse der Beklagten an der Änderung der Arbeitsvertragsbedingungen spricht, dass es sich bei der Funktion des Linienführers um eine durchaus verantwortungsvolle Aufgabe handelt. Für die Beklagte ist ein ungestörtes Vertrauensverhältnis besonders wichtig (vgl. BAG 05.04.2001 – 2 AZR 159/00 -). Bei fehlerhaftem Handeln in einer Leitungsfunktion können erhebliche Schäden für Leib und Leben eintreten. Einem Arbeitnehmer mit Vorgesetztenfunktion kommt zudem stets eine gewisse Vorbildrolle zu.

Auf der anderen Seite ist der Kläger bereits mehr als 29 Jahre bei der Beklagten beschäftigt und seit etwa acht Jahren als Linienführer tätig. Durch die künftige Stelle (Produktionsmitarbeiter) würde er eine erhebliche finanzielle Verschlechterung erfahren. Seine Vergütung würde sich monatlich um knapp 700,00 EUR reduzieren. Der Kläger ist zudem im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung 53 Jahre alt gewesen und daher auch diesbezüglich schutzwürdig im Bestand seines bisherigen Arbeitsplatzes und der erreichten Position. Zu beachten ist schließlich, dass kein Schaden eingetreten ist.

Aus den genannten Gründen ist die ausgesprochene Änderungskündigung unverhältnismäßig und lässt das Interesse des Klägers am Bestand seiner bisherigen Arbeitsvertragsbedingungen gegenüber dem Änderungsinteresse der Beklagten überwiegen.

III. Die Beklagte trägt die Kosten ihrer erfolglosen Berufung, § 97 Abs. 1 ZPO.

Ein gesetzlicher Grund iSv. § 72 Abs. 2 ArbGG, die Revision zuzulassen, besteht nicht.

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