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Verhaltensbedingte Kündigung wegen Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers

Streit um Wirksamkeit von Kündigung: Kläger wehrt sich gegen Entlassung.

Ein 61-jähriger Mann, der seit 1990 als Maschinenformguss Putzer bei einem Eisengießereiunternehmen beschäftigt ist, wehrt sich gegen seine Kündigung. Sein Arbeitgeber hat ihm im Verlauf der Jahre insgesamt sechs Abmahnungen erteilt, zuletzt aufgrund von zwei Vorfällen im Februar 2021. Der Mann soll einem Kontrollbandführer den Mittelfinger gezeigt und einen Arbeitskollegen beleidigt haben. Er bestreitet die Vorwürfe, räumt jedoch ein, dem Arbeitskollegen den Mittelfinger gezeigt zu haben, nachdem dieser ihn mit dem Wort „Jude“ beleidigt hatte. Der Betriebsrat hat aufgrund der langen Betriebszugehörigkeit des Mannes von einer Kündigung abgeraten. Das Arbeitsgericht hat die Klage des Mannes gegen die Kündigung abgewiesen. Nun hat der Mann Berufung eingelegt und fordert die Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst wurde. Der Arbeitgeber verteidigt das Urteil.

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 5 Sa 458/21 – Urteil vom 18.08.2022

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 3. November 2021, Az. 2 Ca 567/21, wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Der im Oktober 1962 geborene Kläger (verheiratet, zwei erwachsene Kinder) war seit Mai 1990 bei der Beklagten in der Abteilung Maschinenformguss Putzerei zu-letzt zu einem monatlichen Bruttoentgelt von circa € 3.000,00 (EG 3 ERA) beschäftigt. Er ist seit dem 18. Januar 2021 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Die Beklagte beschäftigt in ihrer Eisengießerei ca. 550 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat.

Verhaltensbedingte Kündigung wegen Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers
(Symbolfoto: Bits And Splits/Shutterstock.com)

Die Beklagte erteilte dem Kläger in den letzten Jahren insgesamt sechs Abmahnungen. Mit Schreiben vom 13. März 2013 mahnte sie den Kläger wegen der grob fahrlässigen Beschädigung einer Kehrmaschine ab. Mit Schreiben vom 17. März 2014 folgte eine Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung, mit Schreiben vom 15. Mai 2018 wegen unentschuldigten Fehlens. Am 14. März 2019 erteilte die Beklagte eine Abmahnung wegen sexistischen Verhaltens gegenüber einer Arbeitskollegin. Das Arbeitsgericht Kaiserslautern hat die Klage auf Entfernung dieser Abmahnung nach Beweisaufnahme mit Urteil vom 27. August 2019 (3 Ca 493/19) abgewiesen. Es hat festgestellt, dass der Kläger gegenüber einer Arbeitskollegin, die sich wegen eines Fehlers zu Schichtende nicht aus dem MES-System abmelden konnte, erklärt hat, sie solle zuerst die Personalnummer ins System eintragen und „mit wem sie nachts schläft und mit wem sie bumst“. Diese Äußerung habe der Kläger mit heftigem Hüftschwung unterstrichen, um eine Kopulationsbewegung zu imitieren. Die Berufung gegen das Urteil hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 27. Mai 2020 vor dem Landesarbeitsgericht zurückgenommen (2 Sa 363/19). Mit Schreiben vom 19. Juni 2019 mahnte die Beklagte den Kläger wegen einer Sachbeschädigung an einem Stapler ab, am 29. September 2020 wegen unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes.

Gegenstand der Kündigung sind zwei Vorfälle: Am 23. Februar 2021 stellte der Teamkoordinator und Vorgesetzte des Klägers M. gegen 13:30 Uhr fest, dass ein Leiharbeitnehmer nicht an seinem zugewiesenen Arbeitsplatz arbeitete, sondern an dem des Klägers, der sich im Kontrollbandaufgang aufhielt und keine Arbeitstätigkeit ausübte. Diese Situation beobachtete neben dem Teamkoordinator M. auch der Kontrollbandführer I., der den Kläger aufforderte, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Der Kläger folgte dieser Anweisung nicht, sondern soll – was er bestreitet – dem Kontrollbandführer den Mittelfinger gezeigt haben. Daraufhin schritt der Teamkoordinator M. ein, schickte den Leiharbeitnehmer an seinen Arbeitsplatz und wies den Kläger an, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Dem kam der Kläger nicht nach, er ließ M. kommentarlos stehen und entfernte sich in Richtung Pausenraum. Am 24. Februar 2021 nahm der Arbeitnehmer H. einen Behälterwechsel am Arbeitsplatz des Klägers vor. Weil sich der Kläger nicht an seinem Arbeitsplatz aufhielt, stellte H. nach vergeblichem Warten die Gitterbox verschlossen ab. Als der Kläger bei seiner Rückkehr an den Arbeitsplatz bemerkte, dass die Gitterbox nicht geöffnet war, zeigte er H. den Mittelfinger. Der Kläger behauptet, H. habe ihn zuvor mit dem Ausruf, „Jude, wo warst du?“ herabgewürdigt.

Die Beklagte entschloss sich zur Kündigung und holte die Zustimmung des Integrationsamts ein, die ihr mit Bescheid vom 28. Juni 2021 erteilt wurde. Mit Schreiben vom 7. Juli 2021 hörte sie den Betriebsrat an. Dieser gab mit Schreiben vom 12. Juli 2021 eine abschließende Stellungnahme ab; er bat im Hinblick auf die lange Beschäftigungszeit des Klägers, von einer Kündigung abzusehen. Mit Schreiben vom 20. Juli 2021, zugegangen am 21. Juli 2021, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich zum 28. Februar 2022. Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner rechtzeitig erhobenen Klage.

Er hat erstinstanzlich bestritten, dem Kontrollbandführer I. am 23. Februar 2021 den Mittelfinger gezeigt zu haben. Überdies sei ihm zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt worden, dass I. sein Vorgesetzter sei. Im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht hat er bestritten, am 24. Februar 2021 seinem Arbeitskollegen H. den Mittelfinger gezeigt zu haben. Im Schriftsatz vom 15. September 2021 hat er vorgetragen, H. habe ihm zugerufen „Jude, wo warst du?“ Er habe ihm mit erhobenem Zeigefinger signalisiert, dass er diese Äußerung zu unterlassen habe. Im Kammertermin hat er schließlich eingeräumt, H. den Mittelfinger gezeigt zu habe. H. habe ihn mehrfach mit dem Wort „Jude“ beschimpft.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20. Juli 2021, zugegangen am 21. Juli 2021, nicht zum 28. Februar 2022 aufgelöst wird.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen I., M. und H. die Klage mit Urteil vom 3. November 2021 abgewiesen. Gegen das am 24. November 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 9. Dezember 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 4. Januar 2022 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Der Kläger macht geltend, das Arbeitsgericht habe seine Überzeugung auf die Aussagen der drei Zeugen gestützt und angenommen, dass er den Kontrollbandführer I. und den Arbeitskollegen H. grob beleidigt habe. Bei der Beweiswürdigung habe das Arbeitsgericht seine berechtigten Zweifel nicht berücksichtigt. Es habe nicht gewürdigt, dass man ihm zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt habe, dass der Zeuge I. sein Vorgesetzter sei. Es sei zweifelhaft und fragwürdig, dass der Zeuge I. aus sieben Metern Entfernung erkannt haben wolle, dass er ihm den Mittelfinger gezeigt habe. Die Aussagen der drei Zeugen wirkten aufeinander abgestimmt. Es sei ersichtlich, dass die Beklagte bereits über einen längeren Zeitraum versuche, ihn aus dem Betrieb zu bekommen. Das Arbeitsgericht habe weiter angenommen, sein Verhalten rechtfertige die Prognose, dass auch zukünftig eine störungsfreie Vertragserfüllung nicht zu erwarten sei. Es habe seinen Vortrag gänzlich unbeachtet gelassen, dass der Zeuge H. ihn mehrfach als „Jude“ bezeichnet habe, was einer zielgerichteten Provokation nahekomme. Auch die Interessenabwägung des Arbeitsgerichts sei fehlerhaft. Aufgrund seines hohen Alters und der langen Betriebszugehörigkeit sei er als besonders schutzwürdig einzustufen. Seine Weiterbeschäftigung sei der Beklagten zumutbar, die Kündigung deutlich übersetzt. Zumindest wäre eine Versetzung oder einer Abmahnung, bezogen auf die Beleidigung des Mitarbeiters, anzudenken gewesen. Das Arbeitsgericht habe nicht ausschließen können, dass er durch den Zeugen H. zuvor Missachtungsbekundungen erfahren habe. Er habe sich letztlich nur zur Wehr gesetzt und sei dem Zeugen H. entgegengetreten.

Der Kläger beantragt zweitinstanzlich, das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern vom 3. November 2021, Az. 2 Ca 567/21, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 20. Juli 2021 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden. Sie erweist sich auch sonst als zulässig.

II.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage zu Recht abgewiesen. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die ordentliche fristgerechte Kündigung der Beklagten vom 20. Juli 2021 mit Ablauf des 28. Februar 2022 aufgelöst worden. Die Berufungskammer folgt den ausführlichen und sorgfältig dargestellten Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils und stellt dies gem. § 69 Abs. 2 ArbGG fest. Von der Darstellung eigener vollständiger Entscheidungsgründe wird daher abgesehen. Die Berufungsangriffe des Klägers bleiben erfolglos.

1. Das Arbeitsgericht hat die Kündigung als sozial gerechtfertigt iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG angesehen und zutreffend angenommen, dass grobe Beleidigungen des Arbeitgebers oder seiner Vertreter und Repräsentanten oder von Arbeitskollegen, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, eine erhebliche Pflichtverletzung darstellen, die sogar eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann (vgl. BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – Rn. 77 mwN). Das Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers („Stinkefinger“) stellt eine grobe Beleidigung dar. Auch die beharrliche Weigerung des Arbeitnehmers, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, ist „an sich“ geeignet, selbst eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (vgl. BAG 28.06.2018 – 2 AZR 436/17 – Rn. 16 mwN). Ein Arbeitnehmer verweigert die ihm angewiesene Arbeit beharrlich, wenn er sie bewusst und nachdrücklich nicht leisten will.

a) Das Arbeitsgericht hat nach Durchführung der Beweisaufnahme durch Vernehmung der drei Zeugen I., M. und H. fehlerfrei festgestellt, dass der Kläger dem Kontrollbandführer I. am 23. Februar 2021 und dem Arbeitnehmer H. am 24. Februar 2021 den Mittelfinger gezeigt hat, ohne dazu „provoziert“ worden zu sein. Das Zeigen des Mittelfingers stellt jeweils eine grobe Beleidigung dar. Es hat außerdem zutreffend festgestellt, dass der Kläger am 23. Februar 2021 seine Hauptpflicht zur Arbeitsleistung nachhaltig und bewusst verletzt hat, weil er weder der Aufforderung des Kontrollbandführers I. noch der des Teamkoordinators M. nachgekommen ist, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und seine Arbeit aufzunehmen. Dem Zeugen I. hat er als Reaktion auf die Arbeitsaufforderung den Mittelfinger gezeigt, den Zeugen M. kommentarlos stehenlassen und sich in Richtung Pausenraum entfernt. Dieses Verhalten rechtfertigt eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung.

b) Das Arbeitsgericht hat zum Ergebnis der Beweisaufnahme ausgeführt, der Zeuge I. habe das Geschehen sehr bildhaft geschildert. Er habe der Kammer seine Bemühungen veranschaulicht, den Kläger am 23. Februar 2021 zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Er habe gezeigt, wie er – wegen des Lärms und des Tragens von Ohrstöpseln – vor allem mit Gesten versucht habe, mit dem Kläger zu kommunizieren. Der Zeuge habe mit absoluter Sicherheit bestätigen können, dass ihm der Kläger den Mittelfinger gezeigt habe. Er habe ausgesagt, dass dies zuvor schon viele Male geschehen sei. Am 23. Februar 2021 habe allerdings auch der Teamkoordinator M. das Zeigen des Mittelfingers beobachtet. Der Zeuge I. habe zwar teilweise Probleme gehabt, sich sprachlich auszudrücken, weil er kein deutscher Muttersprachler sei. Die wesentlichen Tatsachen habe er jedoch ausreichend klar zum Ausdruck bringen können. Er habe bei seiner Vernehmung keinen Belastungseifer gezeigt. Er habe eingeräumt, nicht mehr zu wissen, welcher Mittelfinger ihm gezeigt worden sei. Er habe auch bekundet, dass die Nichtaufnahme der Arbeit durch den Kläger für ihn eine größere Belastung gewesen sei als das Zeigen des Mittelfingers, weil dies schon oft vorgekommen sei. Seine zunächst gemachte Aussage, der Kläger habe ihm den Mittelfinger gezeigt und „Arschloch“ gesagt, habe I. auf Nachfrage relativiert. Er habe klargestellt, dass er gemeint habe, die Geste „Mittelfinger“ habe diese Bedeutung; wegen der Ohrstöpsel habe er nicht gut hören können.

Der Zeuge M. habe das Geschehen am 23. Februar 2021 inhaltlich so geschildert wie der Zeuge I.. Auch er habe ausgesagt, dass I. den Kläger zum Kontrollband hochgerufen habe, um den dort arbeitenden Leiharbeitnehmer abzulösen. Daraufhin habe er beobachtet, dass der Kläger dem I. den Mittelfinger gezeigt habe. Er habe den Kläger ebenfalls aufgefordert, seine Arbeit aufzunehmen, der Kläger sei jedoch in Richtung Pausenraum gegangen. I. habe noch den Kopf geschüttelt. Auch der Zeuge M. habe den Vorfall so geschildert, wie ihn die Beklagte vorgetragen habe. Seine Aussage sei detailreich und ohne jeden Widerspruch gewesen. Er sei glaubwürdig gewesen und habe die Fragen sehr sachlich beantwortet. Er sei bei der Vernehmung selbst noch etwas erstaunt über das Verhalten des Klägers gewesen.

Der Kläger habe zuletzt nicht mehr bestritten, dem Zeugen H. am 24. Februar 2021 den Mittelfinger gezeigt zu habe. Die Kammer habe nicht feststellen können, dass der Kläger zuvor von H. provoziert worden sei. Nach Anhörung des Klägers zu dem von ihm behaupteten Konflikt mit H. und nach Vernehmung des Zeugen sei die Kammer davon überzeugt, dass H. am 24. Februar 2021 nicht ausgerufen habe, „Jude, wo warst du?“ Schon die eigenen Ausführungen des Klägers dazu, dass der Zeuge ihn schon länger mit dem Wort „Jude“ beschimpft habe, seien konfus und inhaltlich nicht nachvollziehbar gewesen. Der Zeuge H. habe den Vortrag der Beklagten bestätigt, dass das Zeigen des Mittelfingers ohne vorherige Provokation durch die streitige Bemerkung erfolgt sei, sondern als Reaktion darauf, dass er die Gitterbox wegen der Abwesenheit des Klägers verschlossen abstellt habe. Auch der Kläger habe bestätigt, dass mit der Gitterbox am 24. Februar 2021 so verfahren worden sei. Die Version des Zeugen, der Kläger habe hierauf mit dem Zeigen des Mittelfingers reagiert, sei wesentlich plausibler.

c) Die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat dagegen keine durchgreifenden Rügen erhoben, § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO.

Gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG iVm. § 529 Abs.1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung grundsätzlich die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellung begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (vgl. BAG 29.06.2017 – 2 AZR 47/16 – Rn. 60 mwN). Vorliegend sind Anhaltspunkte, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen oder an der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ergeben würden, nicht ansatzweise zu erkennen.

Entgegen der Ansicht der Berufung hat das Arbeitsgericht sehr wohl gewürdigt, dass der Kläger behauptet, ihm sei „zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt worden, dass es sich bei dem Zeuge I. um seinen Vorgesetzten handel(e)“. Das Arbeitsgericht hat diesen Einwand als nicht entscheidungserheblich erachtet und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass I. zum Kreis der Vorgesetzten des Klägers gehörte, weil er aufgrund seiner Stellung als Kontrollbandführer gegenüber den Mitarbeitern am Band weisungsberechtigt sei. Die Beklagte habe dem Kläger nicht schriftlich mitteilen müssen, welche Funktionsträger ihm gegenüber weisungsbefugt seien. Es ist entgegen der Ansicht der Berufung auch nicht „fragwürdig und zweifelhaft“, dass der Zeuge I. aus ungefähr sieben Metern Entfernung gesehen hat, dass ihm der Kläger den Mittelfinger gezeigt hat. Der Zeuge wollte den Kläger dazu bewegen, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Der Kläger widersetzte sich dieser Aufforderung und zeigte I. stattdessen den ausgestreckten Mittelfinger. Eine Entfernung von sieben Metern lässt sich problemlos überblicken, um diese obszöne Geste wahrzunehmen. Der Zeuge führte auf Nachfrage aus, er sei sich „hundertprozentig“ sicher, dass ihm der Kläger den Mittelfinger gezeigt habe. Der Umstand, dass der Zeuge die Frage des Prozessbevollmächtigten, ob ihm der Kläger den Mittelfinger der rechten oder linken Hand gezeigt habe, nicht beantworten konnte, macht den Zeugen nicht unglaubwürdig. Welche Hand der Kläger benutzte, ist für das Kerngeschehen völlig irrelevant. Die pauschale Behauptung der Berufung, die Aussagen der drei Zeugen wirkten „aufeinander abgestimmt“, führt zu keinen Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung. Für eine Falschaussage der Zeugen zu Lasten des Klägers gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Auch der Vorwurf der Berufung, das Arbeitsgericht habe den Vortrag, der Zeuge H. habe den Kläger mehrfach als „Jude“ bezeichnet und damit provoziert, „gänzlich unbeachtet gelassen“, findet im Tatsächlichen keine Stütze. Das Arbeitsgericht hat sich mit diesem Vorbringen des Klägers ausdrücklich und ausführlich beschäftigt, aber eine derartige Provokation nach Anhörung des Klägers und Vernehmung des Zeugen nicht feststellen können. Das Arbeitsgericht hat nach gründlicher Prüfung ausgeschlossen, dass der Kläger vom Zeugen H. dazu provoziert worden ist, ihm den Mittelfinger zu zeigen. Der Kläger hat sich nicht – wie die Berufung behauptet – gegen den Zeugen H. „zur Wehr gesetzt“, sondern mit der obszönen Geste seinen Unmut darüber geäußert, dass ihm der Arbeitskollege während seiner Abwesenheit eine verschlossene Gitterbox am Arbeitspatz abgestellt hat.

2. Die Berufungskammer teilt die Ansicht des Arbeitsgerichts, dass der Beklagten eine Weiterbeschäftigung des Klägers über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht mehr zumutbar ist.

a) Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass in Zukunft eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung durch den Kläger nicht mehr zu erwarten sei. Diese Prognose sei dadurch indiziert, dass sich der Kläger einschlägige Abmahnungen nicht habe zur Warnung dienen lassen. Er habe die Arbeitnehmer I. und H. durch das Zeigen des Mittelfingers grob beleidigt. Insbesondere die Abmahnung vom 14. März 2019 wegen sexistischen Verhaltens gegenüber einer Arbeitskollegin habe beim Kläger offenbar keinen Eindruck hinterlassen, obwohl die Berechtigung dieser Abmahnung rechtskräftig feststehe (ArbG Kaiserslautern 27.08. 2019 – 3 Ca 493/19). Das zweitinstanzliche Verfahren habe am 27. Mai 2020 durch Berufungsrücknahme (2 Sa 363/19) geendet. Gleichwohl habe sich der Kläger nur neun Monate später wieder – diesmal in zwei Fällen – grob unhöflich, respektlos und beleidigend gegenüber Arbeitskollegen und sogar gegenüber Vorgesetzten verhalten. Weil dem Kläger jede Einsicht fehle, sei bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit weiteren entsprechenden Pflichtverletzungen zu rechnen. Durch die Erteilung einer weiteren Abmahnung hätte beim Kläger aus Sicht der Kammer keine Verhaltensänderung bewirkt werden können. Die stets erforderliche Interessenabwägung falle zu Lasten des Klägers aus. Zu Gunsten des (im Oktober 1962 geborenen) Klägers sei sein Lebensalter und vor allem seine lange Betriebszugehörigkeit von über 31 Jahren (seit Mai 1990) zu berücksichtigen. Zu seinen Lasten falle ins Gewicht, dass es sich bei den Kündigungsvorfällen nicht um einen einmaligen „Ausrutscher“ gehandelt habe; das Arbeitsverhältnis sei vielmehr bereits seit mehreren Jahren gestört. Die Beklagte habe dem Kläger sechs Abmahnungen erteilt, die Berechtigung der Abmahnung vom 14. März 2019 sei rechtskräftig festgestellt. Darüber hinaus habe der Kläger nur die Berechtigung der Abmahnungen vom 19. Juni 2019 und vom 29. September 2019 inhaltlich in Frage gestellt. Die weiteren drei Abmahnungen seien damit wohl zu Recht erfolgt, so dass von einem nicht unerheblich gestörten Arbeitsverhältnis auszugehen sei. Bei der Bewertung der Schwere der Pflichtverletzung sei zu berücksichtigen, dass es sich beim Zeigen des Mittelfingers um eine besonders grobe Form der Beleidigung handele, beim ersten Vorfall sogar gegenüber einem Vorgesetzten. Die Einlassung des Klägers, ihm sei nicht ausdrücklich mitgeteilt worden, dass I. sein Vorgesetzter sei, sei unerheblich, denn der Zeuge sei unstreitig Kontrollbandführer und damit gegenüber den Mitarbeitern am Band weisungsberechtigt. Dem Kläger könne nicht abgenommen werden, dass er dies nicht gewusst habe. Das Zeigen des Mittelfingers stelle ein absolut unverständliches und inakzeptables Verhalten auch vor dem Hintergrund dar, dass der Kläger auf diese Weise auf die berechtigte Aufforderung, seine Arbeit aufzunehmen, reagierte habe. Die Geste sei nicht im Rahmen eines Konflikts oder als Reaktion auf eine Provokation erfolgt. Der Kläger habe mit dem Zeigen des Mittelfingers auch die Autorität des Zeugen I. gegenüber den anderen Kollegen untergraben. Hinzu komme, dass er sich auch gegenüber dem Teamkoordinator Maden respektlos verhalten habe, weil er dessen Aufforderung, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, schlicht ignoriert habe und kommentarlos weggegangen sei. Ferner habe er seine Arbeitspflicht verletzt, weil er seine Arbeit – trotz Aufforderung – nicht aufgenommen habe. Für all dies habe der Kläger nicht ansatzweise eine Erklärung geliefert. Auch gegenüber dem Arbeitskollegen H. sei der Kläger respektlos aufgetreten, ohne zuvor provoziert worden zu sein. Da die respektlose Art, mit der der Kläger gegenüber seinen Kollegen auftrete, sich nicht auf einzelne Mitarbeiter beschränke, sei nicht zu erwarten, dass eine Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz für Abhilfe sorgen könnte. In der Gesamtbetrachtung wiege das Fehlverhalten des Klägers so schwer, dass trotz seines Lebensalters und der langen Betriebszugehörigkeit der Beklagten eine weitere Zusammenarbeit nicht zuzumuten sei.

b) Auch diese Interessenabwägung des Arbeitsgerichts ist nicht zu beanstanden. Entgegen dem Vorwurf der Berufung hat das Arbeitsgericht geprüft, ob eine weitere Abmahnung oder eine Umsetzung des Klägers als milderes Mittel in Betracht kommt.

Die Berufungskammer teilt die Einschätzung des Arbeitsgerichts, dass es weiterer Abmahnungen des Klägers nicht mehr bedurfte. Der Kläger hat sich die Androhungen „weitergehender arbeitsrechtlicher Schritte, bis hin zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses“ durch die vorherigen Abmahnungen der Beklagten nicht zur Warnung dienen lassen. Die Beklagte konnte nicht annehmen, dass eine weitere Abmahnung geeignet gewesen wäre, eine Verhaltensänderung zu bewirken. Insbesondere in der Abmahnung vom 14. März 2019 wegen sexistischen Verhaltens gegenüber einer Arbeitskollegin hat die Beklagte den Kläger unmissverständlich aufgefordert, „obszöne Redensarten und Bewegungen“ künftig zu unterlassen. Der Kläger musste im Wiederholungsfall mit einer Kündigung rechnen. Gleichwohl ist er vor obszönen Gesten durch das Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers nicht zurückgeschreckt.

Ist ein Arbeitnehmer – wie hier – wegen gleichartiger Pflichtverletzungen schon einmal abgemahnt worden und verletzt er seine vertraglichen Pflichten gleichwohl erneut, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch weiterhin zu Vertragsstörungen kommen (vgl. BAG 09.06.2011 – 2 AZR 323/10 – Rn. 31 mwN). Auch eine Umsetzung des Klägers war der Beklagten als mildere Maßnahme nicht zuzumuten. Der Kläger hat sich nicht (nur) gegenüber Vorgesetzten und Arbeitskollegen beleidigend und respektlos verhalten, sondern auch die Arbeit verweigert. Ein solches Verhalten muss die Beklagte nicht länger hinnehmen. Ihre Interessen überwiegen – auch angesichts des Lebensalters und der Betriebszugehörigkeit seit Mai 1990 – das Interesse des Klägers an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.

2. Die ordentliche Kündigung vom 20. Juli 2021 ist auch nicht aus anderen Gründen unwirksam. Die Beklagte hat vor Ausspruch der Kündigung die nach §§ 151, 168 SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts für gleichgestellte behinderte Menschen eingeholt, die ihr mit Bescheid vom 28. Juni 2021 erteilt wurde. Auch der Betriebsrat ist vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß nach § 102 Abs. 1 BetrVG angehört worden. Hiergegen hat die Berufung keine Rügen erhoben, Fehler sind in diesem Zusammenhang auch nicht ersichtlich.

III.

Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen. Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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